22. Kapitel

Nach dem Telefonat mit Nala fühlte ich mich gleich tausend Mal besser und war bereit mich meiner Vergangenheit endlich zu stellen.
Also packte ich mir einen kleinen Rucksack mit Geld, etwas zu Essen und zu Trinken und zog meine Wintersachen an, bevor ich mich erneut in Richtung Goridge begab.

Ohne das störende Gepäck, nahm ich einen Bus, um meinen Geldbeutel ein klein wenig zu schonen und stand ungefähr eine Dreiviertelstunde später an einer mir vertrauten Haltestelle. Da das Wetter immer noch nicht das allerbeste war, begegnete ich zum Glück kaum jemanden auf den Straßen, was mir nur recht war. Nur der ein oder andere Hundebesitzer begegnete mir, doch mit meiner Kapuze, die ich mir tief ins Gesicht gezogen hatte, bezweifelte ich, dass mich irgendjemand erkannte.

Es war seltsam erneut durch diese Straßen zu laufen, die mir so vertraut waren und doch über die Jahre fremd geworden waren. Es erinnerte mich an meinen letzten Besuch in dieser Stadt. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits zwei Jahre von zuhause ausgezogen gewesen, aber dann hatte ich erfahren, dass meine Oma gestorben war. Es hatte mich fast ein bisschen überrascht, dass ich überhaupt eine Benachrichtigung bekommen hatte, denn ich hätte es meinem Vater zugetraut, mich einfach im Dunkeln zu lassen.
Aber anscheinend wäre es eine noch größere Schande gewesen, wenn ich nicht zur Beerdigung erscheinen wäre, als wenn die Rabentochter gesichtet wurde. Zu Omas Beerdigung war ich allerdings aus freien Stücken gegangen, nicht weil es mich interessierte, wie sich das auf das Image meines Vaters auswirkte. Sie war einer der wenigen Menschen gewesen, die ihre Religiosität nicht als Grund genutzt hatte, um mich für meine Entscheidungen zu verurteilen. Die Beerdigung hatte natürlich in einem riesigen Streit zwischen mir und meinen Eltern, beziehungsweise mir und meinem Vater geendet und das war das letzte Mal, dass ich hier gewesen war. Oder dass ich mit meinen Eltern gesprochen hatte. Meine Mutter hatte noch ein paar Mal versucht mich zu kontaktieren und dazu zu bewegen nach Hause zu kommen, doch ich hatte meinen Eltern nichts mehr zu sagen. Schließlich hatten auch ihre Kontaktversuche aufgehört.

Der Schnee schien besonders stark unter meinen Füßen zu knirschen, als ich die Straßen von Goridge verließ und stattdessen in den Wald verschwand. Aber das konnte auch nur Einbildung sein. Was allerdings keine Einbildung war, war das gleich ein wenig Anspannung von meinen Schultern abfiel, als ich in das Wäldchen eintrat. Mit dem Wald, verband ich fast ausschließlich gute Erinnerungen.

Zielsicher folgte ich dem vertrauten Pfad, runter von den festgetretenen Wegen, der eigentlich nicht mal ein Pfad war und nur von jemandem gefunden werden konnte, der wusste, dass es ihn gab. Man musste sich ein wenig durchs Gebüsch schlagen und ich war froh, dass die dicke Jacke anhatte, die den Schnee, der von den Ästen auf mich drauffiel, nicht bis zu meinem Körper durchdringen ließ. Irgendwie hatte ich das Gebüsch nicht ganz so dicht in Erinnerung. Andererseits war ich vor ein paar Jahren definitiv noch kleiner gewesen und es war wahrscheinlich in der Zeit, in der hier niemand durchgegangen war auch noch ein bisschen mehr zugewachsen.

Schließlich öffnete sich das Gebüsch um mich herum, ein wenig und ich trat auf eine winzig kleine Lichtung. Und in der Mitte der Lichtung stand die alte Eiche, unerschütterlich wie damals schon. Da oben auf einer großen Gabelung, saß das Baumhaus, das mein Opa uns damals gebaut hatte, als wir noch kleine Kinder waren. Unsere Eltern wussten nichts von dem Baumhaus. Tatsächlich wusste niemand von diesem Baumhaus außer meine Großeltern, Alice und ich. Und ich hoffte stark, dass es über die Jahre auch unentdeckt geblieben war.
Den meisten Kindern hier war es sowieso streng verboten, diesen Wald zu betreten, schließlich konnte man sich ja die feinen Klamotten ruinieren.
Uns war es auch verboten worden, doch wir hatten halt einfach nicht auf unsere Eltern gehört.

Mit schiefgelegtem Kopf betrachtete ich die Bretter, die mein Opa damals als Stufen an den Baum genagelt hatten. Sie sahen alt und ein bisschen morsch aus. In Kombination mit dem Schnee, der sie bestimmt zusätzlich noch rutschig machte, war es bestimmt eine ganz schlechte Idee dort hochzuklettern. Dumm nur, dass mich dumme Ideen noch nie davon abgehalten hatten, sie zu verfolgen. Die Schneedecke würde mich im Zweifelsfall schon auffangen, richtig?
Mit vor Kälte klammen Händen griff ich nach der höchsten Stufe, die ich mit meinen Händen erreichen konnte und machte mich an den Aufstieg. Es dauerte gefühlte Ewigkeiten, weil die Stufen so rutschig waren, dass man höllisch aufpassen musste, doch ich schaffte es unfallfrei nach oben.

Als ich endlich auf der Plattform stand und die Tür öffnete, hielt ich aus irgendeinem Grund den Atem an. Keine Ahnung, was ich dachte, dass passieren würde, vielleicht, dass Alice wie durch ein Wunder mir entgegengrinse, aber nichts Außergewöhnliches passierte. Von innen war das Baumhaus in einem außergewöhnlich guten Zustand. Klar, auf allen lag eine fingerdicke Staubschicht und ich sah mehr als ein Spinnennetz, das irgendwo aufgespannt war, aber ich hatte irgendwie was Schlimmeres erwartet. Zum Beispiel das eines der Fenster kaputt wäre oder einem der Stühle ein Bein fehlte oder etwas ähnliches. Mein Blick wanderte zu der Holzkiste in der Ecke und war erleichtert, dass diese auf den ersten Blick unberührt war. Als ich dort hinüberging, knarrte das Holz unter meinen Füßen und mir wurde doch ein wenig mulmig. Ich öffnete sie und nahm die beiden Decken heraus, die wir darin deponiert hatten und darunter, ganz am Boden der Kiste, war eine kleinere, filigranere Kiste.

Als ich Dean erzählt hatte, dass wir die Zeitkapsel vergraben hatten, hatte ich es vielleicht ein wenig zeremonieller klingen lassen, als es war, denn statt uns dem Risiko auszusetzten, dass wir sie nie wieder fanden, wenn wir sie wirklich irgendwo vergruben, hatten wir sie stattdessen einfach in die große Holzkiste gesteckt. Und dort hatte sie jetzt zehn Jahre gesessen, bevor ich sie herausgeholt hatte. Einen Moment starrte ich sie nur an, unsicher ob ich wirklich bereit dafür war. Dann ließ ich mich auf einen Stuhl nieder und stellte sie behutsam auf dem Tisch ab. Ich würde mich nie wirklich bereitfühlen sie zu öffnen, also konnte ich es genauso gut jetzt gleich tun.
Behutsam legte ich den kleinen Riegel um, der die Kiste verschlossen hielt und hob den Deckel an.

Zuoberst lagen die beiden Briefe, die wir an unsere zukünftigen Ichs geschrieben hatten. Ich wischte einen kleinen Bereich des Tisches mit meiner Hand ab, sodass dort kein Staub mehr lag, bevor ich die beiden Briefe aus der Box holte und dort ablegte.
Dann lagen noch diverse andere kleine Gegenstände in der Kiste, die unterschiedlichste Emotionen in mir hervorriefen.
Da war zu einem die Kette, mit dem kleinen Froschanhänger, die ich Alice geschenkt hatte. Da ich ihr nicht wirklich offen Prideschmuck schenken konnte, den sie dann auch anziehen konnte, hatte ich immer nach möglichst subtilen Symbolen gesucht, die ich ihr stattdessen schenken konnte. Es war mein kleiner Akt der Rebellion. Und Frösche waren nun mal gemeinhin etwas, das in der queeren Community oft mit queeren Menschen in Verbindung gebracht wurde, wovon Außenstehende aber oftmals keine Ahnung haben.
Als nächstes fand ich unsere beiden ausgefransten Freundschaftsarmbänder, die wir selbstgeknüpft hatten und dann so lange getragen hatten, bis sie wortwörtlich nur noch am seidenen Faden hingen.
Dann fand sich noch der Hühnergott, ein Stein der natürlicherweise ein Loch besitzt und dem nachgesagt wird, Glück zu bringen in der Box, den Alice gefunden und mir geschenkt hatte.
Und zuletzt fand ich noch eine Leinwand in Miniformat, die Alice und ich gemeinsam bemalt hatten. Sie war schwarz mit vielen Sternen und in weiß stand darauf geschrieben „Friends Are Like Stars. Even If They’re Sometimes Invisible, They’re Always There“.
Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich mich daran erinnerte, dass das Alice Idee war. Sie musste schon zu dem Zeitpunkt gewusst haben, dass sie sich…
Fuck, war das schwierig.

Für einen Moment verschwamm das Bild vor meinen Augen, bevor ich es wieder schaffte mich zu fangen. Auch nach zehn Jahren war der Schmerz nicht weniger. Klar, manchmal konnten Wochen vergehen, ohne dass ich auch nur daran dachte, dass Alice tot war. Aber dann gab es Tage, da fühlte die Trauer sich so intensiv, so frisch an, als hätte ich Alice erst gestern verloren. Meine Finger zitterten, als ich sie nach den Briefen ausstreckte, doch ich konnte nicht genau sagen, ob es an der Kälte lag oder an den Emotionen, die mich überwältigten.

Meinen Brief machte ich zuerst auf. Es war eine bittersüße Erfahrung zu lesen, wie sich mein achtzehnjähriges Ich sich das Leben in zehn Jahren vorgestellt hatte. Ständig war die Rede von Alice und von einem Leben in einer WG und wie ich mich darauf freute Alice außerhalb dieser toxischen Bubble aufblühen zu sehen. Ich wollte Trauzeugin bei ihrer Hochzeit sein und dass unsere WG mit Regenbogenfarben gefüllt war. Den einzigen Wunsch, dem ich meinem jüngeren Ich hatte erfüllen können, war der Autorin zu werden und mir liefen Tränen über die Wangen, als ich das Leben bedauerte, dass ich mit Alice an meiner Seite hatte führen wollen.
Zitternd fuhr ich den vertrauten Schriftzug meiner Buchstaben nach und bedauerte mein jüngeres Ich für das, was noch auf siezukommen sollte. Ich atmete einmal tief ein, legte meinen eigenen Brief zur Seite und griff nach dem von Alice.

Liebe Mara,
ich weiß, ich weiß, wir sollten diese Briefe an unser Zukunftsich adressieren. Aber da mein Zukunftsich zu dem Zeitpunkt leider nicht mehr am Leben sein wird, adressiere ich den Brief lieber an dich.
An meine beste Freundin und den Grund, warum ich es überhaupt so lange hier ausgehalten habe, ohne durchzudrehen. Es tut mir so furchtbar leid, dass ich dir das antun werde. Ich weiß nicht, wann du diesen Brief lesen wirst. Ob du ihn wirklich zehn Jahre in der Zukunft liest oder schon vorher, was ich dir nicht verübeln könnte oder vielleicht sogar gar nicht, weil du zu wütend auf mich bist.
So oder so hoffe ich allerdings, dass du mir verzeihen kannst. Ich weiß, dass es unfassbar egoistisch ist dich in dieser lieblosen Hölle alleinzulassen, aber ich kann einfach nicht mehr. Die Todesdrohungen, die ich tagtäglich bekomme, verfolgen mich in meine Träume. Das was sie mit mir in diesem Konversionscamp angestellt haben, zu jeder Zeit.
Ich kann mein Leben nicht als Jemand leben, der ich nicht bin. Aber ich kann genauso wenig noch lange genug hier aushalten um offen zu sein wer ich bin. Ich bin so unglaublich müde vom Leben – nein vom Überleben. Meine eigenen Eltern sagen mir tagtäglich, dass ich eine Abnormität bin, die es nicht geben sollte. Wahrscheinlich macht es mich zu einem schwachen Menschen, dass ich einfach nachgeben will. Wenn ich dir von diesen Gedanken erzählen würde, würdest du mir wahrscheinlich Dinge sagen, wie dass ich jetzt nicht aufgeben kann. Oder dass ich alleine deshalb schon leben soll, damit die anderen nicht gewinnen. Das Problem ist, dass es mir mittlerweile nichts mehr bedeutete, ob sie gewinnen oder ich.
Sollen sie doch gewinnen, denn sie haben mir schon alles gestohlen. Meine Farben, meine Regenbögen, meine Identität, meine Entscheidungsfreiheit und meinen Konsens. Und in diesem Leben bin ich zu müde um sie mir zurückzuerkämpfen. Aber im nächsten Leben, schicke ich dir die Regenbögen.
In Glasscherben und Regentropfen.
In Ölpfützen und Regenpfützen.
In Schaufenstern und Rasensprengern. Ich möchte nur dass du weißt, dass du meine beste Freundin bist, bis in alle Ewigkeit. Und das nichts was du gemacht oder gesagt hättest, mich dazu hätte bewegen können, mich umzuentscheiden. Wenn du das hier liest, habe ich Frieden gefunden.
In Liebe
Alice

..................................................................

Dreimal dürft ihr raten,  was meine absoluten Lieblingstiere sind, seitdem ich denken kann...

Ich hoffe ihr habt nichts  Spektakuläreres von der Zeitkapsel erwartet, es ging mir vor allem darum Mara dabei zu helfen, mit ihrer Vergangenheit abzuschließen 😅. Wenn ich nicht sowieso schon weit über meinem eigentlichen Wortlimit gewesen wäre und diese Geschichte ja eigentlich nur eine Kurzgeschichte ist, hätte ich das hier noch ein bisschen mehr ausgebaut.  Ich hoffe euch gefällt es trotzdem.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top