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Harrys POV:
„Spinnst du?!"
Energisch riss ich mich von Sophie los und funkelte sie schockiert an, plötzlich komplett klar im Kopf.
Doch die Schwarzhaarige brachte bloß ein Glucksen zustande, ehe sie mit einem jubelnden Schrei ins Wohnzimmer verschwand.
Gerne wäre ich ihr nachgerannt, um mir ihr Handy zu klauen und Louis zurückzurufen, aber da mir das zwecklos erschien, hielt ich lieber Ausschau nach Nia.
Die hatte das Szenario aus der Ferne mitbekommen und eilte prompt zu mir, ihr Smartphone aus ihrer Jackentasche ziehend. "Viel Erfolg", flüsterte sie noch, dann schob ich mich in den Hausflur und stürmte die Treppen hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
Unten angekommen lehnte ich mich mit einem tiefen Atemzug gegen die Hausmauer, bevor ich abermals seine Nummer wählte.
Tatsächlich ertönte nach einigen Klingeln ein Knacken und kurz darauf vernahm ich Louis' leise Stimme am anderen Ende der Leitung. "Harry?", zischte er scheinbar unsicher, während er im Hintergrund dem Rascheln nach zu Urteilen gerade nach seiner Bettdecke fischte. Bestimmt lag er schon im Bett, wo auch immer das sein mochte.
"Lou, es tut mir so leid. Sophia hat mein Handy geklaut und in ihrer Geburtstagsbowle versenkt", versuchte ich mich zu erklären, woraufhin er jedoch bloß schnaubte. "Macht nix. Sag ihr... sag ihr alles Liebe, ja?"
Ich biss mir auf meine Lippe und hatte mittlerweile sogar schon angefangen, an den Fingernägeln meiner linken Hand zu kauen, so aufgeregt war ich. Aufgeregt weil sich mein Gehirn in all den Alkoholschwaden dennoch nur allzu gut ausmalen konnte, welches Gespräch nun folgen würde. Und ich wollte es absolut nicht führen, weder betrunken, noch nüchtern.
Trotzdem hakte ich nach. "Warum sagst du ihr das nicht selbst?"
Rasselndes Einatmen am anderen Ende der Leitung.
"Ich bin bei Sasha. Einem Freund der Familie."
Schlagartig überzog eine feine Gänsehaut meine Unterarme und ich erschauderte innerlich. Von wegen Rausch ausschlafen.
"Deine Brüder sind beim Abendessen aufgetaucht?", schlussfolgerte ich, weshalb er mir kleinlaut erzählte, wie er mit Lena geschlafen und bei ihr geschlafen hatte, um am nächsten Morgen ausgerechnet Jake und Jacob über den Weg zu laufen.
Mit jedem Satz wurde mir schlechter denn je und wenn ich nicht eine so gute Beherrschung gehabt hätte, hätte ich auf den Bürgersteig gekotzt, da war ich mir sicher.
"Heißt das, du kommst nicht mehr wieder?" Ich wagte es kaum, diese Frage zu stellen, auch wenn die Antwort längst auf der Hand lag -spätestens seit ich heute Morgen aufgewacht war und lediglich seine entschuldigende Nachricht vorgefunden hatte.
"Nein."
Prompt schossen mir Tränen in die Augen und ich merkte, wie meine Beine nachgaben und ich entlang der Fassade in die Hocke ging.
"Louis...", setzte ich an, wurde allerdings sofort harsch von ihm unterbrochen. "Harry. Machen wir uns nichts vor. Ich gehöre hier hin. Nicht zu dir."
"Das stimmt nicht", protestierte ich, meine Stimme nicht mehr als ein fassungsloses Hauchen. Wenn ich gewusst hätte, wie weh seine Zurückweisung tat, hätte ich mich nicht über Sophie aufgeregt, sondern gleich meinen Kopf mit in der Bowle versenkt, damit ich nicht mehr nachdenken konnte.
Ich wischte mir mit der flachen Hand die Wangen trocken und legte meinen Kopf in den Nacken, um den nächtlichen Sternenhimmel über mir zu betrachten. Ich verfolgte ein blinkendes Flugzeug, bis es hinter der nächstem Häuserblock verschwand, und versuchte, die Sterne zu zählen - vergeblich.
Irgendwann erklang wieder Louis' Stimme, die schrecklich belegt klang und verriet, dass auch er geweint hatte.
"Es ist meine Familie, Harry. Ich habe das all mein Leben getan. Ich kann doch nicht einfach bei dir aufkreuzen und so tun, als ob all die furchtbaren Dinge nie passiert wären."
Vehement schüttelte ich den Kopf. "Darum... darum geht es doch auch gar nicht", wisperte ich, was ihn seufzen ließ.
"Ich kann das nicht, Harry. Kümmere dich um Nia und Niall, lebe dein freies Leben. Ich pass da nicht rein."
Zwar wollte ich noch etwas erwidern, aber da hatte er schon aufgelegt und ließ mich sprachlos zurück. Da war es also nun: Das dicke Ende unserer Tage, an denen ich geglaubt hatte, ihn retten zu können. Nur war ich wohl der Einzige gewesen, der an dieser Illusion festgehalten hatte, wohingegen alle anderen garantiert von Anfang an geahnt hatten, dass das nichts werden konnte.
Nach einer fürchterlich langen Weile, in der ich versuchte, möglichst leise zu heulen, rappelte ich mich wieder auf und schleppte mich zurück in Sophias Wohnung. Dort fing Nia mich augenblicklich ab und nahm mich fest in den Arm.
Ich spürte, wie ihr Herz gegen meinen Brustkorb schlug und ich durch die Wärme ihres Körpers zumindest ein kleines bisschen ruhiger wurde, sodass ich mich schließlich von ihr löste und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Nase drückte.
"Ich geh heim", sagte ich und obwohl sie anbot, mich zu begleiten, lehnte ich ab. "Hab noch viel Spaß", murmelte ich mit einem halbherzigen Lächeln, danach verschwand ich endgültig von der Party.
Meine Füße führten mich zum nächsten S-Bahnhof und während ich durch die verlassenen Straßen irrte, fiel mein Blick immer wieder über meine Schulter zum Messeturm, dessen Bleistiftförmige Spitze rot aufblinkte. Ich stellte mir vor, wie ich da hoch kletterte und von dort aus lautstark Louis meine Liebe verkündete, ganz so wie die Pärchen das in kitschigen Liebesfilmen am Eiffelturm immer machten.
Belustigt über meine eigene Dummheit, solch einen schnulzigen Scheiß in meine Gedanken zu lassen, beschleunigte ich meine Schritte und erreichte somit recht schnell den Bahnhof.
Der gesamte Bahnsteig war wie leergefegt - lediglich ein Obdachloser mit Irokese und Nietenjacke lungerte neben einem Süßigkeitenautomaten in seinem Schlafsack und kurz überlegte ich, ob ich ihn zu mir mitnehmen sollte, entschied mich im letzten Moment aber dagegen.
Nur weil Louis fort war, konnte ich jetzt nicht jeden anderen Menschen retten wollen.
Also drückte ich ihm stattdessen einen 5-Euro-Schein in die Hand und stieg anschließend in die einfahrende S-Bahn.
Als ich wenig später die Tür zu meiner Wohnung aufschloss, fühlte ich mich wieder einigermaßen nüchtern und hatte sogar nicht mehr den ständigen Reiz, mich zu übergeben.
Nichtsdestotrotz zuckte ich schmerzerfüllt zusammen, sobald ich entgegen meines Verstandes ins Gästezimmer tappte und die Einkaufstüten entdeckte - denn natürlich hatte er zum Treffen mit Lena seine neue Kleidung hiergelassen.
Wehmütig hob ich das weiße Shirt auf, in dem er so herrlich süß versunken war und presste es fest an mich. Unglaublich, dass er es nicht mehr tragen würde, da ich stark bezweifelte, dass er nochmal wiederkommen würde.
Erneut wurden meine Augen feucht und biss mir solange auf die Zunge, bis ich irgendwann Blut schmeckte und tief durchatmete, meine Schultern ein letztes Mal straffend. Hinterher stopfte ich mir sein Kopfkissen unter den Arm, schlich in mein eigenes Schlafzimmer und rollte mich auf der Matratze zusammen, im Halbschlaf aus meiner Hose schlüpfend.
Es war eine dumme Idee, mit Louis' Geruch in der Nase einzuschlafen, doch die Erinnerung an ihn lullte mich ein und ließ mich insgeheim hoffen, dass er wiederkam. Auch wenn das reines Wunschdenken war.
Immerhin ging es hier nicht um eine gewöhnliche Trennung. Nein, ich musste mich in einen Kerl verlieben, der in den Fängen eines Naziclans gefangen war. Und obgleich ich den Drang verspürte, ihn ausfindig zu machen, sank ich bloß tiefer in mein eigenes Kopfkissen, bereits in Träumen gefangen.
Irgendwann tief in der Nacht knackte das Türschloss und ich hörte im Halbschlaf, wie Schuhe abgestreift wurden, leises Getuschel den Flur durchflutete und leise Tippelschritte sich mir näherten.
"Schläfst du schon?"
Die Matratze gab nach und Nia legte sich zu mir, während die andere Person, wahrscheinlich Sophie, im Wohnzimmer zur Ruhe fand.
"Habt ihr Louis dabei?", wollte ich wissen, auch wenn das eine total dämliche Frage war. Natürlich nicht.
"Nein, Schatz", flüsterte Nia mit Bedauern.
"Mhm", machte ich traurig, dann rollte ich mich auf die andere Seite und umklammerte sein Kissen noch fester.
"Wir suchen ihn", versprach Nia mir noch, ehe sie die Decke über uns beide ausbreitete und sie sich an meinen Rücken kuschelte.
Doch wir fanden ihn nicht.
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