19. Kapitel

TW: In diesem Kapitel wird der Suizid in einem Flashback etwas genauer beschrieben. Wer das nicht lesen will, sollte den kursiv unterlegten Teil des Kapitels überspringen.

Tränenreiche Erzählungen von traumatischen Erlebnissen zehrten ziemlich viel Energie. Es fiel mir immer schwerer klare Gedanken zu fassen, während Deans Hand beruhigende Kreise auf meinem Rücken zeichnete.

Dean schien ebenfalls zu merken, dass mein Verstand nur noch sehr langsam arbeitete und ich nicht mehr wirklich in der Verfassung war noch ein langes Gespräch darüber zu führen, was für eine abgefuckte Kindheit ich hatte. Ich bekam nur am Rande meines Bewusstseins noch mit, wie Dean mich sanft in seine Arme hob und mich nach oben trug.
Erst als er mich sanft auf dem Bett in dem Gästezimmer ablegte und seine Körperwärme von mir abfiel, kämpften sich meine Sinne langsam wieder in die Welt der Wachenden zurück.
Müde blinzelte ich Dean an, der sich nach kurzem Zögern langsam über mich beugte und mir einen sanften Kuss auf die Stirn gab.
„Schlaf gut Mystery Girl“, flüsterte er leise und schloss dann die Tür hinter sich, sodass ich allein in dem dunklen Zimmer zurückblieb.
Alleine mit meinen Gedanken zurückbleib, die mit einem Mal wieder auf Hochtouren liefen, jetzt da Dean seine Wärme und das Gefühl von Geborgenheit mit aus dem Raum genommen hatte.

Ich hätte gerne die kleine Nachttischlampe eingeschaltet, um meinen Gedanken ein wenig die Macht zu nehmen. Gedanken schienen immer viel größer, bedeutender und aussichtsloser in der Dunkelheit. Doch der Stromausfall sorgte immer noch dafür, dass sich nichts tat, als ich probehalber den Knopf der Lampe einmal an und wieder ausschaltete. Mit einem Seufzen griff ich nach meinen Schlafsachen und entschied mich dafür, mich wenigstens bettfertig zu machen, in der Hoffnung, dass die vertraute Routine meine Gedanken ein bisschen beruhigen würde.

Doch als ich einige Minuten später wieder in dem Bett lag, war ich noch wacher als zuvor. Unruhig drehte ich mich hin und her, in der Hoffnung, dass die richtige Schlafposition mir den ersehnten Schlaf bringen würde, doch mein Kopf konnte einfach nicht aufhören mir alte Erinnerungen zu zeigen. Jetzt wo ich es einmal zugelassen hatte, war den auf mich einflutenden Erinnerungen kaum Einhalt zu gebieten. Über meine unruhigen Gedanken, schlief ich schließlich doch irgendwann ein.

Da war ein unruhiges Gefühl in meinem Bauch. Ein nervöses Flattern in der Brust und ein Gewicht, das meinen Körper nach unten zog und mir mitteilte, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Ich saß im Klassenzimmer, im Erdkundeunterricht, doch während Mrs. Jones über tektonische Erdplattenverschiebung schwadronierte, waren meine Gedanken ganz woanders. Nervös trommelte ich mit den Fingerspitzen auf dem Tisch, während ich mir logische Erklärungen dafür einfallen ließ, dass der Platz neben mir heute leergeblieben war. Möglichst unauffällig zog ich mein Handy aus der Hosentasche und warf unterhalb der Tischplatte einen schnellen Blick darauf. Doch wie schon vor ein paar Minuten, zeigte mir das Display keine neuen ungelesenen Nachrichten an. Verdammt wo war Alice nur?
Die Szenerie wechselte mit einem Mal und bevor ich mich darüber wundern konnte, wie ich so schnell aus dem Klassenraum, auf die vertraute Straße gekommen war, in der Alices Haus lag, verschwammen die Erinnerungen an die vorherige Szene bereits.
Im Eilschritt bewegte ich mich auf das weiße Haus mit den roten Giebeln zu, die Unterrichtsstunden, die ich aufgrund dieser dunklen Ahnung verpasste, nur ein Hintergrundrauschen in meinen Gedanken.
Meine Eltern würden mir den Hausarrest meines Lebens verpassen, wenn sie das herausfanden – und das würden sie in dieser Kleinstadt definitiv – aber damit konnte ich leben, solange sich meine dunklen Gedanken bloß beruhigen ließen. Wahrscheinlich reagierte ich über – immerhin hatte Alice gestern noch strahlend mit mir Pläne ausgemacht, für den Augenblick, wenn wir in zehn Jahren, die gerade frisch vergrabene Zeitkapsel, wieder ans Tageslicht befördern – doch die Panik ließ sich nicht so einfach abschütteln.
Wenn die beste Freundin nach einem Sommer in einem fucking Brainwashcamp nach Hause kam und kaum wiedererkennbar war, ließ sich diese unterschwellige Angst wohl nicht abstellen.
Erneut verschwamm die Szene vor meinen Augen und ich stand in dem zweiten Stockwerk des Hauses, in dem vertrauten Flur. Von den Wänden starrten mich verschiedene Versionen von Alice an. Es waren nicht viele Fotos von ihr, die dort hingen, aber alle hatten eins gemeinsam: Ihr Lächeln war völlig erzwungen. Das war die Version von Alice, die ihre Eltern gerne nach außen präsentierten: Das brave Mädchen am Klavier, das stets Jahrgangbeste war und welches im Gegensatz zu mir noch nie eine Schuluniform ersetzen lassen musste, weil die Flecken sich nicht mehr herauswaschen ließen.
Ich ging schon normalerweise nicht gerne durch den Flur, in dem diese falsche Version von Alice in Bilderrahmen gezwängt von der Wand auf mich herabschaute, aber heute schienen die Bilder noch gezwungener auf mich zu wirken, wie ein schlechtes Omen.
Das Haus war verschlossen gewesen, doch das war kein Hindernis für mich, die schon seit Jahren wusste, wo die Ersatzschlüssel versteckt waren und schon unzählige Male trotz einem von Alices Eltern auferlegten Kontaktverbot in dieses Haus geschlichen war. Ein schneller Blick in Alices Zimmer ließ mich fassungslos zurück und versetzte mich in höchste Alarmbereitschaft. Von Alice war nichts zu sehen, doch ihre Spuren hatte sie definitiv in dem Zimmer hinterlassen.
Es war ein Bild der absoluten Zerstörung, das sich mir bot. Umgekippte Stühle, ausgekippte Farben über dem Boden, zerrissene Buchseiten, auf denen nur noch Ansätze von Psalmen zu erkennen waren und über dem ganzen Chaos lag wie ein Lichtfleck eine Regenbogenfahne. Ich erkannte sie sofort, als diejenige die ich heimlich für Alice gekauft hatte, an meiner Unterschrift, die ich darauf gekritzelt hatte. Sie war das Einzige, das nicht zerstört war und doch war sie das, was mir an dem Anblick am meisten Angst einjagte. Alice würde nie riskieren sie ihren Eltern zu offenbaren und damit der sicheren Zerstörung anheimfallen zu lassen. Es sei denn…
Wie in Trance ging ich zu der Fahne hinüber und hob sie auf.
Sie würde nicht…
Sie konnte nicht…
Die Schritte, die ich von Alice Zimmer zu dem Bad machte, waren aus meiner Erinnerung gelöscht. Nur vage nahm ich wahr, dass die Stimme, die Alice anflehte, die Tür aufzumachen mir gehörte. Diese beinah unmenschlichen Laute, die ich da hörte, kamen sie etwa auch von mir? Egal, das Einzige was zählte, war das Holz unter meiner Hand, gegen das ich meine Fäuste trommelte, das einfach nicht nachgab. Ich schlug weiter darauf ein, doch es gab einfach nicht nach, selbst als meine Hände anfingen zu bluten.  Mit der Schulter warf ich mich gegen die Tür, aber das verdammte Holz gab einfach nicht nach. Es gab nicht nach und es war so still hinter der Tür.
Wieso antwortete Alice mir nicht?
Die Erinnerung an das Splittern von Holz, an die Tür die unter dem festen Schlag von dem unbekannten Gegenstand in meiner Hand nachgab, ist ebenfalls nur verschwommen.
Wo hatte ich ihn her; ich wusste es nicht. Auf einmal war ich in dem Bad.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war unscharf, ich konnte mich nicht erinnern, doch sie sah beinahe friedlich aus, wie sie da so in dem Wasser schwebte.
Wäre das Wasser nicht rot, rot wie die Farbe meiner Haare, rot wie das Blut, dass in ihren Adern, nein aus ihren Adern strömte.
Ein Wimpernschlag später war ich an ihrer Seite.
Wie war ich hierhergekommen?
Fuck, ich musste ihren Puls finden. Ich musste einfach, denn sie konnte nicht tot sein, denn sie war meine beste Freundin, sie würde mich nicht verlassen, sie durfte nicht. Blut färbte meine Hände.
War es meines, war es ihres, war es unseres?
Wir bluteten sowieso von den gleichen Wunden, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise. Ich wusste es nicht. Ich wusste gar nichts mehr außer, dass ich ohne sie nicht leben konnte. Ich musste ihren Puls finden.
Das Blut war überall, es lief meine Wangen runter.
Nein, das war nicht richtig, das waren salzige Tränen, aber warum waren sie rot? Alice… Alice. Keine Ahnung, ob ich ihren Namen laut aussprach oder nur dachte, in der Hoffnung, dass sie mich hören konnte, wo auch immer sie war. Mara.
Hatte ich den Krankenwagen gerufen? Ich konnte mich nicht erinnern, aber da war eine Stimme, die meinen Namen rief, also musste ich es getan haben.
Mara.
Da war die Stimme erneut, aber ich würde Alice nicht loslassen.
Mara wach auf!

Keuchend schreckte ich aus dem Schlaf hoch. Alles war nass und glitschig.
War das Blut an meinen Händen? Ich musste es abwaschen.
Oh Gott, wieso war alles so dunkel?
Wo war Alice?
Warme Hände schlossen sich um meine Handgelenke und erst jetzt bemerkte ich wie stark sie zitterten. Gehetzt ließ ich meinen Blick nach oben schießen, zu der Person, die mich festhielt. Das erste was ich bemerkte, war der vertraute Geruch, der durch meine Panik drang und mich erdete.

Ich kannte die Person, sie roch nach Sicherheit. Das nächste was mein Verstand erfasste, war ein besorgt dreinblickendes Gesicht, mit grauen Augen, die weit aufgerissen waren und Locken, die platt an den Kopf gedrückt waren, wie bei jemandem der gerade erst aufgestanden war. Dean, lieferte mein Gehirn mir den passenden Namen, als es langsam wieder online kam. Ein Blick auf meine Hände verriet mir, dass das vermeintliche Blut nur eine übermäßige Menge an Schweiß war, die ich in meinem Albtraumzustand produziert hatte.
Das hier war real. Ich war 28 Jahre alt und Alice war seit 10 Jahren tot und ich… hatte anscheinend Dean mit meinem Albtraum aufgeweckt.
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss, bei dem Gedanken. Scheiße, ich war als gestrandeter Gast hier und dann brachte ich Dean auch noch um seinen Schlaf.

„Es… tut mir so leid. Ich habe keine Ahnung… es ist schon so lange her, dass ich meinen letzten … Fuck, jetzt habe ich dich aufgeweckt. Es tut mir so leid“. Unaufhaltsam strömten die Worte einfach aus mir raus. Ich wusste selbst, dass ich blabberte, doch ich konnte mich selbst nicht zum Aufhören bringen.
Da war dieser Drang mich zu erklären, mich zu entschuldigen, der durch die lingernden Gefühle und Bilder, die der Albtraum mit sich gebracht hatte, nur noch verstärkt wurde.
Dean ließ meine Hände los, um stattdessen mit beiden Händen mein Gesicht zu umfassen und mich eindringlich anzusehen. Allein schon der Blick hätte gereicht um mich zum Verstummen zu bringen, doch zusätzlich lag der Daumen seiner rechten Hand auf meiner Unterlippe, was meinen Gedankenfluss effektiv zum Erliegen brachte.
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du dich zu oft entschuldigst? Was hältst du davon, wenn ich das nächste Mal wenn du dich für irgendeinen Unsinn entschuldigst, einfach deine Entschuldigungen wegküsse, hm?“.

Wenn möglich wurde ich noch röter und schluckte bei der Vorstellung. Ich konnte nicht sagen, dass ich die Idee schlecht fand. Das mochte allerdings daran liegen, dass ich jede Situation, die Deans Lippen auf meinen involvierte für eine ausgezeichnete Idee hielt. Dean warf mir ein verschmitztes Grinsen zu, als ich nicht auf seine Frage antwortete.

„Dich aus dem Konzept zu bringen, ist glaube ich eine meiner neuen Lieblingsaktivitäten“, murmelte er dann, während er mit einem versonnenen Lächeln meine Lippen anstarrte. Das war nicht so wirklich hilfreich dabei einen klaren Gedanken zu fassen. Doch nach ein paar Sekunden wurde Dean wieder ernst.
„Geht es dir wieder besser?“, hakte er mit sanfter Stimme nach.

Mein erster Instinkt war es, ein enthusiastisches Ja mit einem Lächeln rauszuquetschen, damit er sich keine Sorgen machte, doch etwas ließ mich innehalten. Vielleicht war es das ehrliche Interesse und die Besorgnis, die mir aus seinen Augen entgegenblickte oder es war die Art wie sein Daumen jetzt sanft meine Wange streichelte, aber ich brachte es nicht über mich ihn anzulügen.
„Nicht wirklich“, gab ich mit von unterdrückten Emotionen heiserer Stimme zu. Seine Flirtversuche hatten mich zwar kurz von den im mir schwelenden Gefühlen, die der Albtraum in mir geweckt hatte, abgelenkt, aber diese kamen jetzt mit voller Wucht zurück.

„Kannst… Kannst du mich vielleicht einfach in die Arme nehmen?“. Es kostete mich einige Mühe diese Frage zu stellen. Diese Verletzlichkeit hatte ich schon lange niemand anderem als Nala gegenüber gezeigt. Doch Dean bewies mir direkt, warum ich es ihm gegenüber zuließ. Ohne zu zögern, richtete er sich aus seiner hockenden Position auf und setzte sich neben mich auf den Bettrand. In einer einladenden Geste öffnete er seine Arme und ich verschwendete keine Zeit mich in seine Umarmung fallen zu lassen.

Sobald der vertraute Geruch mich umgab und Deans Wärme durch seine Klamotten zu mir durchdrang, spürte ich wie ein Teil der Anspannung von mir abfiel. Mit meinem Ohr, das auf seiner Brust lag, konnte ich seinem stetigen Herzschlag lauschen und spürte, wie das Gefühlschaos in mir nach und nach ebenfalls abnahm.
„Danke“, flüsterte ich schließlich an seiner Brust und spürte, wie sich Deans Arme, wie als Antwort noch stärker um mich schlangen, bevor er mich losließ, damit ich mich aufrichten konnte. „Willst du darüber reden? Oder soll ich dich alleine lassen?“, erkundigte sich Dean und ich zögerte nur eine Sekunde bevor ich erwiderte: „Kannst du vielleicht einfach hierbleiben? Ich bin noch nicht bereit, darüber zu reden, aber ich möchte auch nicht alleine sein“. Ich sah für einen kurzen Moment einen Ausdruck Überraschung über sein Gesicht fliegen, doch er fing sich schnell wieder.
„Wenn du das willst“, vergewisserte er sich mit einem fragenden Ausdruck bei mir und auf mein Nicken, schwang er seine Beine aufs Bett. Ich krabbelte neben ihn auf die andere Seite des Betts und Dean zog die Decke, die ich in der Nacht von mir weggestrampelt hatte wieder heran und deckte uns beide damit zu.

Mit einem Mal hatte ich Herzklopfen, als ich realisierte, dass ich gerade wirklich mit Dean das Bett teilte. Während ich noch versuchte den Mut aufzubringen näher an ihn heranzurutschen, schlang er mit einem Mal einen Arm um meine Hüfte und zog mich in einer flüssigen Bewegung zu sich. Ich konnte ein leises Quietschen nicht unterdrücken und sofort erkundigte Dean sich: „Ist das okay so, für dich?“.
„Mehr als okay sogar“, gab ich zu und spürte wie sich eine angenehme Wärme in meinem Bauch ausbreitete. Blindlings griff Dean hinter sich und schaltete die Nachttischlampe aus. Das letzte was ich mitbekam, war ein Paar Lippen, das einen Kuss auf meinen Hinterkopf drückte, bevor ich in einem traumlosen Schlaf versank.

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Wer mag nicht den Albtraum Trope, nachdem die Protagonistin nicht mehr so gerne allein sein möchte?  Ich bin ein sehr großer Fan, muss ich zugeben. Ich hoffe übrigens, dass ich den Flashback halbwegs realistisch rübergebracht habe und mit einem Traum verwoben  habe .

Im nächsten Kapitel wird alles besser, oder wird es? 😈

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