18. Kapitel

TW: Dieses Kapitel enthält ein paar Themen, die eventuell triggernd sein können. Wer sich hier angesprochen fühlt, sollte zuerst noch einmal nach unten scrollen, wo die spezifischen Trigger gelistet werden. Wer das Kapitel lieber skippen möchte, kann sich für eine neutraler Zusammenfassung an mich wenden. Bitte passt auf euch auf beim Lesen ♥️.

Meine Hand zuckte unwillkürlich in Deans und verriet meine Anspannung, doch ich zog sie nicht zurück. Ich atmete tief ein und wappnete mich für die Frage, die Dean stellen würde.
„Warum kann ich jedes Mal praktisch dabei zusehen, wie deine Mauern wieder hochfahren, wenn die Sprache auf deinen Besuch in deiner Heimatstadt kommt?“, fragte Dean leise und Worte, die so sanft ausgesprochen worden, sollten mich nicht mit einer solchen Wucht treffen können.
Ich hatte doch gewusst, dass Dean mich darauf ansprechen würde. Und trotzdem, fühlte es sich jedes Mal wie ein Schlag in meine Magengrube an, darüber nachzudenken warum ich seit 8 Jahren keinen Fuß mehr in diese gottvermaledeite Stadt gesetzt hatte. Sollte ich nicht dankbar sein, dass ich meine Eltern noch hatte?
Sollte ich mich nicht freuen, mit den Menschen zusammenzukommen, die mich in die Welt gesetzt und großgezogen hatten?
Sollte ich nicht ein warmes Gefühl im Bauch bekommen, wenn ich an meine Kindheit dachte, sowie wenn Dean mir von seiner erzählte?
Stattdessen war da dieses bittere Ziehen in meiner Brust, dieses schmerzliche Brennen in meinem Hals, dieser rasende Schmerz, wenn ich an diesen Ort dachte und all die Erinnerungen, die er barg.

Ich ballte meine freie Hand zu einer Faust und öffnete sie wieder, während ich versuchte meine Gefühle so weit unter Kontrolle zu bekommen, dass ich Dean auf seine Frage antworten konnte. Fuck, war das gruselig, sich jemandem zu öffnen, wenn man sich so verletzlich fühlte, wie ich mich in diesem Moment. Dafür, dass es mein Job war mit Worten zu spielen, fielen mir gerade verdammt wenige ein.
Ich schluckte, um meinen trockenen Mund loszuwerden und setzte dann schließlich an: „Ich habe seit acht Jahren keinen Fuß mehr, in die Stadt gesetzt, die ich mein Zuhause nennen sollte. Und wenn es nach mir ginge, würde das auch so bleiben“.
Meine Stimme klang fremd in meinen eigenen Ohren. Gepresst und dünn. Ein bisschen zu hoch und trotzdem irgendwie tonlos. Ich wollte aus Gewohnheit mein Handgelenk umklammern, doch dann erinnerte ich mich daran, dass meine andere Hand momentan noch in Deans lag. Dieser drückte meine Hand gerade, als spürte er meine Aufgewühltheit.

Sobald man einmal angefangen hatte, war es gar nicht mehr so schwer weiterzureden, wie ein Pflaster abreißen.
„Meine Kindheit sah ein wenig anders aus, als deine. Während das Wort Kleinstädter, für dich eine Gruppe von Menschen umfasst, die zwar ihre Nasen zu viel in die Angelegenheiten anderer stecken, aber dafür hinter dir stehen, ohne dass du überhaupt um Hilfe fragen musst, ist der Begriff für mich mit anderen Erinnerungen behaftet. Goridge ist eines von diesen Kleinstädtchen, in denen alle super religiös sind und dich dafür verurteilen, wenn du nicht denkst, dass es dein einziger Zweck im Leben ist Gott zu dienen. Dort wo ich herkomme verbreiten sich böse Gerüchte über einen, wie eine Plage und genauso wie eine Plage wird man gemieden. Meine Eltern…“.
Ich hielt einen Moment inne und schloss meine Augen.
„Meine Eltern passten ziemlich gut dahin. Mein Vater ist neben seinem Glauben, der schon fast an religiösen Fanatismus grenzt, auch sonst ziemlich konservativ eingestellt. Traditionelle Rollen- und Familienbilder und all das. Du weißt schon: Frauen sollten gesehen und nicht gehört werden. Ich verdiene das Geld, dass euch das Brot auf den Tisch ringt, also gilt was ich sage“, machte ich ihn nach und stieß ein bitteres Lachen aus.
Ein erneuter Druck von Deans Hand ermutigte mich dazu weiterzureden.

„Meine Mutter ist nicht ganz so tief in dem religiösen Fanatismus gefangen, aber sie hat sich meinem Vater auch nicht entgegengestellt. Sie hat viel zu viel Angst vor der Verurteilung durch unsere Nachbarn, um etwas anderes zu machen, als brave Hausfrau zu spielen. Es war also nicht gerade das schönste Umfeld, um aufzuwachsen, vor allem als Mädchen, ohne einen eingebauten Filter zwischen Gehirn und Mund. Weil als Frau eine eigene Meinung zu haben, die nicht aus der Bibel kopiert wurde? Das war unnatürlich“.
Dadurch dass mein Rücken an seinem lehnte, merkte ich die Anspannung, die ihn erfasst hatte. Doch er hatte offensichtlich nicht vor mich zu unterbrechen, um ihr Luft zu machen, wofür ich ihm dankbar war. Ich lehnte meinen Kopf ein wenig nach hinten, bis unsere Hinterköpfe sich ebenfalls berührten und ließ die Luft entweichen, die sich in mir angestaut hatte.

Als ich weitersprach, schlich sich das erste Mal, seit ich angefangen hatte zu erzählen, ein Lächeln auf mein Gesicht. „Der einzige Lichtblick in diesem toxischen Umfeld war Alice. Meine beste Freundin, die immer hinter mir stand, mich auch gegen die fiesesten Kommentare verteidigte und sich auch dann weigerte, mich zu ignorieren, wenn jeder andere Mensch in dieser vermaledeiten Stadt mich wie Luft behandelte. Wir sind durch Dick und Dünn gegangen und ich dachte immer, wenn die Freundschaft mit Alice nicht hält, bis wir alt und grau sind, dann wird niemals eine Beziehung halten, die ich eingehe“.

Das schmerzhafte Ziehen in meiner Brust war zurückgekehrt und ich musste einmal kräftig schlucken, um den Kloß in meiner Kehle soweit loszuwerden, dass ich weiterreden konnte.
„Natürlich, war das nicht gerade vorteilhaft für Alice mich zu verteidigen. Ich war das schwarze Schaf, das Kind vor dem die anderen Eltern die Kinder warnten, weil ich so einen schlechten Einfluss hatte. Mein Status als schwarzes Schaf wurde erst ersetzt, als Alice sich als lesbisch outete. Noch schlimmer als eine Frau, die eine eigene Meinung hat? Eine Frau, die es wagt, sich in die ‚falsche‘ Person zu verlieben. Sie hat sich nicht einmal öffentlich geoutet. Ein Gespräch zur falschen Zeit, am falschen Ort hat gereicht, damit sich jemand das Recht herausnahm, Alices Sexualität öffentlich zu machen und sie der Verurteilung und Homophobie von Goridge auszusetzen“.

Wenn mein Leben vorher grauenvoll war, dann war Alices Leben nach ihrem unfreiwilligen Outing die Hölle. Während ich nur ignoriert und mit verächtlichen Blicken gestraft wurde, wurde Alice beschimpft regelrecht bestürmt mit Versuchen, sie zu bekehren. Ihre Eltern haben versucht eine fucking Dämonenaustreibung bei ihr durchzuführen, nach der Alice für zwei Wochen völlig verstört durch die Gegend gelaufen ist und jede unerwartete Bewegung sie zusammenzucken ließ.
Ich tat mein Bestes sie abzuschirmen, so wie sie es bei mir getan hatte, aber als schwarzes Schaf hatte ich nicht gerade viel Einfluss bei den Leuten. Das Einzige was ich tun konnte, war ihr meine Unterstützung und Akzeptanz anzubieten.

Zu dem Zeitpunkt hatte ich gelernt, dass ich leider komplett hetero war. Wenn ich auch nur das winzigste bisschen bi gewesen wäre, hätte ich nicht gezögert, die konservativen, engstirnigen Menschen so richtig zu provozieren. Nicht das ich nicht fand, das Frauen zu den schönsten Wesen auf dieser Erde gehörten, aber da war keine Anziehung auf diese Art. Anscheinend beschränkte sich meine Anziehung auf Arschlöcher, die mir das Herz brachen. Aber auch so dachten viele Leute, dass ich auch auf Frauen stand, denn wieso sonst, sollte ich diese „Unnatürlichkeit“ unterstützen? Und ich machte mir nicht die Mühe die Leute zu korrigieren. Sollten sie doch denken, dass Alice und ich ein Paar waren. Sie war meine platonische Seelenverwandte und wenn auch nicht auf romantische Weise, liebte ich sie.

„Ihre Eltern schickte sie über die Sommerferien in eins von diesen biblischen Konversionscamps. Eins von der traumatischen Sorte, wo man nach allen Regeln der Kunst einer Gehirnwäsche unterzogen wird. Ich habe meine Eltern angefleht mich mit ihr zu schicken, damit sie nicht alleine sein musste, während sie sich Tag für Tag anhören musste, dass ihre Liebe falsch war. Dass sie falsch war. Stattdessen gaben meine Eltern mir Hausarrest und sperrten mich mehr oder weniger ins Zimmer ein und ließen mich nur aus dem Haus um sonntags in die Kirche zu gehen, weil das durfte ich natürlich unter keinen Umständen verpassen“.
Ich stieß ein bitteres Schnauben aus und drückte Deans Hand ein wenig fester, während ich mich für den schlimmsten Teil der Geschichte wappnete.

„Als Alice von dem Camp zurückkam, habe ich kaum etwas von meiner besten Freundin wiedererkannt. Sie war wie verwandelt, nur noch ein Schatten ihrer selbst. Ich konnte sie kaum dazu bewegen das Haus zu verlassen. Und ihr Lachen… Diese verdammten Schweine, haben ihr Lachen gestohlen. Sie hatte das ehrlichste Lachen auf der Welt. Ihr war es immer egal, welche Blicke sie abbekam, wenn sie lachte und wenn sie es tat, dann immer aus vollem Herzen. Und ich habe es nicht einmal geschafft ihr ein Lächeln abzuringen“.

Ich sog scharf die Luft ein, um zu verhindern, dass das Schluchzen, das irgendwo in meiner Kehle saß, meinen Mund verließ, während ich mich an ihr Lächeln, ihre Lebensfreude erinnerte. „Und dann wurde es mit einem Mal besser. Ich war zu froh, dass meine beste Freundin nach Monaten langsam wieder zu mir zurückkam, um die Warnzeichen zu sehen“.
Um zu sehen, dass ihr Lachen immer ein wenig zu schnell kam, ihr Enthusiasmus ein wenig zu schrill war und ihre Umarmungen zu fest waren, als würde sie sich einprägen wollen, wie es sich anfühlte gehalten zu werden.

„Der Grund, warum ich nach all der Zeit wieder zurückkehre, ist das Versprechen, das ich ihr gegeben habe. Wir haben damals Zeitkapseln vergraben mit Briefen an unsere Zukunftsichs und ich musste ihr versprechen, dass wir sie zehn Jahre später ausgraben würden“.
Wenn ich gewusst hätte, dass sie nie vorhatte alt genug zu werden, um sie gemeinsam mit mir auszugraben, hätte ich dieses Versprechen nicht so leichtfertig vergeben. Sie hatte genau gewusst, dass sie nicht an meiner Seite sein würde, hatte gewusst, was sie mir damit antun würde.
„Nicht einmal eine Woche später hat sie sich das Leben genommen“, sage ich tonlos und kann nicht fassen, dass diese Worte das ausdrücken sollen, was passiert ist. Wie könnten so kleine Worte auch den Schmerz halten, der mit ihnen verbunden ist? Wie sollten sie das Loch in meiner Brust erklären, das sich an dem Tag aufgetan hat, als ich sie verloren habe? Sie erzählten nichts von den Albträumen, die ich noch immer hatte, aus denen ich aufwachte, mit der festen Überzeugung ihr Blut an den Händen kleben zu haben. Sie erzählten nichts von der grauenvollen Zeit nach ihrem Tod, in der ich allein war, in dieser Stadt voller verurteilender Menschen, die flüsterten, dass es vielleicht das Beste war, dass sie gestorben war. Dass Gott nun über ihre Seele richten würde und ich vielleicht endlich sehen würde, was mit Sündern passiert. Sie offenbarten nicht, dass ich in den Wochen nach ihrem Tod mehrmals selbst mit dem Messer in der Hand im Badezimmer gestanden hatte und überlegt hatte, ihr zu folgen. Sie umfassten nicht die vielen Therapiestunden, die ich genommen hatte, um dieses Trauma ansatzweise zu verarbeiten und selbst wieder einen Sinn im Leben zu finden.

Ich konnte mich nicht dazu bringen, diese Sachen auszusprechen. Ich fühlte mich mit einem Mal ausgelaugt und müde. Emotionale Verletzlichkeit zuzulassen konnte unglaublich anstrengend sein und ich hatte genug für heute. Es war für einen Moment still, während Dean die Worte scheinbar einsinken ließ. Sein Körper schien unter Strom zu stehen, so angespannt war er. „Ich weiß, ich habe selbst vorgeschlagen, dass wir uns hierbei nicht ansehen, aber ich würde dich gerade so gerne umarmen. Gott, bitte Mara, sag mir, dass ich dich umarmen kann“.
Deans Stimme klang, als würde ihm das Gehörte körperliche Schmerzen bereiten und ich war überrascht, wie sehr ich diese Umarmung wollte, von der er sprach.
Das leise „Ja“ war kaum über meine Lippen gekommen, da hatte Dean mich schon zu sich umgedreht und die Arme um mich geschlungen. Er hielt mich, als wolle er mein jüngeres Ich gleich mitumarmen wollen.
Als könnte er, wenn er mich nur fest genug hielt durch die Zeit greifen und die zerbrochenen Teile von damals wieder zusammendrücken.
Ich schmolz geradezu in seine Umarmung hinein, saugte das Gefühl auf gehalten zu werden, während diese heftigen Gefühle mich durchströmten. Es fühlte sich an, als würde ich so einen Teil des Gewichts abgeben, der schwer auf meinen Schultern lastete und es fiel mir mit einem Mal einfacher zu atmen.

So war das mit Dean – er schaffte es irgendwie, dass sich alles leichter anfühlte. Und in seinen Armen, erlaubte ich mir dann endlich, was ich vorher so krampfhaft versucht hatte, zu verhindern. Ich weinte. Heftig. Nicht dieses ästhetische Herunterkullern von Tränen, wie es in Filmen oft gezeigt wurde, sondern so richtig mit Schluchzern und Nase hochziehen. Und obwohl ich wusste, dass ich wahrscheinlich nicht gerade schön dabei aussah, war es mir egal.
Nicht mal der Gedanke, dass ich gerade wahrscheinlich Deans Shirt ruinierte, konnte mich dazu bringen, mich beschämt wegen meines Gefühlausbruchs zu fühlen. Denn Deans Arme hielten mich die ganze Zeit fest. Eine Hand lag auf meinem Rücken und mit der anderen Hand war er dazu übergegangen, meinen Kopf zu streicheln.

Wer hätte gedacht, dass manche Menschen, wenn man sich ihnen gegenüber verletzlich zeigte, es zum Anlass nahmen, einem Geborgenheit zu schenken? Ich nämlich nicht. Obwohl ich langsam lernte darauf zu vertrauen, dass Dean entgegen der meisten meiner Erfahrungen mit Männern handelte. Vielleicht ließe ich mich auch irgendwann davon überzeugen, dass es etwas Schönes hatte, Dinge preiszugeben, wenn der richtige Mensch zuhörte. Vielleicht…

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Potentielle Trigger in diesem Kapitel:
Erwähnung von Suizid (nicht sehr detailliert)
Homophobie in der Vergangenheit (hauptsächlich gegenüber einem Nebencharakter)
Mentally abusive parents
Religiöses Trauma

Dieses Kapitel war nicht leicht für mich zu schreiben, genauso wir das nächste. Suizid ist kein Thema, dass man auf die leichte Schulter nehmen sollte. Leider passiert es allerdings viel zu oft und queere Jugendliche sind häufig unter den Opfern. Alice repräsentiert all diejenigen, deren Stimmen genommen wurden, bis sie das Gefühl hatten, so nicht mehr existieren zu können. Als jemand der sowohl selbst mit ähnlichen Gedanken zu kämpfen hatte, als auch bangend Nächte am Handy verbracht hat, in der Hoffnung dass Freunde den nächsten Morgen noch erleben, finde ich es wichtig Aufmerksamkeit auf solche Themen zu lenken. Homophobie zerstört Leben! Wenn ihr selbst mit solchen Gedanken zu tun habt, sucht euch bitte Hilfe. Un wenn es zunächst nur ein Freund oder ein Fremder ist, der euch einfach zuhört.

Um das Kapitel jetzt nicht ganz auf so einem dunklen Thema enden zu lassen. Wenn ihr jetzt eine Zeitkapsel für euer Zukunftsich vergraben würdet,  was würdet ihr dort rein tun ♥️?

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