Christmaskiss
Ich lehne mich gegen die kalte Fensterscheibe und schaue erwartungsvoll auf die leere, mit Glatteis bedeckte Straße. Die Scheibe ist kalt und beruhigt meinen erhitzen Kopf. Schon lange sitze ich hier. Schon lange warte ich auf ihn. Und schon lange erscheint er nicht. Nervös Huscht mein Blick zur Uhr über der Tür. 27 vor 5. Jetzt ist er schon 1:33 Minuten 'zu spät', wenn man das überhaupt noch zu spät nennen kann. Ob ihm was zugestoßen ist? Ob es ihm gut geht? Was ist, wenn er einen Unfall hatte? Was ist, wenn er garnicht mehr kommt? Was ist, wenn er mich vergessen hat?
Gedanken versunken, schaue ich einem dunkelblauen Auto zu, wie es vor dem Nachbarhaus hält und ein junger Mann aussteigt. Lustlos konzentriere ich mich auf die von meinem Atem beschlagene Scheibe. Mal Kreise, Punkte und Herzchen hinein. Schon etwas besonders diese Kunstwerke. Man malt sie voller Inbrunst in einem Augenblick und im nächsten ist von innen nichts mehr zu sehen, als Dreck und Schmiere.
Irgendwie kommt mir das nur allzu bekannt vor. Ein Kunstwerk, das für den Moment geschaffen wurde, nicht für die Ewigkeit. Ein Kunstwerk, dass vielleicht am Anfang schön und verlockend wirkt, aber auf Dauer nur Dreck und Schmiere hinterlässt, die man nur weg bekommt, wenn man alles weg wischt. Das ganze Fester putzt. Wenn man versucht nur sie verschwinden zu lassen, wird alles nur nicht schlimmer und es hilft einem ganz und garnicht.
Ein Klingeln reist mich aus meinen Gedanken. Ich schrecke hoch. Wer das wohl sein mag? Lustlos schlurfe ich durch die leere Wohnung zur Tür, die ich dann langsam öffne. Meine Familie kann es nicht sein, die ist zusammen unterwegs.
Ich betätige die Sprechanlage. ,,Ja, hallo? Wer ist da?" Statt einer Antwort höre ich ein lautes Klopfen an der Tür. Erschrocken zucke ich zurück. Wie ist die Person auf der anderen Seite ins Haus reingekommen? Unser Vermieter achtet sehr penibel darauf, dass nur Berechtigte hinein kommen. Was nun wiederum bedeutet, dass es irgendein Nachbar von uns sein muss, oder etwas gewaltig falsch gelaufen ist.
Vielleicht ist es ein Einbrecher? Oder ein Entführer? schießt es mir in den Kopf. Doch weitere Horrorszenarien werden von einem deutlich lauter und energetischerem, wiederholtem Klopfen unterbrochen.
Unschlüssig starre ich das weiße Holz an. Wie dick die Tür wohl ist? Hält sie einem erwachsenen Mann stand? Ich erstarre. Was ist... Was ist wenn...? Denk sowas nicht, Cora! weise ich mich selbst zurecht.
Ein lauter Knall lässt mich ängstlich zurückweichen. Er klang so, als hätte jemand mit voller Wucht gegen die Tür geschlagen oder sogar getreten. Ganz langsam einen Fuß hinter den anderen setzend bewege ich mich von der Tür weg. Jedoch lasse ich sie keinen Moment aus den Augen.
,,Scheiße!" ertönt es dumpf. ,,Scheiße, scheiße, scheiße!" Wiederholtes Donnern. ,,Cora, bitte mach auf!" Die Stimme kommt mir bekannt vor und ich stoppe. ,,Cora?" Die Stimme klingt hilflos, enttäuscht, und das bricht mir das Herz. Die Tür klappert ein bisschen, was mich glauben lässt, dass er sich nun dagegen lehnt. Den Geräuschen nach hat er nun sein ganzer Körper an die Tür gelehnt und sein Stirn an diese gelegt.
Unsicher, aber entschlossen zu schauen, ob meine Vermutung richtig sein könnte, schleiche ich zur Tür und lehne, die Hand schon auf der Klinke, vorsichtig mein Ohr dagegen. Nichts zu hören...
Ich fasse mir ein Herz und drücke ganz langsam die Klinke herunter, darauf bedacht weiterhin so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Vorsichtig öffne ich die Tür.
Sobald die Tür weit genug offen steht, sehe ich, dass ich mit meiner Vermutung recht hatte.
Zwei wunderschöne Augen empfangen und fesseln mich zugleich.
Ich verliere mich in dem Grün, dass von goldenen Sprenkeln umgeben wird, welches ich in der letzen Woche so schmerzlich vermisst hatte.
Genauso wie ihn, zu dem die schönsten Augen der Welt gehören. Endlich steht er wieder vor mir. Allein diese Tatsache erzeugt bei mir das Gefühl, alles würde von mir abfallen.
Ich reiße ich los und betrachte in ganz.
Seine braunen Haare sind vom Haareraufen ganz zerzaust. Einen Arm gegen den Türrahmen gelernt mustert er mich. In der rechten Hand hält er eine Mütze und aus seinem offenen Packer hängen aus der linken Tasche zwei riesig scheinende Winterhandschuhe. Unter der Jacke trägt er den blauen Hoodie, den ich innig liebe. Einmal weil er ihm verdammt gut steht, aber was soll man auch anderes bei ihm erwarten? Zweitens weil es der Pulli ist, den er bei unserem ersten Aufeinandertreffen und dann unserem ersten Date anhatte. Und drittens weil er einfach nur gemütlich aussieht, dass ich eindeutig nichts dagegen hätte, ihn auch mal tragen zu dürfen. Natürlich weiß er nichts davon. Anscheinend genauso wenig, wie gut er gerade aussieht. Und ich fasse es immer noch nicht, dass er hier ist um mich abzuholen.
,,Hey!" eröffnet er endlich grinsend unser Date, und zeigt mir so mal wieder einen der über tausend Punkte auf, weshalb ich mich in ihn verliebt habe. ,,Hey" gebe ich ohne zu zögern zurück. Auf einmal verhärtet sein Gesicht sich und berührt vorsichtig mit seiner Hand sanft meine Wange. ,,Alles okay?" Ich will gerade schon mit ja und mit warum Gegenfrage antworten, als er sich nochmal verbessert. ,,Sorry, ich seh die Antwort ja. Was ist los?" Ich bin kurz davor zu fragen, was nicht stimmen sollte, als er nun ganz zärtlich etwas mit seinen Fingern wegstreicht.
Da merke ich, dass ich wohl eben während des Wartens auf ihn oder vor Angst, wer vor der Tür sein könnte, wohl geweint habe.
,,Cora" er hebt aufmerksam mein Gesicht an. Nun schaue ich wieder in, die nun sorgenvollen, Augen. ,,sag es mir, bitte!" Minimal schütteln ich den Kopf. Ich kann es ihm nicht sagen. Er würde mich für verrückt erklären. ,,Später?" fragend suchen seine Augen meine. Ich zucke unsicher mit den Schultern. Mittlerweile kenne ich ihn gut genug um zu wissen, dass er nicht nach geben wird. Aber so kann ich ihn wenigstens etwas hinhalten.
,,Okay, von mir aus. Aber du musst es mir versprechen!" Ha! Sag ich doch! ,,Ja von mir aus!" Will ich einfach nur schnell dieser Situation entkommen. ,,Gut, wollen wir dann los?" Ich nicke. Doch dann prusten er laut lachend los. Mein Verwirren muss mir anzusehen sein, denn bevor ich nachfragen kann, deutet er auf mich, als sei das die Erklärung.
Ich blicke an mir herunter und stimme schallend mit ein.
Ich trage die Jogginghose von meinem zwar jüngerem, aber schon lang nicht mehr kleinerem Bruder, die mir natürlich viel zu groß ist, meine Pinguin-Flausch-Hausschuhe und dazu ein Snopie-T-Shirt.
,,Ich hatte mich halt gerade damit abgefunden, dass du nicht mehr kommst..."
Erschrecken zeigt sich in seinem unverwechselbaren Gesicht. Er schaut auf seine Uhr und nickt. Dann zieht er sein Handy und schaut darauf. Er fasst sich mit einem Blick, den ich nicht deuten kann, in die Haare.
,,Tja, dass ist jetzt echt peinlich..." Er schaut berührt auf den Boden, und das verwundert mich, denn eigentlich ist er alles andere als der 'schüchtere-Typ'...
,,Tut mir so leid! Ich dachte, ich wäre nur 15 Minuten zu spät... Es gab Stau... Willst du trotzdem noch mit mir ausgehen?" Ich trete einen Schritt näher zu ihm, in der Hoffnung seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Anscheinend ohne Erfolg. Er redet einfach weiter, ohne mich zu beachten. ,,Ich meine ich würde es verstehen, wenn nicht!" Noch ein Schritt. Jetzt steh ich so dicht vor ihm, dass ich seinen eigenen angenehmen Geruch einsaugen kann, mich nur ein ganz kleines Stück nach vorne lehnen müsste um meinen Kopf an seine durchtrainierte Brust zu legen, und meine Gesicht fast ganz heben muss um in seines zu sehen, obwohl ich für eine 17 jährige echt groß bin. Aber er eben auch für seine 19.
Ich erkenne ehrliches Bedauern und hauptsächlich -was mich noch mehr erstaunt- Angst.
Als Antwort lege ich meine Hände um seinen Nacken und kann mir diese Worte und Geste einfach nicht verkneifen. ,,Lass mich mal überlegen..." Ein erleichtertes Lächeln schleicht sich auf seine Lippen und wirft süße Grübchen auf sein definiertes Gesicht. ,,Was bekomme ich dafür?" Das Lächeln wird zu einem Grinsen. ,,Lass mich überlegen... einen Punsch?" ,,Na gut! Aber jetzt kann ich es dir ja sagen:" neugierig, was wohl als nächstes kommt, studiert er mein Gesicht. ,,Ich hätte wohl auch ohne Punsch nicht Nein sagen können, denn den hätte ich sowieso bekommen, aber einen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt mit dir wohl eher nicht." Frech grins ich ihn an, und der zurück.
,,Da bin ich aber beruhigt!" Ich liebe es, wenn man seiner Stimme anhört, dass er gerade breit grinst. ,,Wollen wir los?" versuche ich meine Verliebtheit zu verstecken. ,,Ich gerne, aber ich weiß nicht wie das mit dir so aussieht... Von mir aus kannst du so gehen, die Pinguine solltest du aber vielleicht noch ausziehen, obwohl Kälte und Eis ihnen ja eigentlich nichts machen sollten, denke ich, dass es dieser speziellen Spezies nicht gut tun würde." scherzt er schmunzelnd.
,,Ups..." gluckse ich ,, das vergesse ich immer! Warte kurz! Willst du rein kommen?" Ich löse mich flink von ihm und verschwinde in der Wohnung.
3 Minuten später schlüpfe ich fertig angezogen in die warme Küche. Julian sitz auf der großen, breiten Fensterbank und schaut Gedanken verloren ins Feuer des Kamins. Noch scheint er mich nicht bemerkt zu haben. Von seinem Anblick gefangen stehe ich einfach nur da, und schaue ihn an, ungläubig, dass er nun bei mir in der Küche sitzt.
Seine Boots hat er ausgezogen, genauso wie seine Jacke, die über einem am Tisch stehenden Stuhl liegt.
Ganz langsam ziehe ich mein Handy, und hoffe den Moment unberührt einfangen zu können, ohne das er es merkt. Und es funktioniert. Unauffällig stecke ich das Handy wieder weg, und mache mich bemerkbar.
,,Du bist fertig." Stellt er fest. Ich nicke. Mit einem Glas in der rechten Hand erhebt er sich, stellt es neben die Spüle und greift mit linken gleichzeitig nach seiner Jacke.
,,Müssen wir den Ofen noch ausmachen?" fragend schaut er mich an. ,,Nein, das Feuer ist schon so klein, und vor allem kommt gleich Frau Eni." sage ich kopfschüttelnd und bevor Julian weitere bedenken äußern kann, ziehe ich ihn aus der Küche zur Wohnungstür, die er ordnungsgemäß geschlossen hat. Im vorbeigehen schnappe ich mir die erst beste Jacke, die aussieht als könnte sie mir passen, von der überfüllten Garderobe. Ich möchte keine Zeit verlieren, denn wir sind jetzt schon eine Stunde und fünfundvierzig Minuten später dran als ursprünglich geplant.
Schnell schlüpfe ich in meine Lieblingsschuhe und checke ob die Jacke mir wirklich passt. Ich hatte wohl Glück, denn es ist weder die von meiner Mutter, noch die meiner jüngeren Schwester, oder die von meinem Vater oder eine von meinen zwei anderen Brüdern, es ist wirklich meine Jacke, und dazu noch die gemütlichste die ich habe.
Ich will schon die Tür schließen und Julian die Treppen runter folgen, doch da fällt mir noch zum Glück ein, wohin wir unterwegs sind.
,,Warte!" rufe ich ein Stockwerk runter. ,,Ich brauche noch meinen Schal." Ohne eine Antwort abzuwarten, betrete ich nochmal schnell die Wohnung und hole besagtes Kleidungsstück.
Endlich bereit für unseren Weihnachtsmarkt-Besuch laufe ich schnell die Treppen hinunter. Julian steht unten und wartet auf mich.
,,Sind wir jetzt endlich soweit, Madam?" fragt er gespielt nervend. Ohne darauf einzugehen öffne ich die Tür nach draußen.
Ein kalter Luftschwall schlägt mir entgegen und lässt mich zurückweichen. Ich pralle gegen Julian, der direkt hinter mir steht.
,,Komm, so schlimm ist das nicht!" Mir klappern schon die Zähne. ,,Wir müssen ja nicht gehen." Und mit den Worten nimmt er meine Hand und zieht er mich in die eisige Kälte.
Es wird schon langsam dunkel und die ersten Lichterketten, Straßenlaternen und Hausfenster beginnen ihr Licht zu verbreiten. Ich atme einmal tief ein. Kalte Luft strömt in meine Lunge und macht mich ganz wach und klar im Kopf. ,,Weihnachten kommt!" flüstere ich die Stille, die es nur im Winter, in der Adventszeit gibt, an Weihnachten.
Einen heißen Punsch in der einen Hand und Julians in der anderen, schlendre ich nun über den Weihnachtsmarkt unserer klein Stadt.
,,Komm!" reißt Julian mich aus der Glückstrance, die der Moment in mir ausgelöst hat. All die Geräusche, Gerüche, bekannten Gesichter und Eindrücke verursachen Jahr für Jahr die selben Gefühle in mir. Und jetzt läuft auch noch Julian neben mir, und hält meine Hand fest in seiner, als hätte er Angst ich könnte ihm verloren gehen. Warum sollte ich mich anders fühlen? Ich will, dass dieser Moment nie verloren geht. Also drücke ich Julian meinen Punsch in die freie Hand, den er gerne hält, denn seiner ist schon leer, fische ich mit einer schnellen Bewegung mein Handy aus meiner Jackentasche und halte die Atmosphäre und Momente kurz in einigen Bildern fest.
Nachdem ich meinen Punsch wieder an mich genommen habe, um zu verhindern, dass er gleich ganz ausgetrunken ist, setzen wir unseren Weg fort.
Zielstrebig läuft er auf einen kleinen unscheinbaren Stand zu.
Kurz bevor ich wirklich erkennen kann, was er verkauft, bleibt Julian stehen und zwingt mich dazu ebenfalls zu stoppen. ,,Du" er lässt meine Hand los ,,wartest hier!" Ohne auf eine Antwort zu warten lässt er mich einfach stehen. Fassungslos schaue ich ihm hinterher und lausche angestrengt, ob ich verstehen kann, worum es bei seinem kurzen Gespräch mit dem Budenbesitzer geht. Keine Chance...
Nach nur wenigen Worten, die gewechselt wurden, kommt Julian strahlend auf mich zu.
Ohne irgendein Wort darüber zu verlieren, was das gerade war, nimmt er grinsend meine Hand und steuert als nächsten Stop mal wieder den Glühweinstand an. Gut, dass er heute nicht mehr fahren muss, denke ich im stillen, sage es jedoch nicht laut, denn ich weiß, dass er sowas nicht gerne von mir hört.
Ich bin echt neugierig, was er eben gemach hat, jedoch bin ich zu eingeschüchtert von seinem Schweigen um zu fragen.
In die andere Richtung setzen wir unseren Spaziergang fort. Schauen mal hier, schauen mal dort. An einer Bude für Dekoration bleibe ich hängen. Hier gibt es eine Riesen Auswahl an allem was man je 'gebrauchen' könnte. Besonders die Bilderrahmen interessieren mich und ich kann mich einfach nicht entscheiden, welchen ich jetzt für Mama kaufen soll... Auch Greta hat sich Deko für ihr Zimmer gewünscht, doch Julian zwingt mich zur Eile. Irgendwann frage ich ihn leicht angenervt: ,,Hast du heute noch einen Termin oder was?" Seine einzige Rückmeldung dazu ist ein Blick auf sein Hand und ein ungeduldiges fußtippeln.
Um zu verhindern, dass seine und so dann auch meine Stimmung in Keller sinkt, reiße ich mich von den wunderschönen Gegenständen los und verlasse den Stand, ohne etwas gekauft zu haben.
Jetzt ist es ganz dunkel, und nur wegen der vielen Lichterketten, die den ganzen Weihnachtsmarkt in ein angenehmes Licht tauchen, erkenne ich, als ich Julian mal wieder von der Seite aus betrachte, dass seine Wangen und Nase von der Kälte und vermutlich auch dem Punsch gerötet sind.
Mir kriecht auch langsam die Kälte in die Knochen.
Gerade will ich mal nach horchen, was Julian als nächstes vorhat, da dreht er sich zu mir und kommt ein paar Schritte näher.
,,Ist dir kalt?" Ich nicke zitternd. Schmunzelt zieht er mich in eine wärmende Umarmung. Eng beieinander stehend, wie Pinguine, stehen wir mitten im Weihnachtsrauschen und ignorieren für einen ganz kurzen Moment die dröhende, und immer zu hektische Welt.
Viel zu schnell lösen wir uns wieder von einander, und der magische Moment ist vorbei. Zusammen mit der Kälte strömt nun auch wieder alles auf mich ein. Mir fällt auf, wie laut es doch im Verhältnis zu eben ist. Julian hat auf mich einen besonderen Einfluss. Er kann mich alles vergessen und ausblenden lassen und im gleichen Moment schärft er meine Sinne.
Verträumt schaue ich hoch zu ihm.
Ganz vorsichtig beugt er sich vor zu mir, und ich habe so im Gefühl, dass gleich etwas wunderschönes passieren wird. Vielleicht habe ich endlich das Glück, von ihm einen Kuss zu bekommen. Auf dem Weihnachtsmarkt. Romantischer geht es ja kaum, für einen ersten Kuss, oder...
Doch statt seine Lippen endlich auf meine zu legen, berühren seine Lippen fast meine Ohr, und kaum hörbar raunt er :,,Ich muss dir etwas zeigen!"
Enttäuscht bin ich schon, aber er tut so geheimnisvoll, dass mal wieder an diesem Tag die Neuger über alle anderen Emotionen siegt. Naja, fast alle. Die Liebe nicht, aber sonst wirklich alle!
Er legt seinen Arm um meine Schulter und führt mich durch die immer voller werdenden Gänge des Marktes zu dem kleinen Stand, mit dessen Besitzer er eben noch gesprochen hatte.
Zwei Meter vor dem Stand im Gedränge bringt er mich zum Stehen. Ich betrachte ihn genau, seine Augen scheinen noch mehr zu strahlen als sonst, und die Haut um seine Augen herum wirft feine Lachfalten. Auf seinen geröteten Wagen bilden sich kleine Grübchen und lässt ihn noch besser aussehen, was eigentlich garnicht gehen sollte.
Er blickt zu dem Inhaber, der ihm kaum merklich zu nickt, und wendet sich dann mir zu. Abwartend schaue ich ihn an, und statt was zu sagen, stellt er sich hinter mich und hält mir die Augen mit einer seiner großen Hände zu. Seine Handschuhe muss er ausgezogen haben, denn seine warme Haut entfacht ein Feuerwerk bei mir.
Ganz darauf bedacht, dass mir nichts passiert, führt er mich durch die Menschen. Seine andere Hand an meinem Rücken gibt mir halt und muss mich mehrmals Stützen, denn die Leute um uns herum nehmen keine Rücksicht. Nach 10 Schritten frage ich mich, wohin er mich wohl führt, denn die Bude von eben, hätten wir schon längst erreicht.
,,Was soll das, Julian?" Keine Antwort, nur die Schritte auf dem Schotterweg und seine Hände an meinem Körper sind Beweis dafür, dass er immer noch bei mir ist.
Es wird leiser, ruhiger, weniger hektisch um uns herum. Immer weniger Stimmen, Schritte und Gelächter höre ich, bis am nun nur noch unsere Schritte und Atem zu höre sind.
Endlich bleibt mein 'Entführer' stehen, doch lässt mich immer noch nicht nachschauen wo wir sind.
,,Ich habe eine kleine Überraschung für dich." erklingt seine Stimme leise, und rau von dem Schweigen eben, hinter mir. Dann lässt er die Hand sinken, und ich sehe wo wir sind.
Wir haben den Weihnachtsmarkt, wie vermutet, verlassen und stehen nun vor der kleinen Bank am Parkeingang. Die kleine Tanne neben der Sitzgelegenheit wurde mit einer Lichterkette geschmückt und auf der Bank liegt verlassen ein kleines wunderschön verpacktes Geschenk auf einer roten Decke.
,,Wow!" Ich drehe mich Julian zu. ,,Danke!" Ein stolzes Grinsen schmückt sein Gesicht. ,,Womit habe ich das verdient?" frage ich fassungslos vor Rührung. ,,Weil du einfach fantastisch bist, Cora!" antwortet er sanft. ,,Willst du nicht schauen, was sich unter dem Geschenkpapier dort versteckt?" ,,Ja, will ich! Du kennst mich mittlerweile einfach zu gut!" grinse ich zurück.
Ich gehe zur Bank, streife meine Handschuhe aus und heb das kleine Packet vorsichtig hoch. Julian folgt mir und breitet die Decke über die Bank aus. Das muss wohl alles geplant sein. Leicht schüttle ich das Geschenk. Der Inhalt rutscht hin und her, aber ich kann das Geräusch nicht zuordnen. ,,Komm doch zu mir" sagt Julian, und ich kann ihm seinen Wunsch nicht abschlagen. Die Decke liegt über der Bank ausgebreitet und verhindert so ansatzweise unser vorzeitiges Erfrieren, doch wahrscheinlich nicht lang...
Ich will mich gerade hinsetzen, da zieht Julian mich auf seinen Schoß. Damit hätte ich zwar nicht gerechnet, aber stören tut es mich ganz und garnicht.
Jetzt sitzen wir hier, er auf der Bank und ausgebreiteten Decke, den rechten Arm um meine Taille, die linke Hand auf meinem rechten Oberschenkel abgelegt, ich auf seinem Schoß, sein Päckchen in der Hand.
Wie ein kleines Kind fühle ich mich, als ich voller Vorfreude und Ungeduld die Schleife abmache, und es kaum erwarten kann, zu sehen was Julian für mich ausgesucht hat.
Unter dem weißen, mir Schneeflocken geschmückten Geschenkpapier kommt eine kleine Schmuck Kiste zum Vorschein.
Sie ist schwarz und hat ein kleines, goldenes Ornament in der rechten oberen Ecke.
Vorsichtig offen ich die Schatulle, und erblicke eine feine, wunderschöne Kette. Sie ist aus silbernem Material, besteht aus tausenden feine ineinander greifende Ringe, aber der Hauptblickfang ist der Anhänger. Ein wunderschönes verarbeitetes Herz. Es ist nur die 'Silhouette' von einem Herzen. Nur ein Rahmen, aber so wunderhübsch. Um ihn, den Rahmen, windet sich eine Art schwarze Liane. Das Schwarz auf dem Silber bildet einen ästhetischen Kontrast, der das Schmuckstück schlicht und zu gleich auffällig edel aussehen lässt.
,,Danke!" flüstert ich völlig gefangen. Zögernd lass ich meine Fingerspitzen über die einzelnen Glieder des Geschenks gleiten.
,,Willst du sie anziehen?" fragt Julian behutsam, und ich nicke. Er nimmt beide Arme von mir, und ich merke, wie sehr er mich gewärmt hat. Mit der rechten streicht er mir die Haare aus dem Gesicht, fasst sie rechts zusammen, zieht mir dann den Schal aus. Seine linke berührt sanft meine Hand, während er bedacht die Kette hochhebt.
,,Hälst du die Haare weg, damit ich dir nicht weh tue?" seine Stimme klingt fürsorglich und liebevoll. Ohne zu zögern tu ich, was er sagt, dabei streifen unsere Hände sich, und ich genieße die kleinen Berührungen.
Mit gekonnten Bewegungen öffnet er ohne Probleme den Verschluss und legt sie mir behutsam um den Hals. Dabei streifen seine Hände schon wieder meine Hand und entfachen ein Lauffeuer, dass durch meine Adern pulsiert.
Ich öffne meine Jacke ein Stückchen und die Kette fällt kalt auf mein Dekolleté. Sofort schließt sich meine Hand drum und augenblicklich wird mein Grinsen noch größer. Ich weiß jetzt schon, dass ich die Kette nie ablegen werde.
Glücklich schaue ich Julian ins Gesicht und mein Grinsen wird noch größer, was eigentlich gar nicht möglich sein sollte.
Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht worüber ich mich mehr freue. Julian oder die Kette. Beide sind einfach wunderschön und fantastisch.
,,Danke!" wiederhole ich mich. ,,Gerne!" er grinst zurück und fasst nach meiner Hand, die immer noch mit der Kette spielt. ,,Komm!" Er steht auf, jedoch darauf bedacht, dass ich nicht von seinen Beinen in auf den Boden falle.
Auf ihn wartend stehe ich neben dem Weihnachtsbaum, und betrachte Julian von hinten aufmerksam, wie er die Decke gewissenhaft zusammen faltet und sie sich dann unter den linken Arm klemmt. Womit habe ich diesen Jungen nur verdient?
Er kommt auf mich zu und streckt mir schon automatisch seine, wieder in Handschuhe eingepackte, rechte Hand hin. Glücklich nehme ich sie.
So schlendern wir zurück Richtung Weihnachtsmarkt. Ich weiß nicht, wie es besser sein könnte. Es ist einfach alles perfekt.
Da bleibt Julian stehen. Verwirrt schaue ich ihn an. Doch das sieht er garnicht, denn er hält laut lachend, jauchzend sein Gesicht Richtung Himmel. Verwundert über sein verhalten tue ich es ihm nach.
Und sehe tausende von kleinen weißen Punkten aus dem Himmel auf uns zukommen. Schon spüre ich das kalte nass des ersten Schnees in diesem Jahr.
,,Es schneit." rufe ich erfüllt in die Still des Winters. Klar, deutlich und aus vollem Herzen erklingt Julians schallendes Lachen. Laut stimme ich mit ein.
Glücklich springe ich im Schneegestöber hin und her, versuche Schneeflocken mit dem Mund zu fangen, und fühle mich in diesem Moment wie damals als Kind.
Julians Lachen verstummt und ich fange mich langsam wieder, suche seinen Blick. Er schaut... ich kann es nicht beschreiben... verträumt? ...erfüllt? ....glücklich? ...verliebt? Der Gedanke Julian könnte in mich verliebt sein, fasziniert mich immer noch zu tiefst. ,,Was ist los, Juli?" rufe ich ihm lachend zu.
Langsam kommt er durch den frisch gefallenden Schnee auf mich zu. Sofort setze ich mich auch in Bewegung. Wir treffen uns in der Mitte, stehen uns ganz nah gegenüber. Behutsam streicht er mir eine von der Feuchtigkeit lockig gewordene Strähne aus dem Gesicht und entfernt die Schneeflocken aus ihr. Dann wendet er sich endlich mir zu und sagt ganz ernst: ,,Du bist! Das reicht zum Staunen!"
Bevor ich die Wörter richtig realisieren kann, kommt er mir immer näher und seine warmen Lippen treffen auf meine und entfachen ein riesiges Feuerwerk in meinem Inneren. Mein Bauch besteht aus zehntausend Schmetterlingen und eine unbeschreibliche Wärme erfüllt mich.
Hingebungsvoll erwidere ich den Kuss. Unsere Lippen bewegen sich in dem selben Rhythmus, passen zu einander und ich wünsche mir, dass dieser Moment nie vorbei geht.
Langsam lösen wir uns von einander und schauen uns einfach nur stumm an. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein. Alles verlangsamt sich. Nur wir beide existieren noch und das immer heftiger werden Schneetreiben um uns herum verstärkt diese Atmosphäre nur noch mehr.
,,Ich liebe dich, Cora!" flüstert er in die Stille. Ich bin fasziniert von der Magie des Momentes. Ich will irgendwas erwidern, aber bevor ich überhaupt weiß, was ich sagen will, liegen unsere Lippen wieder aufeinander. Der Kuss ist fordernder, stärker, energischer. Perfekt.
Jetzt ist der Tag perfekt, denke ich kurz, bis die Energie des Kusses wieder alle Gedanken aus meinem Kopf fegt. Perfekt.
Und jetzt kann auch Weihnachten kommen.
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Eine Kurzgeschichte
für (m)einen Adventskalender
24 Lichter 2019
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