Storytime
Neunzehnter Januar 1919
Schon seit Tagen sind die Plakate in der Stadt, mehrere Pferdewagen werden über das Kopfsteinpflaster gezogen, und die Lautstärke vor den Läden hat sich drastisch erhöht. In Saalfeld, Landesteil Preußen, wird gewählt. Aber nicht nur hier, sondern überall. Im ganzen Land darf jeder ab 20 Jahren wählen, und wir Frauen sind mit dabei. Ist das nicht klasse? Wir sind die erste Generation, die das erleben darf. WIR dürfen mitbestimmen und wählen gehen. Die kalten Januartage sind warm und aufgeheizt voller Vorfreude, auch wenn nach dem Krieg nicht mehr viel da ist. Trotzdem, es ist ein Neuanfang für alle von uns. Ohne den Kaiser und mit der Herrschaft des Volkes. Ich bin voller Hoffnung und Optimismus, weil ich Gleichberechtigung endlich erleben will, zumindest bei den Wahlen.
Ich wage mich mit meinem dicken Mantel nach draußen, es ist kalt und ich bin froh, es nicht weit zu haben. Heute sind viele Menschen unterwegs, alle gehen in Richtung Stadtmitte und Marktplatz. Mein Weg führt mich durch die Brudergasse an dem Saalfelder Museum vorbei, an einem sehr schönen Buchladen und bis auf den Markt. Die Reste des abgebrannten Marktbrunnen von vor zwanzig Jahren befinden sich noch dort: meine Mutter erwähnte, er sei schon das zweite Mal innerhalb von 70 Jahren abgebrannt. Jetzt fehlt das Geld, um ihn wieder aufzubauen.
In der Mitte steht das riesige Kriegerdenkmal, es überragt die Bäume bis in den Himmel. Es ist eine Säule, sie muss älter als 50 Jahre alt sein- ich verstehe aber nicht, warum die Stadt sie verfallen lässt. Bald steht sie bestimmt nicht mehr dort, jeder wird sie vergessen. Ich steuere mit Vorsicht auf die Lieden -unsere Geschäfte- zu, die wenigen Automobile sind groß und schwer. Ich hasse den Umstand, dass sie ausgerechnet heute nicht zuhause bleiben können.
Die schwere Tür des ehemaligen Gemüseladens wird mir von einer anderen Frau geöffnet. Sie lächelt mich an, und fragt: ,,Das erste Mal Wählen? Wie aufregend, nicht wahr?" Ich nicke und grinse zurück. Wir sind allein in diesem Wahllokal, die anderen Menschen suchen lieber das Rathaus auf. Es hat einen Grund, warum ich nicht dort bin, sondern hier. Mein Blick fällt auf das Plakat an der Wand, was die Aufschrift: ,,Frauen! Gleiche Rechte - gleiche Pflichten! Wählt sozialdemokratisch!" trägt. Das werde ich.
,,Wie heißt du? Ich bin Luisa", erwähnt die junge Frau, während sie ihre braunen Haare zur Seite streicht und wartet. Noch ist niemand hier, noch geht es nicht los. Ich antworte, ein wenig in Gedanken versunken: ,,Mein Name ist Charlotte. Sag mal...", mir fällt ihr weites, freies Kleid auf; was einen Gegensatz zu meinem dünnen Rock darstellt, den ich unter dem Mantel trage, ,,du trägst ein sehr schönes Kleid. Sowas habe ich noch nie gesehen, wo kommst du her?" Stolz antwortet Luisa: ,,Schlesien, ich bin hier zu Besuch. Außerdem soll das Besucherbergwerk ganz toll sein, sie haben das nochmal richtig auf Vordermann gebracht - warst du dort schon?" Sie scheint Geld zu haben. ,,Nein, ich war nur einmal in der Grottenschenke, untertage ist es mir tatsächlich etwas zu... gruselig." ,,Ah." Wir hören Schritte, und mein Herz beginnt, wie wild zu klopfen.
Er kommt - Valentin, mein Liebster. Er baut eine Wahlurne auf, legt Zettel, Briefumschlag und Stift bereit; bemerkt uns deshalb erst gar nicht. Nur deswegen bin ich hier, weil ich weiß, dass er als Freiwilliger zuständig sein wird. Valentin ist der Sohn eines kaiserlichen Beamten, seine Mutter unauffindbar. Eine Schande war und ist das, viel musste er darunter leiden. Auf der Otto-Ludwig-Oberschule hatten sich unsere Wege getroffen, und irgendwie waren wir ab da schon immer ein festes Paar. Bis der Krieg kam. Wir waren siebzehn Jahre alt, als er an die Ostfront einberufen wurde. Es stand in den Sternen, ob wir uns jemals wiedersehen würden. Aber er kam, als 1917 die Revolution ausgerufen wurde. Nach mehreren Wochen im Krankenbett in Ilmenau durfte er zurück. Als ich ihn damals wieder in meine Arme schloss, bemerkte ich sofort, dass sich etwas geändert hatte. Er hatte sich geändert, Valentin war nicht mehr derselbe. Wir trennten uns, während er immer weiter aus der Öffentlichkeit verschwand. Doch nun, ein ganzes Jahr später, scheint es ihm besser zu gehen. Zumindest sagt das seine Halbschwester Sofie, die ihn regelmäßig besucht. Er hat sich Hilfe gesucht, was mich unglaublich erleichtert. Es ist schlimm, was passiert ist. Und deswegen will ich dafür wählen, dass das nie wieder passiert.
Ich blicke in seine Augen, wunderbar braun. Sein Lächeln ist schön, und ich unendlich froh, ihn wiederzusehen. In Valentins Augen blitzt ein kleiner nostalgischer Funke auf, als er mich erkennt, dann wendet er sich wieder zurück an die Arbeit. ,,Hallo ihr zwei, ich darf euch heute einweisen. So sehen die Stimmzettel aus", er hält ein bedrucktes Blatt hoch, ,,sie sind in zwei Teile geteilt. In unserer neuen Demokratie gilt jetzt das Verhältniswahlrecht, ihr dürft also einmal ein Mandat wählen und euch dann für eine Partei entscheiden. Die Wahl ist geheim, ihr füllt diesen Zettel also hier in der Urne aus und wirft ihn dann gefaltet in einem Briefumschlag in diesen Karton. Außerdem..." Ich kenne die Grundsätze der Wahl, aber zu gerne lausche ich ihm weiter. Seine Stimme klingt aufrichtig und beruhigt, aber auch begeistert und stolz. Was er wohl wählen wird? Ich nicke automatisch mit, als er seine Rede beendet. ,,Alles klar", Luisa streckt ihre Hand nach einem Zettel aus, ,,dann legen wir mal los. Ein Hoch auf das Frauenwahlrecht!" Wir kichern zu dritt, während sie sich in die kleine Ecke des Raumes bewegt, und die Wahlurne besetzt.
Ich warte, während ich versuche, Valentin nicht weiter anzustarren, bis es plötzlich aus mir herausplatzt: ,,Wie geht's dir?" ,,Gut, zumindest besser als vor ein paar Tagen. Danke, dass du fragst. Und dir?", flüstert er zurück. ,,Das ist schön von dir zu hören. Ja, mir geht's ganz okay... ich denke gerade viel über das alles nach. Vielleicht will ich studieren, in Jena oder so. Es wird sogar davon geredet, das Habilitätsverbot für Frauen bald ganz aufzuheben! Ich schweife ab, tut mir leid..." Valentin antwortet: ,,Ich denke, du kannst..." Luisa kommt zurück und wirft den Zettel in den Spalt, starrt uns beide an und fragt: ,,Hab ich euch bei etwas gestört?" Ich schüttele den Kopf und nehme mir dann selbst das Blatt Papier. Ich setze mein Kreuz bei der SPD, und suche nach meiner Kandidatin für das Mandat. Erst dann realisiere ich, dass die wenigen Frauen ganz, ganz unten auf der Liste stehen. Sollten sie nicht eigentlich gleichberechtigt sein mit den vielen Männern? Stirnrunzelnd mache ich weiter, falte dieses wertvolle Stück zusammen und kehre zu Valentin zurück. Bei ihm stehen bereits drei weitere Männer und Frauen, die nur darauf warten, dass ich fertig werde. Ich gebe ihrem Druck nach, verabschiede mich kurz und höflich von meinem früheren Freund und gehe.
Luisa wartet bereits draußen, ein Stückchen entfernt von der Masse. Sie hat Fragen, das kann ich sehen. ,,Da läuft etwas zwischen euch, oder?", stellt sie mich vor ein Dilemma. ,,Ich weiß, du meinst es nicht böse, aber ich kann und will es dir nicht sagen. Es ist zu privat, der Krieg hat diese Löcher in unsere Herzen gefressen. Alles nicht einfach..." Skeptisch schüttelt sie den Kopf. ,,Okay, vielleicht erzählst du es mir noch. Ich bin noch ein paar Wochen hier..." Sie dreht sich um und geht, ihr Blick starr geradeaus gerichtet. Vorerst bin ich die nette Dame aus Schlesien los, ich weiß nicht, ein bisschen regt sich die Eifersucht in mir. Manchmal versteh ich mich einfach selber nicht...
Aber eins steht fest: ich liebe ihn noch immer. Ich würde mir wünschen, dass Valentin irgendwann wieder der sein kann, der er vor dem Krieg war...
Ich stapfe wieder durch den Schnee und überlege, was mir der Tag noch bringen kann. Es ist erst um zehn Uhr morgens, und sonntags gehen wir höchstens in die Johanneskirche. Meine Arbeit als Bürofräulein, wie man es so neumodisch nennt, würde erst morgen wieder beginnen. Also begebe ich mich in die Bibliothek der Stadt, die zu einem Buchladen mit langer Tradition gehört. Dort will ich weiterlesen, mehr erfahren über Psychologie und das menschliche Denken. Freud, Wundt, Pawlow... die Disziplin ist jung und doch schon vor fünfzig Jahren in Leipzig entstanden. Ich vergrabe mich unter mehreren Büchern und mache es mir in der kleinen Ecke dort gemütlich.
Die Zeit vergeht, bis ich plötzlich Schritte höre. Es ist Sofie, sie sucht anscheinend nach mir. ,,Hey du, mal wieder nichts anderes zu tun?", spricht sie mich an, ihr Lächeln steckt mich sofort an. ,,Setz dich ruhig", erwidere ich, ,,was gibt's? Wenn du hier bist, dann doch nur wegen mir!" Ich lache und boxe sie spielerisch. Valentins Schwester wird ruhig, nachdem wir die Bücher wieder zurückgebracht haben. Sie will reden, irgendetwas ist passiert. ,,Ich hab gehört, du bist heute wählen gegangen", fängt sie an. Es schwingt eine Stimmung mit, die ich nicht deuten kann. Meine Antwort fällt knapp aus: ,,Ja, du nicht?" Die junge Frau - schon vierundzwanzig Jahre alt - schüttelt den Kopf. Ich verstehe das nicht, wollte sie nicht die Chance nutzen? So etwas wird nie wieder passieren! ,,Sie wollen das Kaiserreich zurück, und mein lieber Bruder soll ihnen dabei helfen. Er weiß noch nichts davon, aber seit gestern, dem Reichsgründungstag, liegt eine unangenehme Stimmung in der Luft. Ich kann es spüren, ich sehe die ehemaligen Beamtenfreunde meines Vaters. Sie haben etwas vor, sie...", flüstert sie verzweifelt. Ich nehme sie in den Arm und möchte sie beruhigen: ,,Alles ist gut, okay? Die demokratischen Kräfte werden obsiegen, sie sind schlichtweg stärker als sie. Wir schaffen das, ich werde mit Valentin reden. Vielleicht gründen wir einen demokratischen Frauenverband oder treten der SPD bei!"
Die Worte sprudeln aus mir heraus, ich will etwas tun! Aber Sofie lehnt es weiter ab. ,,Vergiss es, Charlotte. Mir sind die Hände gebunden, sie beobachten mich. Wir sind Frauen, und obwohl wir jetzt wählen dürfen, haben wir immer einen riesigen Nachteil. Wir dürfen nur arbeiten, wenn ein Mann es uns erlaubt. Man darf mit uns tun und lassen was man will, weil wir entweder ,,nur die Ehefrau" oder ,,ein junges Mädchen" sind. Selbst studieren dürfen wir nur in Teilen, weil sich die Republik dagegen weigert. Kein Sport, kein Tanz, kein Hobby - ach, ich vergaß, den Haushalt zu machen ist unsere Beschäftigung auf Lebenszeit. Ich kann das einfach alles nicht...", sie beginnt zu weinen. Aber sie hat Recht, ich hatte dieselben Gedanken heute auch. Immer wieder, seit Jahren will ich mehr. Mehr als dieses untergeordnete Leben, was wir im Patriarchat führen müssen. Es gibt kein Entkommen aus diesem System, entweder man kämpft oder man beugt sich den Regeln. Man kann sich vorstellen, was die Mehrheit von uns macht. ,,Vielleicht fragen wir Valentin, Gleichberechtigung betrifft auch ihn. Und wenn nicht du, dann ich. Auch wenn es lange dauern wird, irgendwann müssen wir anfangen!", sage ich. Meine Freundin steht auf, ich ebenso. Für heute habe ich von der Bibliothek genug, ich brauche einen Plan. Wir betreten das Treppenhaus und schweigen, bis wir wieder die lebendigen Straßen sehen können. Niemand wird uns dort sehen.
Später, nachdem ich mir etwas zum Essen gekauft habe, ist es schon dunkel. Die Wahllokale werden erst in einer Stunde schließen, die Stadt ist noch hell. Zielsicher gehe ich in Richtung Oberes Tor. Ich halte mich links und betrete dann den Hof, wo sich das versteckte Büro der SPD befindet. Wollen sie sich wirklich dort verstecken? Vor uns, den Bürgern? Wie automatisiert klopfe ich an der Tür, sie wird mir geöffnet und ich betrete das eher kleine Büro. Der Mann scheint meine Gedanken erraten zu haben: ,,Wenn wir mehr Geld bekommen, werden wir unseren Büroraum vergrößern lassen. Also keine Sorge, junge Dame, obwohl es etwas eng ist, Sie werden sich hier wohlfühlen. Ich bin Johann. Warum sind Sie hier? Haben Sie Probleme beim Wählen bekommen?" Er reicht mir die Hand, er scheint in seinen Dreißigern zu sein. ,,Danke, ich bin Charlotte. Ich war heute früh schon wählen..." ,,Verstehe."
,,Ich habe eine Bitte. Kann ich Mitglied bei euch werden?"
Es wird teuer für mich, aber ich will es - für Valentin und eine wirkliche Gleichberechtigung.
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