21. Kapitel
Die Tränen, die mir die Wangen herunterliefen, fühlten sich siedend heiß auf meiner Haut an und ich wunderte mich, dass ich überhaupt noch welche übrighatte. Die Leute in dem Zug warfen mir schon komische Blicke zu, doch ich hatte nicht die Kraft dafür, mir darüber Gedanken zu machen.
Ich war Hals über Kopf von Deans Haus aufgebrochen und konnte nur hoffen, dass ich mit dem heillosen Chaos im Kopf, daran gedacht hatte, alles einzupacken. Winnie, der mich zum Bahnhof gebracht hatte, hatte mir die ganze Zeit besorgte Blicke im Rückspiegel zugeworfen und versucht mir zu entlocken, was vorgefallen war.
Doch ich hatte nicht sprechen können, denn mir tat alles weh. Meine Augen und mein Hals und mein Bauch vom vielen Weinen. Aber am meisten weh, tat mir mein Herz. Mein Herz, das noch in meiner Brust schlug, aber am liebsten wieder in Deans Hände springen wollte, in die ich es hineingelegt hatte, ohne es zu bemerken. Doch was mein dummes Herz nicht realisierte, war dass Dean derjenige war, der es gebrochen hatte. Dass er der Grund war, warum ich jetzt die Splitter aufsammeln musste, die in meinen Brustkorb pieksten und mir das Atmen erschwerten.
Wenigstens habe ich jetzt genug Inspiration, um die Heartbreakszene in meiner Romance zu schreiben, dachte ich bitter. Ein humorloses Lachen entfuhr mir und jetzt schauten mich die Leute um mich herum endgültig so an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich konnte es ihnen nicht wirklich verübeln. Ich musste komplett wahnsinnig aussehen mit meinen rotverheulten Augen und den Locken, die wahrscheinlich in alle Richtungen abstanden. Und dann fing ich auf einmal an zu lachen – kein Wunder, dass die Leute mich so anguckten.
Mit einem Mal hatte ich das starke Bedürfnis einfach zu Nala zu fahren und mich in ihren Armen auszuweinen. Doch Nala war hunderte von Kilometer weit entfernt und ich war auf dem Weg zu einem Ort, wo ich ganz sicher niemanden finden würde, bei dem ich mich ausheulen konnte. Die beste Alternative, die ich dazu noch hatte, war später Nala anzurufen, sobald ich mal einen Moment für mich hatte, aber das konnte ich schlecht hier im Zug machen, wenn ich den Leuten nicht noch mehr Anlass zum Starren geben wollte, weil ich heulte, wie ein Schlosshund.
Also biss ich meine Zähne zusammen und verband meine Airpods mit meinem Handy, um für die restliche Zugfahrt Nalas Playlist über mich hinwegspülen zu lassen und schloss meine Augen.
Goridges Bahnhof war noch genauso klein und hässlich, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Gut, vielleicht war er besser, als so mancher Bahnhof, auf dem man Angst hatte in eine schmutzige Nadel zu treten, aber dafür waren hier mit diesem Bahnhof ein paar so hässliche Erinnerungen verbunden, dass er mir gleich viel düsterer und abstoßender vorkam. Niemand stand am Bahnhof, um mich abzuholen – ich hatte auch niemandem Bescheid gesagt, dass ich kam. Nicht dass mich meine Eltern vom Bahnhof abgeholt hätten, wenn ich ihnen von meinem Besuch erzählt hätte, aber manchmal war es schön, so zu tun als ob. Wenn auch nur für einen Moment.
Ich hatte mich in einem Hotel, eine halbe Stunde außerhalb von Goridge eingebucht, weil ich unter keinen Umständen bei meinen Eltern schlafen würde. Deshalb befand ich mich zum zweiten Mal heute in einem Taxi und versuchte den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, den diese Parallele mir bescherte. Der Taxifahrer war ein griesgrämiger Mann, der bis auf die Nachfrage nach dem Ziel und schließlich den Betrag, den ich ihm schuldete, kein Wort mit mir wechselte. Mir sollte das recht sein, ich war sowieso nicht in der Stimmung für Smalltalk.
Stattdessen warf ich mich sobald ich eingecheckt hatte auf das Bett in meinem Hotelzimmer und nahm mir vor für den Rest des Tages einfach nicht mehr aufzustehen. Doch mein Handy vibrierte mit eintreffenden Nachrichten von Nala, die sich wahrscheinlich Sorgen machte, dass ich seit ein paar Stunden nichts mehr von mir hatte hören lassen. Weil ich nicht wollte, dass sich Nala ernsthaft Sorgen um mich machte, griff ich mit einem Seufzen nach meinem Handy und scrollte kurz durch die Nachrichten die von „Oh mein Gott, sag mir bitte dass zwischen euch was läuft“ bis hin zu „Wenn du mir nicht endlich antwortest, muss ich davon ausgehen, dass Dean in Wahrheit ein Serienmörder ist und glaube mir ihr werdet es echt uncool finden, wenn ich mit einer Axt vor Deans Haustür stehe, nur um herauszufinden, dass ihr in Wahrheit miteinander rumknutscht“ reichten.
Mit schwerem Herzen ließ ich meinen Finger auf den Anrufknopf sinken. Es klingelte nur ganz kurz, dann ging Nala auch schon an ihr Handy.
„Oh mein Gott endlich! Ich war kurz davor, die nächste Zugverbindung rauszusuchen und sei es auch nur um dir eine zu verpassen, weil du mir solche Sorgen bereitest! Du kannst doch nicht einfach stundenlang unerreichbar sein, wenn du bei einem fremden Typen bist“, sprudelte es direkt aus Nala heraus und auch wenn ich mich so gar nicht nach Lächeln fühlte, breitete sich ein warmes Gefühl bei mir in der Brust aus, bei dem Gedanken, dass ich Nala so wichtig war. Doch das Gefühl verschwand schnell wieder, als Nala einfach weiterredete: „Sag mir bitte, dass ihr nur die Zeit vergessen habt und ich wenn du zurückkommst, eine Hochzeit zwischen euch beiden planen kann“.
Jep, jetzt stiegen mir erneut die Tränen in die Augen, als die Erinnerungen an en heutigen Morgen mich mit brutaler Wucht erneut überrollten. Ich konnte ein Schniefen nicht unterdrücken und sofort hielt Nala auf der anderen Seite der Leitung in ihren Ausführungen inne, bevor sie mit diesem gefährlich ruhigen Tonfall fragte: „Mara? Weinst du etwa?“. Als ich nicht antwortete, sagte sie mit etwas festerer Stimme: „Ich schwöre dir Mara, wenn dieser Dean dir wehgetan hat, dann reiß ich ihm höchstpersönlich die Eier ab und serviere sie ihm zum Frühstück“.
Jetzt konnte ich meine Tränen erst recht nicht mehr zurückhalten, auch wenn ich mich kurz wunderte, wo ich die Tränenflüssigkeit noch hernahm. Und dann brach die ganze Geschichte aus mir hervor. Das Keksebacken, der Kuss, der Stromausfall, das Geheimnisse teilen, der Albtraum und wie schließlich alles in die Brüche gegangen war. Nala hörte mir geduldig zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen und das obwohl meine Erzählung völlig chaotisch war, ständig von Schluchzern und Hicksern durchbrochen wurde und ich mir die Hälfte der Zeit nicht einmal sicher war, ob meine Sätze überhaupt Sinn ergaben. Nachdem ich meine Erzählung beendet hatte, war es eine ganze Weile still auf der anderen Seite. Ich erwartete, dass Nala, wie üblich all die Redflags aufzählte, die ich vorher ignoriert hatte, mir dann sagte, dass ich sowieso keinen Typen brauchte und dann noch ein bisschen auf Männer und das Patriarchat schimpfte. Oder dass sie mich tröstete und mir aufzeigte, dass ich etwas Besseres verdient hatte, auch wenn mein dummes Herz Dean immer noch für diesen tollen Typen hielt, obwohl er diese Dinge zu mir gesagt hatte.
Doch Nala sagte nichts dergleichen, sondern seufzte nur einmal tief.
„Mara, du weißt, dass ich dich unglaublich liebhabe und normalerweise die Erste bin, die ganz vorne steht, um dich vor diesen Arschlöchern zu beschützen, die du normalerweise anziehst“, begann sie in einem behutsamen Tonfall und ich ahnte bereits, dass was jetzt kommen würde, ich nicht unbedingt hören wollte. „Verdammt ich bin meistens sogar wütender als du und würde dir ohne zu zögern, dabei helfen die Leiche von einem deiner Exfreunde zu verbuddeln, wenn du das wollen würdest. Aber in diesem Fall… denkst du vielleicht nicht, dass du ein wenig überreagiert hast?“.
Das versetzte mir einen scharfen Stich und meine Mauern schossen blitzschnell hoch, um mich zu verteidigen, doch Nala kannte mich einfach zu gut, denn sie fuhr schnell fort: „Bevor du jetzt aufbraust, lass mich bitte ausreden, okay? Es war definitiv nicht in Ordnung, was Dean am Ende zu dir gesagt hat. Auch wenn ein klitzekleines bisschen Wahrheit in dem steckt, was er gesagt hat, war die Art wie er es gesagt hat echt uncool und ich kann verstehen, dass es dich verletzt hat, vor allem nachdem du dich ihm gegenüber so verletzlich gezeigt hast. Ich weiß, wie schwer dir das fällt und dir diese Sachen so kurz danach ins Gesicht zu werfen, ist echt ein mieser Move von ihm gewesen, für den ich ihm, falls ich ihn jemals kennenlernen sollte, definitiv in den Hintern treten werde. Aber Mara, als deine beste Freundin ist es meine Pflicht dir auch ein paar unbequeme Fragen zu stellen, was diese Sache betrifft. Wenn du ganz ehrlich zu dir selbst bist, war es wirklich Dean, den du vor deinen Augen gesehen hast, als du erfahren hast, dass er dir nicht direkt Bescheid gegeben hat, dass der Schneesturm vorübergezogen ist? Oder hast du vielleicht ein paar Erfahrungen, die du in der Vergangenheit gemacht hast, deine Sicht auf, die Situation trüben lassen?“.
Das Gesicht von meinem Ex, huschte zum zweiten Mal heute durch meinen Kopf und ich schwieg, weil Nala, den Nagel so ziemlich auf den Kopf traf. Ich mochte es zwar nicht unbedingt hören, wenn Nala harte Wahrheiten austeilte, aber dass hieß nicht, dass ich nicht sehen konnte, dass eine gewisse Logik in ihren Argumenten steckte. Mein Schweigen schien sie als Antwort zu deuten, denn sie fuhr fort: „Ich weiß, du hast in der Vergangenheit echt so einige Erfahrungen mit Arschlöchern gemacht, denn ich war dabei. Und genau deshalb weiß ich, dass ein Funken Wahrheit hinter Deans Aussage, dass du wegrennst steckst. Ich liebe dich über alles, aber ich war bei jedem gebrochenen Herzen dabei, das du dir eingefangen hast und es ist kein Wunder, dass dein Fluchtinstinkt einsetzt, sobald du denkst, dass etwas zu gut ist, um wahr zu sein. Du magst dir damit vielleicht den ein oder anderen schlimmeren Liebeskummer bewahren, aber… Willst du wirklich dein ganzes Leben lang immer nur wegrennen, sobald dein Herz in Gefahr sein könnte? Du bist eine Romanceautorin verdammt nochmal. Man müsste doch meinen, dass gerade du weißt, dass man sich nur selbst unglücklich macht, wenn man sein Herz vor allen Chancen auf Liebe verschließt. Irgendwann musst du aufhören, Liebe immer nur durch die Augen deiner Charaktere zu erleben. Du kannst nicht ewig in deinen Geschichten leben“.
Mein Mund klappte auf und zu, wie bei einem Cartooncharakter, während ich versuchte eine adäquate Antwort auf das zu finden, was Nala gerade gesagt hatte, doch ich war sprachlos. „Verdammt, wann bist du bloß so weise geworden?“, fragte ich mit beinahe piepsiger Stimme, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte. Nala lachte leise und erwiderte: „Weißt du, ich habe letztens dieses Romancebuch von einer Freundin gelesen, da stand sowas ähnliches drin. Solltest du echt mal lesen, da stehen ein paar schlaue Sachen drin“.
„Willst du mir etwa sagen, dass du mir gerade meine eigenen Ratschläge, um die Ohren gehauen hast?“, hakte ich ungläubig nach.
„Jep. Du solltest mal öfter auf deinen eigenen Rat hören. Du schreibst nämlich meistens ganz schön clevere Dinge“, behauptete Nala und ich lief ein wenig rosa an.
„Und jetzt schreib Dean gefälligst, damit ich meine Hochzeitsfantasien spinnen kann“, befahl sie mir dann.
Ein betretenes Schweigen breitete sich aus, als ich überlegte, wie ich Nala am besten beibrachte, dass das nicht so einfach war, wie sie es sich vorstellte.
„Mara? Sag mir bitte, dass du Deans Nummer hast“, sagte meine beste Freundin in einem warnenden Tonfall und ich biss mir auf die Zunge.
„Wie kann es bitte sein, dass ihr keine Nummern ausgetauscht habt?“, fragte sie ungläubig und ich konnte beinahe ihr Gesicht vor mir sehen, wie sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen und weit aufgerissenen Augen tadelnd anschaute.
„Wir hatten halt… andere Dinge im Kopf“, nuschelte ich bevor ich kleinlaut hinzufügte: „Außerdem weiß ich gar nicht, ob Dean überhaupt noch etwas von mir wissen will. Ich habe selbst ein paar ziemlich verletzende Dinge in der Hitze des Moments gesagt“.
Nala schnaubte: „Unsinn. Aus deinen Erzählungen hat man ziemlich gut herausgehört, wie verknallt der Typ in dich ist. Glaub mir, in der Hinsicht hast du nichts zu befürchten“.
Ich war mir da nicht ganz so sicher, wie Nala, aber ich beschloss nicht weiter darauf einzugehen. Stattdessen bekannte ich: „So oder so bin ich glaub ich noch nicht ganz bereit dafür mich mit Dean auseinandersetzen. Erstmal musss ich das Kapitel Alice und Goridge ein für alle Mal abschließen. Dean hat recht. Ich bin schon zu lange hiervor weggelaufen“.
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Manchmal braucht man eine beste Freundin, die einem ein bisschen den Kopf geraderückt, wenn man vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen kann.
Jetzt wird es aber erstmal Zeit für Mara sich den Geistern ihrer Vergangenheit zu stellen.
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