9. Kapitel

"Es tut mir wirklich leid, aber es ist kein einziges Bett mehr frei".
Der Berg von einem Mann, der in der Tür, der mir eine Absage erteilte, könnte beängstigend aussehen, wenn sich nicht zwei kleine Mädchen an seinen Beinen festklammern würden, die mich aus großen blauen Augen ansahen. Und obwohl der Mann so aussah, als würde es ihm wirklich leidtun, dass auch er mir keinen Schlafplatz anbieten konnte, verhinderte das nicht den Stich der Enttäuschung in der Brust.

Jose war bereits der dritte, der mir mitteilte, dass jedes Bett belegt war. So war es auch bei Sally und Leo gewesen, zu denen Dean mich gebracht hatte. Ich biss mir auf die Lippe und bemühte mich ein möglichst freundliches Lächeln aufzusetzen, weil Jose nichts dafürkonnte und bedankte mich.

Eins der Mädchen ließ das Hosenbein von Jose los und trat hinter ihm hervor, bis sie vor mir stand. Dann drehte sie sich zu ihrem Vater um und sagte: "Sie kann doch in meinem Bett schlafen. Dann schlafe ich bei Leah".
Mein Lächeln verwandelte sich in ein echtes und Wärme breitete sich in meinem Bauch aus. Wir hatten die Selbstlosigkeit bon Kindern nicht verdient. Die Kleine sah wieder zu mir und strahlte mich an und schien sehr zufrieden mit ihrer Lösung zu sein. Auch Leah, das andere Mädchen hatte sich hinter dem Hosenbein ihres Vaters vorgewagt und nickte nun eifrig.

Natürlich würde ich nie einer der Beiden ihr Bett wegnehmen, aber ihr Enthusiasmus einer völlig Fremden zu helfen, war das Schönste, was ich seit langer Zeit erlebt hatte. Joses Blick war ganz weich, als er seine Töchter ansah, aber ich sah auch den Konflikt darin. Er wollte mir helfen, aber das war natürlich nicht gerade ideal. Ich wollte gerade dankend ablehnen, als Dean mir zuvorkam und sich so hinhockte, dass er auf Augenhöhe mit den Beiden war.
"Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ein Engel bist, Lucy? Ihr seid beide kleine Engel und das ist wirklich ein liebes Angebot. Aber ich fürchte, Mara ist ein kleines bisschen zu groß, um in eins eurer Betten zu passen", erklärte er ihnen.

Lucy richtete ihren Blick wieder auf mich und schien kritisch abzuschätzen, ob man Deans Worten Glauben schenken durfte. Sie schien zu der Schlussfolgerung zu kommen, dass er recht hatte, denn sie fragte: "Aber wo wird sie dann schlafen?".
Das war eine gute Frage.
"Keine Sorge. Mir ist gerade eingefallen, wo ich Mara unterbringen kann", verkündete Dean und ich sah ihn fragend von der Seite an. Später, teilte er mir lautlos mit.
"Können wir Mara mit wegbringen?", fragte Leah und sah ihren Vater flehentlich an.
"Oh ja. Bitte, bitte, bitte", schloss Lucy sich an und hüpfte auf und ab.
"Nein, das ist zu gefährlich. Es dauert nicht mehr lange, bis der Schneesturm hier ankommt", sagte Jose bestimmt und die Schultern der beiden sackten herab. "Aber wir wollen helfen", beschwerte Lucy sich und verschränkte die Arme vor der Brust.

Jose überlegte einen Moment, bevor er sich zu seinen Töchtern herunterbeugte und vorschlug: "Wieso geht ihr nicht in die Küche und packt für Mara ein Tütchen mit den Weihnachtskeksen zusammen, die wir gestern Abend gebacken haben? Ich bin sicher Mara ist hungrig und würde sich darüber freuen". Die Gesichter von Leah und Lucy leuchteten auf und schon flitzten sie los. Jose richtete sich mit einem sanften Lächeln im Gesicht wieder auf und sah mich an.
"Du hast nicht zufällig eine Nussallergie, oder?". Ich schüttelte den Kopf und er nickte zufrieden, bevor er sich an Dean wandte.
"Hast du wirklich einen Plan? Ich könnte sonst auch nochmal herumfragen", bot er an.
"Das ist lieb, aber ich weiß was ich mache", lehnte er dankend ab. Jose nickte erneut und fügte mit strenger Miene hinzu: "Ich erwarte, dass du mir schreibst, wenn ihr beide sicher vor dem Schneesturm seid. Sonst kann ich heute Nacht kein Auge zu machen".
Dean nickte.
"Keine Sorge, du bekommst eine Nachricht, sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe".
Jose verschränkte die Arme vor der Brust.
"Hast du genug Lebensmittel bei dir zuhause? Sonst kann ich dir noch etwas mitgeben".
"Edna hat mir geschrieben, dass sie sich schon darum gekümmert und meinen Kühlschrank aufgestockt hat".

Schritte erklangen und Leah und Lucy kamen beide angeflitzt, jeder ein Tütchen mit Weihnachtskeksen in der Hand.
"Wir haben für euch beide Kekse eingepackt", sagte Leah und drückte ihr Tütchen Dean in die Hand, während Lucy mir das andere Tütchen überreichte.
"Da sind Nussecken, Butterkekse und Haferkekse drin", erklärte mir Lucy stolz und mein Herz schmolz erneut, als ich die liebevoll dekorierten Kekse betrachtete.
"Danke. Die sehen unglaublich lecker aus", versicherte ich ihnen und bewunderte sie noch einen Moment länger, bevor ich meinen Rucksack von den Schultern nahm, um die Kekse behutsam darin zu verstauen.

Dean musste den beiden noch versprechen, dass er beim nächsten Mal Kekse backen mit dabei war, bevor sie ihn schließlich gehen ließen. Mich hatten sie auch eingeladen, aber zu dem Zeitpunkt würde ich leider bereits nicht mehr hier sein. Dabei würde ich so viel lieber Kekse mit diesen beiden zauberhaften Wesen backen, als mich den verurteilenden Blicken von den Leuten aus meinem Dorf auszusetzen. Generell war ich baff, von der Freundlichkeit, die mir hier von überall entgegenschlug. Ich hatte immer gedacht, diese Orte würden nur in Büchern existieren, wo jeder jeden kannte und alles etwas von einer riesigen Familie hatte.

Nun, es war nicht so, als könnte man in Goridge großartig Geheimnisse bewahren. Aber dort ging es immer nur darum, was die eine Familie jetzt schon wieder falsch gemacht hatte oder warum irgendjemand ein schlechter Umgang war. Goridge war diese Art von Dorf, wo einen die Menschen eine Woche lang wie Luft behandelten, wenn man am Sonntag aus irgendeinem Grund nicht zur Kirche erschienen war, während Eyshire die Art Dorf zu sein schein, wo man am Sonntag drei verschiedene Nachbarn mit einer Suppe auf der Türschwelle stehen hatte, weil jemand gehört hatte, dass man krank war.

Während unserer Suche, hatte ich Dean mit mindestens schon fünf Leuten telefonieren hören, die vielleicht wüssten wo ich heute Nacht unterkommen konnte oder anderweitig ihre Hilfe anboten. Man hätte es ja darauf schieben können, dass Dean vielleicht durch seine Musikerkarriere einen höheren Bekanntheitsgrad hatte, aber ich hatte gehört, wie die Leute mit ihm redeten. Sie behandelten ihn entweder wie einen alten Freund oder wie den nervigen Enkel, der zu Besuch kam, den sie insgeheim aber doch liebhatten. So behandelte man niemanden, den man idolisierte. Nein, die Menschen machten sich die Mühe, weil sie Dean wirklich gernhatten. Und das Schockierendste an der Sache war, dass sie auch mich nicht wie eine Fremde behandelten.

Das war ein ungewohntes Gefühl. In der Stadt, in der ich momentan wohnte, kannte ich gerade mal die Namen meiner nächsten Nachbarn und vice versa. Wir waren praktisch Fremde. Was immerhin besser war, als dass alle Nachbarn alles von mir wussten und mich trotzdem wie eine Aussätzige behandelten. Aber die unvoreingenommene Freundlichkeit dieser Leute, schnürte mir auf eine seltsame Weise die Luft ab. Es war schwer für mich daran zu glauben, dass Menschen sich tatsächlich einfach so verhielten, ohne einen Vorteil daraus zu ziehen. Meiner Erfahrung nach kostete die Freundlichkeit von Menschen immer einen Preis. Die Frage war nur, wer von uns würde ihn zahlen müssen – Dean oder ich?

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