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Louis' POV:

Sophies Tante war eine hochgewachsene Frau mittleren Alters, deren bereits ergrauten Haare zu einem unordentlichen Dutt hochgesteckt waren, und deren nussbraunen Augen mich aufmerksam musterten. 

Seitdem ich vor knapp einer Viertelstunde in ihrer kleinen Praxis, die vor Pflanzen fast überzuquillen drohte, aufgeschlagen war, herrschte unangenehmes Schweigen, weshalb ich unsicher am Saum meines Shirts nestelte. Oder besser gesagt Harrys, denn obwohl es eine absolut bescheuerte Idee war, war ich in sein Oberteil geschlüpft, um mir zumindest einreden zu können, ich hätte irgendeinen mentalen Beistand. 

Die Wahrheit allerdings war, dass ich Sascha angelogen hatte, um ohne großen Streit abhauen zu können, und mich trotz der Aussicht, heute Abend Alec wiederzusehen, schrecklich einsam fühlte. 

Nach einer Weile entwich mir ein Seufzer, der Frau Schmidt prompt hellhörig werden ließ. Gespannt hob sie eine Augenbraue und klappte das schwarze Notizbuch in ihren Händen auf. "Herr Tomlinson. Es wird einen Grund geben, warum Sie ausgerechnet heute meine Nummer gewählt haben. Was ist passiert?"

Etwas unschlüssig zuckte ich mit den Schultern. "Was wissen Sie denn?", entgegnete ich, woraufhin ein vorwitziges Schmunzeln ihre Lippen umspielte. "Nun ja. Meine Nichte ist bei den Details nicht gerade zimperlich gewesen, als sie mir von Ihnen erzählt hat", sagte sie, was mich abrupt jeglichen Muskel anspannen ließ, da ich es noch nie hatte leiden können, wenn Leute zu viel von mir wussten - erst recht wenn sie Psychotanten waren, die einem garantiert hundert Mal das Wort im Mund herumdrehten. 

Doch plötzlich kamen mir Nias Worte und ihre Bitte, es wenigstens zu versuchen, in den Sinn, weshalb ich mich innerlich geschlagen gab und Frau Schmidt erzählte, was sich in den letzten Wochen abgespielt hatte. 

Währenddessen nickte sie immer wieder aufmerksam, schrieb ab und zu einige Wörter mit und lehnte sich schließlich mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck in ihrem Sessel zurück. 

"Sie lieben Harry, nicht wahr?", sagte sie, woraufhin ich bloß abermals nickte. "Ja. Auch wenn es mich schier wahnsinnig macht." 

"Was würden Sie tun, wenn Sie noch einmal die Chance hätten, ihn zu sehen?"

Ich überlegte einige Sekunden, stellte mir vor, wie er die Praxis betrat und mich mit einem breiten Grinsen musterte, ehe er mich erleichtert in die Arme schloss und mir versprach, dass nun alles gut werden würde. 

Diese Vorstellung fühlte sich so real an, dass ich auf einmal Tränen auf meinen Wangen spürte und mit einem Schniefen das Taschentuch annahm, das Sophies Tante mir reichte.  

Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, antwortete ich: "Wahrscheinlich würde ich ihm einfach sagen, dass ich ihn noch immer liebe, auch wenn mittlerweile so viel Zeit vergangen ist und er mir eigentlich gar nichts bedeuten darf." 

"Warum darf er Ihnen nichts bedeuten?"

Ihre provokante Frage brachte mich sofort auf die Palme, wodurch ich bloß patzig erwiderte: 

"Na das ist doch klar! Ich kenne ihn doch kaum! Eigentlich weiß ich gar nicht, wer er ist. Und heute Abend werde ich Alec treffen. Da ist für Harry kein Platz!"

Die Therapeutin legte den Kopf schief und schien nachzudenken, während sie langsam in der Kaffeetasse rührte, die neben ihr auf einem kleinen Beistelltisch stand, bevor sie mich wieder ansah. 

"So, wie Sie von ihm berichtet haben, scheinen Sie ihn sehr wohl sehr gut zu kennen. Immerhin konnten Sie gerade seine Mimik nachmachen."

Ertappt lief ich rot an und tastete mein Gesicht ab. Hatte sie Recht? Auf meinen perplexen Blick hin kicherte sie leise. "Herr Tomlinson, Harry ist für mich fast wie ein Sohn. Mir brauchen Sie nichts vormachen."

Nach wie vor mit einem hochroten Kopf und klopfendem Herzen brachte ich ein langsames Nicken zustande. "Trotzdem ist das falsch. Ich darf keine Männer lieben, wenn ich von meiner Familie akzeptiert werden will."

Stirnrunzeln ihrerseits. "Wer ist ihre Familie?"

Erneut schnaubte ich wegen der scheinheiligen Frage abfällig, dann zählte ich meine Brüder auf und erwähnte nach kurzem Zögern sogar Lena. 

"Das sind Ihre Verwandtschaft und Ihre Freundin", widersprach Frau Schmidt, ohne mit der Wimper zu zucken. "Blut macht noch keine Familie."

Schlagartig wurden meine Augen feucht und ich biss mir so lange auf  die Lippe, bis ich Blut schmeckte. "Dann hab ich wohl gar keine Familie", murmelte ich bitter, was sie jedoch bloß mit einem energischen Kopfschütteln quittierte.  

"Was ist mit Harry? Mit Nia und Niall? Sie haben eben gesagt, wie wohl Sie sich bei Ihnen gefühlt haben."

"Ja aber-", setzte ich zwar an, wurde aber jäh unterbrochen, indem Frau Schmidt sich zu mir vorbeugte und mich mit einer Intensität scannte, die mir weiche Knie bereitete. "Sie kämpfen für die falsche Seite, Louis. Und das wissen Sie ganz genau. Ich rede nicht davon, was ich von der politischen Einstellung halte, sondern davon, was Ihre Brüder für Sie bedeuten. 

Seit Ihrer Jugend mussten Sie sich verstecken. Haben sich nie ausleben dürfen, mussten immer Miene zum bösen Spiel machen. Das haben Sie eben sogar selbst gesagt, als Sie das anstehende Abendessen mit Alec erwähnt haben.

Jetzt ist die Frage, ob Sie die Chance, die Harry Ihnen geboten hat, ergreifen, oder nicht."

"Aber ich kann doch nicht einfach aus der Dynastie austreten! Die machen mir das Leben zur Hölle, wenn ich ausziehe! Außerdem hat Harry mich doch sowieso schon längst vergessen. Bestimmt ist er froh, mich los zu sein."

"Für das erste Problem kann man Ihnen professionelle Hilfe zur Seite stellen. Und beim zweiten Problem hilft es nur, wenn Sie ihn anrufen und um ein Treffen bitten. Dann werden Sie sehen, wie es um seine Gefühle steht."

"Ich hab Angst", gab ich flüsternd zu, weswegen Sophies Tante mir ein warmes, aufmunterndes Lächeln schenkte. "Sie sind nicht allein, Herr Tomlinson", versprach sie, und auch wenn es ein 08/15-Spruch war, den sie bestimmt hundert Mal am Tag sagte, glaubte ich ihr. 

Dennoch missfiel mir die Vorstellung, mir vor Harry die Blöße zu geben und zu riskieren, dass er mich abwies. Immerhin hatte er sich nicht mehr gemeldet, nicht mal eine SMS geschickt. 

Doch sobald ich ihr meine Bedenken mitteilte, schlug Frau Schmidt nur die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der Brust. "Das klingt nach einem offenen Gespräch, das zu Ende geführt werden will. Auch wenn es vielleicht nicht so verlaufen wird, wie Sie es sich erhoffen."

Weil ich solch ein Szenario unbedingt vermeiden wollte, suchte ich Hände ringend nach einer Ausrede, warum ich mich nicht bei Harry melden konnte, aber als ich versuchte, Alec als Grund vorzuschieben, verdunkelte sich lediglich ihre Miene. 

"Louis. Sie sind ein erwachsener Mann. Der Einzige, der Ihnen einen Anruf bei Harry verbieten kann, sind Sie selbst."

Ich zog scharf die Luft ein. 

"Ich weiß, wie radikale Strukturen funktionieren und verstehe durchaus, was Sie befürchten, aber wenn Sie wirklich gewillt sind, dort auszusteigen, müssen Sie den ersten Schritt wagen. Im Grunde haben Sie nämlich Angst vor Ihrer eigenen Courage."

Die Wahrheit ließ mich zusammenzucken, bevor ich ergeben nickte und versprach, Harry anzurufen. 

Also stand ich kurz darauf wieder auf der Straße und hielt neben meinem Handy unschlüssig eine Visitenkarte in der Hand, die Frau Schmidt mir zum Abschied gegeben hatte. Es war die eines befreundeten Sozialarbeiters, der sich eigentlich nur um radikale Jugendliche kümmerte - Sophies Tante hatte mir allerdings versichert, dass er mir trotzdem zuhören und gegebenenfalls helfen würde. 

Da die Praxis etwas außerhalb von Frankfurt lag, beschloss ich, erst zurück nach Sachsenhausen zu fahren und erst danach den Anruf zu wagen. Dort angekommen suchte ich mir einen schattigen Platz im Gras am Main und suchte nach Harrys Nummer in meinem Telefonbuch. 

Mit zitternden Fingern tippte ich auf das Anrufensymbol, ehe ich mit flatternden Nerven darauf wartete, dass er abhob. 

Damit ich keinen Herzkasper kriegte, lenkte ich meine Aufmerksamkeit mit Mühe und Not auf die Passanten um mich herum, die im Schein der frühen Abendsonne grillten oder auf Inlineskates an mir vorbeijagten. 

In einem der Bankentürme, der die Form eines gerippten Apfelweinglases hatte und komplett verglast war, spiegelten sich einige Sonnenstrahlen und ließen mich unwillkürlich lächeln. Manchmal konnte Frankfurt wirklich schön sein. 

Entgegen meiner Hoffnung sprang nur die Mailbox an, auf die ich aber nicht quatschen wollte - dabei würde ich mich wie der letzte Idiot anhören und womöglich noch anfangen, zu heulen. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung legte ich wieder auf und stellte beim Blick auf das Display seufzend fest, dass ich in weniger als einer Stunde Alec gegenüberstehen würde. 

Kaum dass ich mich aufgerappelt hatte, klingelte mein Telefon und Harrys Nummer sprang mir entgegen. 

"Tomlinson", versuchte ich mich möglichst ruhig zu melden, während mein Herz mir bis zum Hals schlug und mir wie auf Knopfdruck fürchterlich heiß wurde. 

"Lou?" Harrys Stimme klang unglaublich sanft und ich bildete mir ein, ihm anzuhören, wie dankbar er war, mich erreicht zu haben. 

"Hi", wisperte ich und konnte ein dümmliches Grinsen nur schwer verbergen. "Wie geht es dir?"

"Das ist egal. Wie geht es dir? Was machst du? Wo bist du?", sprudelte es aus ihm heraus, weshalb ich unwillkürlich schmunzeln musste. All die Wochen, die zwischen uns lagen, hatten meinem Herz, das einen schieren Freudentanz aufführte, nichts anhaben können. 

"Ich... ich war eben bei Sophies Tante."

"Das ist gut."

"Sie hat gesagt, ich soll dich anrufen, wenn ich dich vermisse."

"Vermisst du mich denn?"

Erneutes Schnauben meinerseits. Heute wollten mich wohl alle treu doof zur Weißglut bringen. 

"Würden wir sonst reden?"

Er lachte auf, dann meinte er: "Ich hätte dich sowieso heute anrufen wollen."

"Natürlich." Ich glaubte ihm zwar, klang aber unheimlich sarkastisch, was ihn seufzen ließ.

"Ich war ein Arschloch. Ich hab dich einfach hängen gelassen", flüsterte er irgendwann in die Stille hinein. 

"Und ich bin einfach so weg gegangen", hielt ich dagegen. 

"Es hat mir das Herz gebrochen", gab Harry erschreckend ehrlich zu. 

"Du hast es einfach akzeptiert."

"Ich weiß. Ich war feige. Hatte Schiss, du könntest mich abwimmeln."

"Und ich hatte Angst, du hättest mich vergessen", sagte ich und schämte mich ein bisschen für diese Annahme. Die Erleichterung in Harrys Worten überdeckte jede Sorge, die ich momentan mit mir rumtrug und ließ mich stattdessen endlich aufatmen. 

"Wie könnte ich? Du hast mir den Kopf verdreht, das weißt du doch."

"Ja", hauchte ich und spürte, wie sich kleine Freudentränen aus meinen Augen stahlen. Normalerweise hätte ich sie schnell weggewischt und so getan, als sei nichts, aber jetzt ließ ich sie zu. 

Ich hatte Harry wieder. Und plötzlich glaubte ich daran, dass alles gut werden würde - zumal er vorschlug, dass wir uns noch heute sahen. 

Ich verschwieg ihm die Verabredung mit Alec und versicherte ihm bloß, spätestens um zehn Uhr in Rödelheim zu sein. Danach wollte ich gerade auflegen, da erhob er noch einmal seine Stimme. 

"Lou? Du hast mir gefehlt."

meinungen? ich liebe euch. xx

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