Unter Druck (1/3)
𝐴𝑣𝑎𝑛𝑚𝑜𝑟𝑎
„Ava, hörst du mich?", fragte mich Venilia laut und mit Nachdruck von irgendwo neben mir. Ich zuckte kaum merklich zusammen. „Ja, kein Grund so laut zu sein.", beschwerte ich mich, mein Tonfall schärfer als gewollt. Dabei wandte ich mich zu ihr. Venilia erhob abwehrend die Hände. „Ich frag ja nur! Nachdem du schon dreimal nicht reagiert hast..." Sie blickte mich an und machte einen Schmollmund. Wenn sie mich so ansah, konnte ich einfach nicht anders als zu Lächeln.
„Also, wo warst du mit den Gedanken? Sicher nicht bei der Geschichtestunde, die übrigens bereits vorbei ist." Um eine Antwort hinauszuzögern, starrte ich betont in eine andere Richtung und kniff die Lippen zusammen, als ob ich damit das Gespräch irgendwie vermeiden könnte. Bis jetzt hatte ich es noch nicht übers Herz gebracht Venilia zu erzählen, dass ich in wenigen Tagen der Armee beitreten musste. Oder deswegen abhauen würde. So oder so, das Ergebnis war das Gleiche: Ich war weg. Und das sicher für eine lange Zeit.
„Oh, ich verstehe.", meinte Venilia plötzlich. Verwirrt sah ich sie an. „Was verstehst du?" „Das!" Sie deutete in die Richtung, in die ich vorher sehr betont gestarrt hatte, um Blickkontakt mit ihr zu vermeiden. Dort redete gerade mein Mitschüler Nerio mit der Lehrperson, die wir bei deren Vornamen Lidye nannten. Lidye war fast bei allen Schülern beliebt, da jeder von deren Begeisterung an Geschichte förmlich mitgerissen wurde. Nerio unterhielt sich nach dem Unterricht oft noch mit denen, da er Geschichte liebte und oft darauf brannte, mehr über den jeweiligen Lernstoff zu erfahren. Heute hatten wir über die frühe Entwicklung unserer Zivilisation aus weit verstreuten Stämmen gelernt und immer noch existierende Überbleibsel dieser. Das war zumindest das, was ich in meinen Gedankenspiralen mitbekommen hatte. Was das aber mit meiner Unaufmerksamkeit zu tun haben sollte, verstand ich immer noch nicht.
Venilia seufzte resigniert, als sie meinen ratlosen Blick sah. „Du stehst offensichtlich auf Nerio!" „Was?!", rief ich so entsetzt, als ob sie mich gerade beleidigt hätte. „Warum solltest du denn sonst so schmachtend zu ihm hinüberstarren?" Nun sah sie ihrerseits etwas beleidigt aus. Bockig verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Ich meine, er sieht absolut umwerfend aus." Sie deutete energisch auf ihn. Dabei sah sie mich an, als ob ich verrückt wäre, wenn ich mich nicht unverzüglich an ihn heftete. Natürlich sah Nerio objektiv gesehen nicht schlecht aus. Hellbraunes Haar, das nicht ganz schulterlang war, einen durchtrainierten Oberkörper, eine schön tieforangene Flosse und einen Hautton, der dem hellhäutiger Menschen ähnelte. Aber er hatte nichts, was mich dazu veranlassen würde, ihn hingerissen anzustarren.
„Ja.", sagte ich in einem diplomatischen Tonfall. „Ja? Das ist alles?" Venilia sah nun fassungslos aus. „Du weißt, dass dir der Typ schon seit einer Ewigkeit völlig verfallen ist!" „Ja!", entgegnete ich nun mit etwas Nachdruck. „Und du willst ihm keine Chance geben?", fragte sie fast schon verurteilend. Allerdings schwang noch etwas in ihrer Stimme mit. Etwas, das ich nicht ganz beurteilen konnte.
Ich antwortete nicht. Ein Teil von mir wollte ihr alles erzählen. Dass mich nur der Gedanke, mit ihm zusammen zu sein, beklemmt machte. Dass ich seine verdammte Aufmerksamkeit nicht wollte. Er war nett, aber nicht mehr.
Doch ich sagte nichts. Venilia würde mich nicht verstehen. Sie sah mich immer noch abwartend an, ihr Gesichtsausdruck gedankenverloren. Fieberhaft dachte ich nach. Aber mir wollte partout keine Ausrede einfallen, die weder die Wahrheit, noch Nerio involvierte. Warum musste immer genau dann meine Denkfähigkeit aussetzen, wenn ich sie tatsächlich brauchte?Bevor ich jedoch selbst einen Ausweg aus diesem Dilemma finden konnte, berührte mich sanft eine Hand an der Schulter. Ich zuckte heftig zusammen und fuhr aufgeschreckt herum, nur um in die orange-braunen Augen von Nerio blicken.
„Bei Audras Gnade, Nerio, was soll der Unsinn? Kannst bitte verdammt nochmal etwas sagen, bevor du mich einfach anfasst?", fuhr ich ihn an. Ich redete selten in einem derart harschen Tonfall, weshalb Nerio ein Gesicht zog, als ob ich ihn geschlagen hätte. Normalerweise würde ich mich für die Ausdrucksweise entschuldigen, aber heute war mir nicht danach. Was war so schwer daran, mich einfach in Ruhe zu lassen? Als ob ich ohne andere Neeru, die mir auf die Nerven gingen, nicht schon genug Probleme hätte.
„Was ist denn los?", fragte mich Nerio, seine Hand immer noch auf meiner Schulter. „Nichts!", fauchte ich abwehrend und streifte dabei unwirsch seine Hand von mir. „Das glaube ich dir nicht." „Dann glaub mir halt nicht. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich dir kein Wort sagen werde." Während ich redete, wurde meine Stimme immer lauter. Daraufhin Nerio erhob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. In seinen Augen lag ehrliche Sorge. Sofort wurden meine Wangen heiß vor Scham und ich spielte verlegen an meiner Kette herum. Er konnte nichts dafür, dass mein Vater ein absolut verabscheuungswürdiges Exemplar unserer Spezies war. Es war nicht fair, dass ich meinen Frust an ihm ausließ.
Allerdings vertraute ich mir selbst nicht genug, um auch nur eine Sekunde länger hierzubleiben und mich zu entschuldigen. „Ich muss los.", murmelte ich hastig, ehe ich mich ohne ein weiteres Wort umdrehte und fast schon vor Nerio und Venilia floh.
Irgendwo außerhalb der Stadt verlangsamte ich schließlich mein Tempo und ließ mich auf den sandigen Grund sinken. Ich lehnte mich mit den Rücken gegen einen breiten und hoch aufragenden Felsen. Seufzend legte ich meinen Kopf in den Nacken und blickte hinauf zur Wasseroberfläche. Durch den Wind stand sie nie wirklich still und ließ das Licht unter Wasser förmlich tanzen. Wie so oft fragte ich mich, wie das Leben an Land wohl wäre. Ob es wie in den von Menschen geschriebenen Büchern wäre, wo die Prinzessin vom mutigen Ritter beschützt wurde? Nicht dass ich einen Ritter wollte. Doch ein friedliches, behütetes Leben in einem Schloss klang um Welten besser, als beinahe von Geburt an zum Kämpfen erzogen zu werden. Ein Traum, der niemals wahr werden würde. Ich war bereits siebzehn und meine Kindheit vorüber. Und was die Zukunft bringen würde, wusste ich nicht. Dafür musste ich diese unmöglich erscheinende Entscheidung treffen. Entweder auf mich allein gestellt die Flucht ergreifen, oder mich meinem Vater beugen. Keine dieser Optionen war besonders verlockend.
„Hey!" Eine Stimme dicht neben mir riss mich aus meinen Gedanken. Wie erwartet war es Venilia. Ich hob den Kopf und wandte mich nach links, um sie anzusehen. „Hey.", entgegnete ich tonlos. Venilia atmete tief ein, ehe sie lossprudelte: „Es tut mir leid, ich hätte dich nicht bedrängen und wegen Nerio ein schlechtes Gewissen machen sollen. Es ist nur so... er mag dich gern und wenn schon nicht ich d... ich meine Nerio bekommt, dann dachte ich, dass ihr beide miteinander glücklich werden könnt und..." „Moment!", unterbrach ich sie. Venilia starrte mich verblüfft an, ihre wunderschön grünen Augen weit geöffnet. „Was ist jetzt los mit Nerio? Ich habe ihn nur angesehen. Und das nicht einmal bewusst" „Oh.", meinte Venilia nur. Sie vermied Blickkontakt und wirkte nervös. So nervös, dass sie ihre Hände knetete. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich.
„Ich...", begann Venilia zu erklären. „Ich habe nur diesen intensiven Blick gesehen und dann war da Nerio. Und es würde Sinn machen, du und er. Ihr seid beide wahnsinnig intelligent, seht beide gut aus und er ist genauso sanftmütig und geduldig wie du. Und er steht auf dich. Alles scheint perfekt." Sie zuckte mit den Schultern. Ich lachte kurz auf. „Ich glaube, du hast dir heute bereits mehr Gedanken über mich und Nerio gemacht, als ich in meinem ganzen Leben. Da ist wirklich absolut nichts. Er... tut mir nur etwas leid und ich hoffe, dass er jemand anderen findet." Dabei sah ich Venilia vielsagend an. Doch wenn sie meinen Blick bemerkt hatte, ließ sie sich nichts anmerken. Mit einem abwesenden Nicken nahm sie meine Worte zur Kenntnis. Für einen Moment sah sie gedankenverloren an mir vorbei. Dann wandte sie sich wieder mir zu.
„Was ist dann wirklich los?", fragte sie mich. Ihr Blick lag mitfühlend auf mir. Eine Zeit lang sagte ich nichts. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich sie in ein paar Tagen unweigerlich verlassen würde? Wir waren schon so lange befreundet, ich konnte mir kein Leben ohne sie vorstellen. Und sie sich kein Leben ohne mich. Wer würde sich für mich durchsetzen, wenn ich mich mal wieder nicht traute, etwas zu sagen? Und wer würde Venilia zur Ruhe bringen, wenn ihr Temperament wieder mit ihr durchging? Oder ihre endlosen Plapperepisoden durchstehen und ihr geduldig zuhören, egal wie langweilig die Erzählungen auch sein mochten? Wem sollte ich aufgeregt von meinem neusten Buch erzählen? Venilia war ein Teil meines Lebens, den ich mir nicht wegdenken konnte. Deshalb war es auch so schwer, ihr alles zu erzählen. Weil damit alles auf einmal real, greifbar werden würde. Trotzdem war es nicht fair, das vor ihr geheim zu halten.
„Ich muss weg.", erklärte ich deshalb schlicht. Venilia kniff irritiert die Augen zusammen. „Wie du musst weg?", hakte sie nach. „Entweder mein Vater schleppt mich zur Armee, oder ich hau vorher ab." Meine Stimme klang ausdruckslos, als hätten sich auf einmal alle meine Gefühle verabschiedet. Ich war einfach nur müde. Warum konnte es nicht einfach ein schlechter Traum sein, und ich wachte am nächsten Morgen auf, als wäre nichts geschehen?
Venilia riss die Augen auf und sah mich so ungläubig an, als ob ich ihr erzählt hätte, dass ein Seemonster hinter ihr wäre. „Wirklich?" Ihrer Stimme nach konnte sie es immer noch nicht fassen. Ich lachte bitter. „Ja, wirklich." Innerhalb von Sekunden wurde die Fassungslosigkeit in ihrer Miene zu Abscheu.
„Ich fasse es nicht, dass er dir das antut! Hat er keine Vorstellung davon, wie sehr du kämpfen und Krieg und all diesen Scheiß hasst? Oder ist er einfach nur ein sadistischer Mistkerl? Oder beides. Ja, beides. Ich sag's dir, ich werde ihn finden und ihm seine geliebten Waffen ganz tief dorthin schieben wo.."
„Lass gut sein.", unterbrach ich Venilia, die dabei war, sich völlig in Rage zu reden. „Er ist der General und beinahe ganz Osmeoke steht unter seiner Kontrolle. Selbst andere Reiche kennen und fürchten ihn. Eben weil er ein sadistischer Mistkerl ist. Es gibt nichts, was wir gegen ihn ausrichten können.", meinte ich hoffnungslos.
„Also willst du einfach aufgeben und fliehen.", stellte Venilia nüchtern fest. „Wollen ist wohl kaum das richtige Wort." Jedes meiner Worte triefte nur so vor Bitterkeit. Jemand anderes als Venilia hätte mich jetzt gefragt, ob ich denn völlig geisteskrank wäre, das zu tun. Für die meisten sah mein Leben perfekt aus. Reiche Eltern, mächtiger Vater, ein Leben in einem prunkvollen Palast. Die Zeit in der Armee sollte man für diesen Luxus durchdrücken können.
Niemand wollte sehen, wie oft ich durch das harte Training verwundet in den Unterricht kam. Die Tage, an denen ich gefehlt hatte, weil ich zur Strafe isoliert wurde. Wie ich nach jedem Besuch meines Vaters das Gefühl hatte, eine einzige Enttäuschung zu sein. Nur Venilia hatte es gesehen und hatte trotzdem zu mir gehalten.
Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, dann war ein Teil von mir fast froh, endlich einen Grund zu haben, all das hinter mir zu lassen. Klar, meine Tante Talya und Venilia würde mir fehlen. Aber ich konnte nicht leugnen, dass die völlige Freiheit verlockend schien. Dass das Unbekannte, das mir Angst machte, gleichzeitig eine verlockende Anziehung auf mich ausübte. Auch wenn ich es mir nicht eingestehen wollte, meine Entscheidung war bereits getroffen.
Venilia schien meine Gedanken zu erraten, denn sie meinte: „Doch, du willst. Dein Leben hier ist schrecklich und das ist deine Chance, wegzukommen." Ich gab darauf keine Antwort. Und sie kannte mich gut genug, dass sie die auch nicht brauchte.
„Sieht so aus, als würden wir eine Reise planen.", stellte Venilia mit einem schwachen Lächeln fest.
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