Unter Druck (2/3)
𝐴𝑣𝑎𝑛𝑚𝑜𝑟𝑎
Wenig später fanden Venilia und ich uns in der Bibliothek wieder. Die zahllosen, hoch aufragenden Regale waren aus demselben weiß-gelben Sandstein wie die Gebäude. Von den Büchern ging ein sanfter Schimmer aus, der auf die Magie zurückzuführen war, die die fragilen Papierseiten vor dem Wasser schützte. Heute war ich jedoch ausnahmsweise mal nicht wegen der Bücher da. Nein, heute suchte ich eine Karte, damit ich nach meinem Aufbruch nicht ziellos durch den riesigen Ozean schwamm. Ein geeignetes Ziel zu finden war allerdings schwerer als erwartet. In anderen Reichen Zuflucht zu suchen kam für mich nicht in Frage, da mein Vater Augen und Ohren überall hatte. Ich musste einen Ort finden, wo er mich nicht suchen würde.
„Also, hier sind wir!" Venilia deutete energisch auf einen Punkt nicht weit von der Küste des Vadasser Walds auf der Höhe der Spitze der Pirateninsel Palema. „Osmeoke erstreckt sich über das gesamte Rakas- und Dagatmeer, bis die beiden Meere zwischen der Südspitze von Talakea und dem nordwestlichen Teil von Selatan in den talakeanischen Ozean übergehen. Ab da beginnt das Territorium eines anderen Reiches." Venilia fuhr konzentriert die Linie nach. „Rund um Kematia, die Insel der Ogya, ist neutrales Gebiet. Penyres Volk schätzt seine Freiheit und Unabhängigkeit sehr. Da sie uns mit ihrer Magie schon seit Jahrhunderten immer wieder aushelfen, wurde ihnen dieses Gebiet mit Freuden überlassen."
„Wow, da hat jemand in Geographie aufgepasst.", merkte ich amüsiert an. Venilia war normalerweise nicht die Begeistertste bezüglich Unterricht. Sie zeigte mir die Zunge. „Lidye unterrichtet dieses Fach und dey ist einfach die beste Lehrperson der Welt. Bei denen will man sogar lernen." Ich musste grinsen. Scheinbar schwärmte nicht nur Nerio für Lidye. „Dass sogar du was lernst ist wirklich eine beeindruckende Leistung von denen.", stellte ich schmunzelnd fest. Das brachte mir einen Ellbogen in die Rippen ein. „Willst du mir etwa unterstellen, dass ich schwer von Begriff bin?", fragte Venilia empört. „Wie soll ich es sagen... du bist manchmal etwas... lernfaul.", meinte ich diplomatisch. Darauf hob Venilia eingeschnappt den Kopf. „Du hast Glück dass ich dich mag.", teilte sie mir großmütig mit. „Jeder andere wäre jetzt Fischfutter."
„Was hab ich für ein Glück. Sonst müsste ich jetzt vor Angst zittern.", neckte ich sie. „Ach sei still!" Venilia gab mir einen spielerischen Stoß. Obwohl sie versuchte, möglichst beleidigt zu wirken, umspielte ein kleines Lächeln ihre Mundwinkel. Mein Gesicht wurde ebenfalls von einem breiten Grinsen geziert.
Doch dann wurde mir wieder schlagartig bewusst, warum wir eigentlich hier waren. Nämlich um meine Flucht zu planen. Was bedeutete, dass ich Venilia für eine lange Zeit nicht sehen würde. Sofort war meine Laune im sprichwörtlichen Tiefseegraben.
„Also, was ist mit Kematia?", fragte ich, um wieder zum eigentlichen Thema zu gelangen. „Ja, natürlich, Kematia." Venilia widmete sich wieder der Karte. „Wie gesagt, das Meer rund um Kematia ist neutrales Gebiet. Und solange niemand etwas von den Ogya braucht, ist es dort relativ leer. Seefahrer wirst du dort höchstwahrscheinlich auch nicht antreffen, da die Ogya bei den Menschen verrufen sind. Menschen sind eben fragile Wesen, die sich vor allen fürchten, die anders sind." Ich lachte. „Da hast du recht.", pflichtete ich ihr bei.
Venilia setzte bereits zu einer Antwort an, als uns plötzlich eine wohlbekannte Stimme unterbrach: „Hey!" Ich blickte auf, nur um wenig überraschend Nerio am anderen Ende des Tisches zu entdecken. Er hatte ein unsicheres Lächeln aufgesetzt und spielte sich nervös mit seinen Haaren. Was hatte er schon wieder hier zu suchen? Obwohl ich eigentlich eher pazifistisch veranlagt war, war ich versucht, mein Schwert zu holen und ihn nur ganz leicht zu piksen. Vielleicht auch etwas mehr als nur leicht.
„Ich wollte mich nur entschuldigen für vorhin. Ich... wollte dich nicht bedrängen oder so. Es ist nur... Ich mache mir einfach Sorgen.", meinte Nerio, in seiner Stimme eine Bitte um Vergebung. Es kostete mich einiges an Überwindung, ihm nicht zu sagen, dass er sich doch gefälligst woanders Sorgen machen soll. Aber ich beherrschte mich und sagte bemüht ruhig: „Es ist alles in Ordnung. Ich habe gerade einfach nur viel zu tun.", erklärte ich mit einem gezwungenen Lächeln. Nerios zweifelnder Blick bestätigte mir, dass ich eine verdammt schlechte Lügnerin war.
Venilia warf Nerio einen kurzen Blick zu, dann lehnte sie sich zu mir. Mein Herz schlug unwillkürlich schneller bei dieser unerwarteten Nähe. „Sag ihm einfach die Wahrheit, dann gibt er vielleicht Ruhe.", riet mir Venilia im Flüsterton. Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. „Meinetwegen."
Venilia rückte wieder von mir ab und ich erhob meinen Blick, um Nerio direkt in die Augen zu sehen. Normalerweise fühlte ich mich bei Augenkontakt schnell unwohl, aber zurzeit hatte ich so viele andere Probleme, dass es mir einfach nur noch egal war.
„Ich muss weg. Wir planen gerade meine Flucht, weil mich sonst mein Vater zur Armee verschleppt. Zufrieden?", erklärte ich harsch. Man konnte förmlich sehen, wie Nerios Lächeln in sich zusammenfiel und sich Bestürzung in seinem Gesicht breitmachte. „Oh.", war das Einzige, was er dazu herausbrachte.
„Ja, oh.", stimmte ich ihm bitter zu. Auch wenn ich mir mittlerweile eingestanden hatte, dass die Freiheit verlockend war, so missfiel es mir immer noch, dass ich mein gesamtes Leben auf einmal hinter mir lassen musste. Drastische Veränderungen hatte ich noch nie gemocht. Ebenso wie zu aufdringliche Leute, dachte ich, meine Augen immer noch auf Nerio ruhend. Stumm flehte ich ihn an, endlich zu verschwinden.
Leider erfüllte er meinen Wunsch nicht. Stattdessen setzte er eine entschlossene Miene auf und gesellte sich von seinem Ende des Tisches zu uns. Er nahm den rechts neben mir ein. „Also, wie weit seit ihr mit dem Planen? Ich kann vielleicht helfen." Wenn ich nicht zu sozial ungeschickt wäre, würde ich ihm jetzt höflich, aber bestimmt mitteilen, dass er einfach gehen soll. Doch ich blieb still wie die inkompetente Person, die ich nun mal war. Ich sah Venilia an, eine unausgesprochene Bitte in meinem Blick.
Venilia verstand sofort und begann, Nerio unseren bisherigen Fortschritt zu erläutern: „Wir haben bereits festgestellt, dass das Gebiet rund um Kematia relativ sicher wäre, da es zu keinem Reich gehört. Weiter sind wir nicht gekommen, weil uns ein gewisser Jemand unterbrochen hat." Bei diesen Worten sah Venilia Nerio vielsagend an. Die unterschwellige Anklage schien ihn aber nicht sonderlich zu tangieren, denn er begann zu strahlen.
„Ich habe gerade vorhin von Lidye erfahren, dass Gerüchten zufolge in diesem Gebiet Überbleibsel der Urstämme heimisch sein sollen. Unnormal viele gesunkene Schiffe, davonflitzende Schatten, verlassene Lagerstellen. Von all dem haben Neeru, die Kematia aufgesucht haben, berichtet. Sie scheinen aber sehr gute Verstecke zu haben, da keine Suche nach ihnen etwas ergeben hat. Deswegen weiß kaum jemand etwas über diese Vermutung." Nerio überschlug sich beinahe beim Erzählen, seine Augen leuchteten vor Begeisterung.
Sofort war mein Missmut über seine Anwesenheit verflogen. „Und wo befinden sich die ungefähr den Gerüchten nach?", hakte ich neugierig nach. „Hier, beginnend vom Gebiet zwischen Vahan und Kematia bis zum Meer über der Nordküste der Insel. Zwischen Kematia und Koula wurden auch Spuren entdeckt, allerdings weit weniger als in den anderen Gebieten."
„Dein Vorschlag ist also, dass Ava sich auf die Suche nach diesem mysteriösen Stamm macht? In der Hoffnung, dass sie etwas schafft, was ganze Suchtrupps vor ihr nicht geschafft haben?", mischte sich Venilia skeptisch ein. Nerio hob unschlüssig die Schultern. „Einer einzelnen Neeru werden sie vielleicht eher vertrauen als einer ganzen Gruppe." Venilia sah immer noch nicht völlig überzeugt aus, sagte aber nichts mehr. Stattdessen starrte sie Nerio so missbilligend an, dass der Arme ganz unruhig wurde.
„Ich mache es!", teilte ich den beiden entschieden mit, bevor Venilia beschloss, ihr Temperament an Nerio auszulassen. „Wirklich?", fragte Nerio ungläubig. Venilia hingegen betrachtete mich nur sprachlos. „Ja. Besser als in einem anderen Reich wieder meinem Vater ausgeliefert zu werden oder ein Einsiedlerleben zu beginnen.", meinte ich. Ich klang nicht zu hundert Prozent überzeugt, verlieh aber meiner Stimme genug Nachdruck, dass weder Venilia noch Nerio meine Entscheidung in Frage stellten.
„Wann brichst du dann auf?", fragte Venilia mir belegter Stimme. „Heute Abend.", antwortete ich, ohne lange darüber nachzudenken. Ich wollte keine Zeit verschwenden. Außerdem hatte ich Angst, dass ich es doch nicht durchziehen würde, wenn ich noch länger hierblieb. Meine Zweifel fanden früher oder später immer ihren Weg zu mir, um sich permanent in meinem Kopf einzunisten und jede meiner Taten zu hinterfragen und überdenken. Bis zu dem Ausmaß, dass ich nicht mehr fähig war, mein ursprüngliches Vorhaben in die Tat umzusetzen.
„So bald?" Venilia klang regelrecht schockiert. „Ja. Sonst kann ich mich am Ende doch nicht dazu überwinden.", erklärte ich knapp. „Ich verstehe." Sie bemühte sich um einen möglichst neutralen Tonfall und kniff die Lippen zusammen, um ihre Trauer nicht so offensichtlich zu zeigen. Doch mich konnte sie nicht täuschen. Genauso wenig wie ich sie täuschen konnte. Wir kannten einander einfach zu gut.
Nerio, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, räusperte sich kurz. Nachdem er unsere Aufmerksamkeit hatte, meinte er: „Ich werde euch jetzt allein lassen, wenn ihr nichts mehr von mir braucht. Geht das in Ordnung?" „Natürlich.", erwiderte ich mit einem bestätigenden Nicken. „Danke für deine Hilfe."
„Gerne doch." Nerio blickte mich lächelnd an. „Viel Glück bei... alldem, was dir noch bevorsteht." „Danke." Nerio neigte zum Abschied den Kopf, dann wandte er sich um und war bald hinter einem der hohen Regale außer Sichtweite.
Venilias Blick hing für einen Moment noch an der Stelle, an der Nerio verschwunden war, dann drehte sie ihren Kopf zu mir. „Also, was machen wir jetzt?" „Ich werde mich noch bei Talya verabschieden. Dann könnten wir uns bei mir treffen, um das Nötigste einzupacken. Und dann..." Ich beendete meinen Satz nicht. Wir beide wussten, was dann kam. Dazu musste ich es nicht auch noch ausformulieren. Venilia nickte. „Dann bis später.", verabschiedete ich mich von ihr. „Bis später."
Damit drehte ich mich um und verließ zügig die Bibliothek. Mir wurde das Herz schwer, als ich begann, Richtung Talyas Juwelierladens zu schwimmen. Dieser Abschied würde der Härteste meines Lebens werden.
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