Schiff Ahoi! (2/3)
𝐸𝑙𝑒𝑎
Nach ein paar Minuten, in denen Artemia weiterhin die Holzbretter des Decks mit ihrem Fuß traktierte und ein paar mehr oder weniger gewalttätige Wege beschrieb, die Nachzügler an Deck zu holen, öffnete sich die Luke im Boden erneut. Zuerst erhob sich eine kurvige, breit gebaute, dunkelhäutige Frau daraus. Ihre langen schwarzen Haare waren noch stärker gekräuselt als jene von Artemia. Sie redete gerade auf jemanden hinter ihr ein. Dabei erschien der Ausdruck in ihrem Gesicht selbstsicher, ja beinahe erhaben.
„Yngwar, wann wirst du lernen, dass man mit roher Gewalt keinen Krieg gewinnt? Nur Idioten ohne einen Hauch von Ahnung über jegliches strategisches Basiswissen konzentrieren all ihre Energie auf die Front und vernachlässigen ihre Verteidigung komplett!", belehrte sie besagten Hünen, mit dem ich gerade erst vor ein paar Stunden ein eher ruppiges erstes Zusammentreffen gehabt hatte. Sie begann ein paar bessere Strategien zu erklären, von denen ich ungefähr so viel verstand, wie ein Fisch vom Gehen versteht. Dabei funkelten ihre dunklen Augen förmlich vor Leidenschaft. Sie brannte wohl sehr für dieses Thema.
Da erhob sich auch schon Yngwar aus der Luke. Er schaute eher brummig drein, mit einer Spur von Verdrossenheit darin. Wobei ich mir noch nicht sicher war, ob der brummige Gesichtsausdruck dem belehrenden Vortrag der Frau geschuldet war, oder ob das einfach sein üblicher Gesichtsausdruck war. Ich würde es wohl bald erfahren. Hinter ihm erschien ein schlanker, hochgewachsener Mann, dessen Haut noch dunkler als jene der mir noch unbekannten Frau war. Seine Haare waren so kurz geschoren, dass ihre krause Struktur fast nicht bemerkbar war. Mit seinen beinahe schwarz erscheinenden Augen schenkte er Yngwar einen liebevollen Blick. Sanft legte er ihm eine Hand auf die Schulter.
„Ich finde wir haben uns gut geschlagen, Schatz. Aber gegen eine begnadete Strategin und einen ehemaligen Soldaten haben wir einfach keine Chance.", redete er Yngwar gut zu. Dieser gab nur ein zustimmendes Brummen von sich. Er wirkte immer noch nicht sonderlich glücklich über die Niederlage. Schatz... Ich erinnerte mich an die Unterhaltung von Yngwar und Artemia, in der er erklärt hatte, dass nur sein Mann ihn so nennen durfte. Das war also sein Mann. Gerade legte er einen Arm um Yngwar. Das schien ihn mehr aufzuheitern als die vorangegangenen Worte, denn ein kleines Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Und obwohl er immer noch so aussah, als könnte er jemanden wie mich mit einer Hand leicht einige Meter weit schleudern, wirkte er in diesem Moment ganz lieb und harmlos.
Die nächste Person kam an Bord. Im Gegensatz zu den anderen schien er sich beim Hochklettern schwerer zu tun. Als er schließlich auch den Klettergang überwunden hatte, dauerte es nicht lange, bis ich sehen konnte warum. Ich musste nur ein paar seiner Schritte beobachten, um festzustellen, dass er hinkte. Er belastete seinen rechten Fuß weniger. Nachdem ich meine Aufmerksamkeit von seinem Gang weglenkte, musterte ich seine ganze Erscheinung eingehender. Seine Arme waren von unzähligen Narben gezeichnet. Yngwar's Mann hatte vorhin etwas von einem ehemaligen Soldaten gesagt... Es war nicht schwer zu erraten, dass damit dieser Mann gemeint sein musste.
Nicht nur seine Arme waren narbenübersät. Auch sein Gesicht war gezeichnet. Am auffälligsten war eine dicke, lange Narbe, die senkrecht über sein Gesicht und durch das linke Auge zog. Dieses Auge war von einem milchigen Schleier getrübt, während sein rechtes Auge ein klares, helles Blau aufwies. Seine kurzen Haare waren großteils dunkelgrau, aber wie der Rest seines Körpers waren auch diese nicht ungezeichnet. Feine, hellgraue Strähnen schienen hier und da hervor. Obwohl er noch keinen alten Eindruck machte, schien sein Körper frühzeitig gealtert zu sein. Nicht verwunderlich bei einem ehemaligen Soldaten, der von Kämpfen so offensichtlich gezeichnet war.
Bevor ich mehr Details aufnehmen konnte, räusperte sich Artemia. Die Nachzügler wurden aus ihrem Gespräch gerissen und richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihre Kapitänin. Und damit auch auf mich, schließlich stand ich direkt neben ihr. Die stämmige Frau und der ehemalige Soldat musterten mich eingehend, während Yngwars Mann mir ein freundliches Lächeln schenkte. Unter den prüfenden Blicken richtete ich mich unwillkürlich etwas gerader auf.
„Hergehört Leute, wir haben einen neuen Rekruten!", verkündete Artemia lautstark. „Das ist Elea. Ich hoffe es ist klar, dass sich jeder ihr gegenüber benimmt." Sie warf jedem einen strengen Blick zu, blieb aber besonders lange bei Yngwar hängen. Vermutlich wegen dem Debakel heute. Jeder nickte gehorsam.
„Und Elea, das sind Levonya,", sie deute auf die Frau. „Eyasu," Ihr Finger bewegte sich weiter zu Yngwars Mann. „Und Callan." Die Vorstellrunde endete mit dem ehemaligen Soldaten. Levonya und Callan betrachteten mich immer noch eindringlich. Obwohl ich nicht leicht nervös wurde, machten mich diese Blicke langsam etwas unsicher.
„Was ist deine bevorzugte Waffe?", fragte plötzlich Levonya. „Messer.", antwortete ich wie aus der Pistole geschossen, und zückte eines meiner Messer. Ein zufriedenes Lächeln erschien ihren Lippen.
„Wie viel Kampferfahrung hast du?", hakte nun Callan nach. „Wenn man aufdringliche Männer verkloppen nicht mitzählt, nur Übungskämpfe mit meinem Bruder.", antwortete ich wahrheitsgemäß, während ich mein Messer wieder wegpackte. Eyasu fand meine erste Bemerkung wohl sehr witzig, denn er begann zu lachen. „Ich verstehe jetzt, warum Artemia dich aufgenommen hat.", bemerkte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.
„Willst du damit andeuten, dass ich gerne gewalttätige Leute in meine Crew aufnehme?", meldete sich Artemia, gespielt empört, zu Wort. Eyasu grinste und schüttelte den Kopf. „Nein nein, wie kommst du denn darauf?" Artemia beäugte ihn kritisch, mit hochgezogenen Augenbrauen. „Nur so ein Gefühl..."
Dann sah sie sich auf dem Deck um. „Wo ist denn eigentlich Kyrian abgeblieben?" Alle außer Eyasu schauten unbeteiligt drein oder zuckten die Schultern. „Wahrscheinlich in seiner Kabine.", vermutete dieser. Artemia nickte. „Dann kann er vorerst dort bleiben."
Verwundert blickte ich Artemia an. Warum war sie auf einmal so nachsichtig? Ich fragte mich, was es wohl mit diesem Kyrian auf sich hatte. Aber zurzeit war das nicht mein Hauptfokus. Aufregung breitete sich in meinem ganzen Körper aus, als ich realisierte, dass es nun endlich losgehen würde.
Wie auf ein Stichwort klatschte Artemia in die Hände. „Alles klar, nachdem nun fast alle bereit sind: Setzen wir die Segel!" Dramatisch streckte sie einen Arm in die Luft. Ich musste lachen. Einerseits weil Artemias Art einfach lustig war, andererseits, weil ich mich gerade so leicht und glücklich fühlte, dass ich vermutlich sogar bei Rus schlechten Witzen vor Lachen gestorben wäre.
Währenddessen halfen ein paar Crewmitglieder zusammen, um die Segel zu setzen. Ich kam neugierig näher und beobachtete alles ganz genau. Am liebsten würde ich sofort mithelfen. Aber aufgrund meines Mangels an Erfahrung konnte ich nicht. Stattdessen nahm ich mir vor, alles so schnell wie möglich zu lernen.
Artemia hatte sich zum Steuerrad begeben. „Kurs auf Vahan, keine Zwischenstopps. Wir wollen die Gewässer rund um die Hexeninsel so schnell wie möglich hinter uns lassen.", informierte sie die versammelte Crew. Vermutlich wussten alle außer mir schon, wohin es ging, aber es zu wiederholen konnte auch nicht schaden.
Vahan, die Hauptstadt von Talakea und Sitz der Königsfamilie. Obwohl ich schon einiges gewohnt war vom Leben in einer geschäftigen Handelsstadt, sollte die Metropole jegliche Städte im Königreich um ein Vielfaches übertreffen. Ein Zentrum für das Aufeinandertreffen von Kulturen. Und anders als in Koula, wo es außer dem Fischfest und der Feier zum Ende des Götterkriegs nichts gab, sollte dort zu jeder Jahreszeit etwas los sein. Das klang zu schön, um wahr zu sein. Hoffentlich würden wir dort ein paar Tage bleiben.
Meine einzige Sorge war, dass wir zwischen der Landbrücke und der Hexeninsel Kematia segeln würden. Zwar führte dort eine etablierte, relativ sichere Handelsroute entlang, aber manchmal brachten Stürme Schiffe vom Kurs ab und direkt in die gefährlichen Gewässer. Die Hexen waren aber nicht die Hauptgefahr. Menschen begegneten ihnen mit Misstrauen wegen ihres eher abgeschotteten Daseins kombiniert mit ihren magischen Fähigkeiten, aber sie waren nicht direkt feindlich gesinnt. Anders als das Meervolk. Da die Hexen kein Problem mit ihnen hatten, lebte eine ganze Menge von Neeru in den seichten bis mitteltiefen Gewässern rund um die Insel. Sollte ein Schiff in ihre Reichweite gelangen, wurde es oft angegriffen. Angriffstruppen mit nur einem der berüchtigten Wasserbändiger sanken Schiffe ausnahmslos. Selten gab es Überlebende, und die wurden eher zurückhaltend von den Hexen aufgenommen. Sie schätzten ihre Ruhe auf der Insel sehr. Glücklicherweise wurden trotzdem die meisten von den, wenn auch nicht sehr begeisterten, Hexen gesund gepflegt und irgendwie wieder aufs Festland gebracht.
Ich wurde vom Schiff, welches der Wind langsam in Gang brachte, aus meinen Gedanken gerissen. Sofort eilte ich zum Heck. Da ich offenbar nicht gebraucht wurde im Moment, wollte ich einen letzten Blick auf meine Heimatstadt werfen. An der Reling lehnend betrachtete ich den Hafen von Koula. Die untergehende Sonne tauchte ihn in ein warmes, rötliches Licht. Trotz des sich zu Ende neigenden Tages herrschte dort noch ein geschäftiges Treiben. Die ersten Laternen wurden für die anbrechende Nacht angezündet. Der Alltag würde für die meisten komplett unverändert weitergehen. Für mich nicht. Ohne es zu wissen, war ich heute Morgen das letzte Mal in meinem eigenen Zuhause aufgewacht. Kurz fragte ich mich, wie es sich wohl angefühlt hätte, wenn ich den Verlauf des Tages gewusst hätte. Vermutlich hätte sich neben meine Vorfreude eine Spur Wehmut gemischt. Auch wenn sich gerade mein Traum erfüllte, ich ließ trotzdem immer noch mein Zuhause und meine Familie zurück. Vielleicht hätte ich Ru auch zu einem letzten Kampf herausgefordert. Beim Gedanken an unseren Abschied drohten erneut Tränen in mir aufzusteigen. Ihn würde ich am meisten vermissen. Ich beschloss, in Vahan einen Brief an ihn zu schreiben. Auch wenn keine Antwort möglich war, so würden er und somit auch der Rest meiner Familie zumindest ein Lebenszeichen von mir haben.
Koula war noch für eine Weile zu sehen. Doch es wurde immer kleiner, während die Sonne immer tiefer sank. Irgendwann war es vollends im Dunkel der voranschreitenden Dämmerung verschwunden. Nun hatte ich offiziell mein altes Leben hinter mir gelassen und es gab kein Zurück mehr.
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