Schiff Ahoi! (1/3)
𝐸𝑙𝑒𝑎
Unsicher schritt ich über die Planke hinauf auf das Schiff. Nur Artemias Präsenz hinter mir beruhigte mich ein wenig. Ich zog das wirklich durch. Ich ließ mein Leben völlig hinter mir und begab mich voran in das Unbekannte. Nun da der Moment gekommen war, wirkte der Gedanke angsteinflößender als zuvor in der reinen Theorie. Aber ich würde keinen Rückzieher machen. Niemals. Ich war nicht so weit gekommen, nur um es mir jetzt doch wieder anders zu überlegen.Vorsichtig, ja beinahe ehrfürchtig, setzte ich einen Fuß auf die Holzbretter, die den Boden des Decks bildeten. Sie ächzten leise, als ich meinen anderen Fuß nachholte und sie nun meinem ganzen Gewicht ausgesetzt waren. Sofort sah ich mich auf dem Schiff um. Als Erstes fielen mir natürlich die großen Masten auf, der aus der Mitte des Decks weit in die Höhe ragte. An denen hingen die gerade nicht gehissten Segel, die vermutlich einmal weiß gewesen waren, aber durch Wind, Wetter und Meer nun eher gräulich gefärbt waren und teilweise dunklere Flecken aufwiesen. An jedem der Masten waren Strickleitern angebracht, die einem den Aufstieg zum Aussichtspunkt ganz oben ermöglichten und auch nötig waren, um von oben die Segel hissen zu können. Wie genau das funktionierte hatte mir mein Vater einmal versucht zu erklären, aber ich hatte es nicht wirklich kapiert. Hoffentlich konnte ich mich auf dem Schiff auch anders nützlich machen. Auf dem Deck befanden sich Vorratsfässer, Seile lagen teils ordentlich, teils komplett chaotisch herum.
Links von mir, auf dem hinteren Teil des Schiffes, befanden sich zwei Erhöhungen. Auf der ersten Erhöhung stand ziemlich einsam hinter einer Absicherung zum niedrigsten Teil des Decks das Steuerrad. Dort wo sich die zweite Erhöhung mit der Ersten traf, war von der Entfernung nur mir Mühe eine Tür auszumachen, die, wenn ich raten müsste, zur Kapitänskajüte führte. Immerhin war es nur logisch, dass Artemias Kajüte schnell und leicht zugänglich war. Gerade in dem Moment, als ich an Artemia gedacht hatte, sprang diese geradezu von der Planke auf das Schiff, wobei sie lautstark auf den Holzbrettern landete. Sie klatschte in die Hände und schrie: „Auf auf ihr Seeleute, schwingt eure Ärsche auf das Deck und packt an, wir setzen die Segel!"
Kurz darauf öffnete sich eine Luke im Boden des Decks. Als Erstes kam eine junge Frau, sie konnte nicht viel älter sein als ich, herausgeklettert. Ihre dunkelbraunen Haare gingen ihr beinahe bis zur Taille und wellten sich wie ein aufgewühlter Ozean. Ihre Haut war von einem sanften Hellbraun, und auf ihren Wangen tummelten sich zahlreiche Sommersprossen. Ihr rundliches Gesicht war von einem frechen Grinsen geziert und ihre dunklen Augen schienen schelmisch zu funkeln. Gerade als sie ihre Füße auf das Deck gesetzt hatte, drehte sie sich um und rief triumphierend nach unten: „Haha, ich war schneller! Das heißt du übernimmst übermorgen meine Schicht Putzdienst, mein lieber Lio!"
Besagter Lio kam nur kurz nach der Frau aus der Luke geklettert. Überrascht stellte ich fest, dass er fast genauso wie sie aussah, nur die Haare waren kurz geschnitten und seine Kleidung wirkte eher maskulin. Als er antwortete, sprach er sogar mit fast identer Stimme: „Solana, wie oft soll ich dir noch sagen dass Wetten nur gültig sind, wenn der Wettpartner auch zustimmt?" Die Frau, die offenbar Solana hieß, schnaubte nur abfällig. „Wir sind Piraten, seit wann interessieren wir uns für Regeln?" Lio seufzte nur, anstatt etwas zu erwidern.
„Ohhh, ist Lio schon wieder ein alter Spielverderber?", ertönte eine neue, spöttisch anmutende Stimme von unten. Nur wenige Momente später erhob sich elegant eine schlanke, hochgewachsene Frau in völlig schwarzer Kleidung aus dem Loch. Ihre Haut war selbst für die fast immer bewölkte Gegend rund um Koula sehr blass, und ihre beinahe weißen Haare folgten diesem Beispiel. Sie hatte eine Kurzhaarfrisur, die dennoch lang genug war, dass ihr Haarsträhnen in die Augen fallen konnten. Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie sich die störenden Strähnen aus dem Gesicht, was ebenso schmal war wie ihre Figur. Mit ihrer filigranen und lichten Erscheinung mutete sie beinahe überirdisch an. Doch das war noch nicht alles. Das Sonderbarste an ihr waren ihre Augen. Denn selbst aus etwas Entfernung konnte ich erkennen, dass sie von einem hellen Silber waren. Sie konnte unmöglich ein normaler Mensch sein. Vielleicht stammte sie von einer Gottheit ab. Aber von welcher konnte ich bei bestem Willen nicht sagen. Hoffentlich konnte ich das in Erfahrung bringen, wenn ich sie mal besser kannte. „Wie immer.", erwiderte Solana auf die Aussage der merkwürdigen Frau und verdrehte die Augen. „War ja klar dass du und Alecto euch mal wieder gegen mich verbündet.", stellte Lio resigniert fest. „Wer wird denn da so schnell eingeschnappt sein?" Solana sprang Lio, der ohne Zweifel ihr Bruder war, förmlich an und legte ihm kumpelhaft einen Arm um die Schulter. „Wir wollen ja nur, dass du auch mal ein wenig Spaß hast. Hab ich recht, Alecto?" Alecto nickte nur als Antwort und grinste die beiden Geschwister verschmitzt an.
„Wer sagt dass ich keinen Spaß ohne euch zwei Quälgeister habe?", murmelte Lio. „Du hast recht, alleine an der Reling zu stehen und vor dich hinzugrübeln oder ewig lang alleine mit deinen Zeichnungen in deiner Kajüte zu hocken sieht nach richtig viel Spaß aus." Solanas Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. „Manche Leute brauchen nicht täglich zehn Nahtoderfahrungen wegen irgendwelchen leichtsinnigen Aktionen um Spaß zu haben.", schoss Lio bissig zurück.
„So schlimm bin ich nun auch nicht!" Empört rückte Solana von ihrem Bruder ab und stemmte die Hände in Hüfte. Lio sah sie nur zweifelnd an. „Na gut, das eine Mal als ich kopfüber vom Mast gehangen bin, weil ich beim Herumturnen ausgerutscht bin und mich nur mein Sicherungsseil vor schweren Verletzungen bewahrt hat, war schon etwas übertrieben. Immerhin hatte ich Alecto als meine Stimme der Vernunft, die mir vorher noch gesagt hat, dass ich mich mit einem Seil absichern soll." Lios einzige Reaktion war ein langsames Kopfschütteln.
Er setzte sich als Erster von den Dreien in Bewegung und ging zu Artemia und mir hinüber. Als sein Blick auf mich fiel, lächelte er und stellte erfreut fest: „Wie ich sehe haben wir einen neuen Rekruten." Ich nickte, unfähig einen zusammenhängenden Satz zu bilden. Er hielt mir die Hand hin. „Ich bin Lio, wie du wahrscheinlich schon mitbekommen hast. Und du bist?" „Elea.", antwortete ich knapp und ergriff seine Hand. „Dann, willkommen auf dem Schiff Elea. Und lass dich von meiner Schwester nicht irritieren, sie ist eigentlich ganz nett, sie kann nur manchmal etwas anstrengend sein."
„Ich geb dir gleich anstrengend!", schimpfte Solana, die mittlerweile auch zu uns gestoßen war, und schob ihren Bruder grob zur Seite. Nun stand sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht direkt vor mir. „Hallo Elea, ich bin Solana! Hör nicht auf meinen langweiligen Bruder, sondern komm zu mir auf die Spaß-Seite. Wir haben auch Kekse!" Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. „Für Kekse bin ich natürlich immer zu haben!" „Perfekt!", strahlte Solana und warf sich beinahe an meinen Hals und umarmte mich. Für einen Moment versteifte ich mich und stand wie festgefroren da, dann umarmte ich sie zurück. Wenig später löste sie sich von mir. Plötzlich wurde ihr Ausdruck ganz ernst und sie meinte: „Auch wenn man Bruder ein ziemlicher Spielverderber sein kann, ich werde nicht zulassen dass er in irgendeiner Wesie verletzt wird. Deshalb: Er sieht zwar fast genauso aus wie ich und klingt auch wie ich da wir Zwillinge sind, er ist trotzdem ein Mann, verstanden?" „Äh, ja klar, natürlich.", stammelte ich überrumpelt. „Gut." Sie verschränkte selbstzufrieden die Arme vor der Brust. „Denn sonst-"
„Solana, es reicht.", mischte sich Lio ein und packte seine Schwester am Arm, um sie von mir wegzuziehen. „Schon gut, ich wollte es ja nur mal gesagt haben.", rechtfertigte sich Solana und hob abwehrend die Hände. „Das geht auch ohne Morddrohungen an unseren Neuzugang." „Du weißt doch gar nicht was ich sagen wollte!" Wieder einmal erntete Solana einen zweifelnden Blick von ihrem Bruder. „Wer keine Morddrohungen verkraftet, der hat auf einem Piratenschiff eh nichts zu suchen.", teilte sie Lio entschieden mit, dann drehte sie sich von ihm weg. Scheinbar war für sie die Diskussion beendet.
Nun trat Alecto an mich heran. Sie begrüßte mich nur mit einem Neigen ihres Kopfes, und ihr Gesichtsausdruck, vorher noch erheitert lächelnd, hatte sich in eine neutrale, beinahe distanzierte Fassade verwandelt. Mit einem kühl anmutenden Blick betrachtete sie mich, ehe sie zu sprechen begann: „Falls du nicht schwerhörig bist, wirst du bereits mitbekommen haben wie ich heiße, also können wir uns das ganze Vorstellungsprozedere sparen. Somit: Willkommen auf dem Schiff. Und bitte fass mit deinen unerfahrenen Händen nichts potenziell Gefährliches an, sonst kriegen wir eine Standpauke warum wir nicht besser auf dich aufgepasst haben." Mit den Worten ging sie zu Solana und Lio hinüber, die ein paar Meter entfernt an der Reling lehnten. Artemia lachte leise und beugte sich zu mir hinunter, um mir ins Ohr zu flüstern: „Nimm Alectos Verhalten nicht persönlich, sie braucht ein wenig Zeit um bei Fremden warm zu werden." Das beruhigte mich. Für einen Moment hatte ich die Befürchtung gehabt, dass mein erster Eindruck auf Alecto kein sonderlich guter war und sie sich deshalb so verhielt.
Artemia richtete sich wieder auf und erhob ihre Stimme, um sich bei der Dreiergruppe, die immer noch ein paar Meter von uns entfernt an der Reling stand, Gehör zu verschaffen: „Kann mir jemand sagen wo der Rest der Truppe abgeblieben ist?"
Alecto wollte schon zum Reden ansetzen, aber Solana kam ihr zuvor: „Callan und Levonya spielen ein taktisches Brettspiel gegen Yngwar und Eyasu. Da geht es irgendwie darum, sich ein Imperium aufzubauen oder so. Levonya nimmt dieses Spiel sehr ernst, und sie und Callan sind auch gerade am Gewinnen. Die wollen noch fertig spielen. Und Kyrian sitzt wie immer grüblerisch in einer Ecke."
Seufzend schüttelte Artemia den Kopf. „Eine Bande von Kindsköpfen hab ich mir da aufgegabelt. Und ohne mich haben sie auch noch gespielt. Ts." Sie sah zuerst mich an, dann die Dreiergruppe. Plötzlich klatschte Artemia in die Hände. „So, während die da unten noch dabei sind die Welt zu erobern oder was auch immer, werdet ihr drei", sie deutete auf Solana, Lio und Alecto, „den Anker einholen, während Elea und ich die Taue lösen. Wenn bis dahin die vier Möchtegern-Oberfeldwebel und Generäle nicht fertig sind, schleife ich sie an den Ohren hier hoch." Die drei sahen sich amüsiert an. „Nicht lang grinsen, an die Arbeit, zack zack! Oder wollt ihr bis morgen warten?", meinte Artemia streng und stemmte die Hände in die Hüfte, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen.
Solana salutierte und rief: „Aye aye Frau Kapitän, wir sind schon dabei!" Sie ging schnellen Schrittes zu der Stelle an der Reling, an der die Kette des Ankers befestigt war. Lio und Alecto hielten sich dicht hinter ihr. „Geht doch!", stellte Artemia zufrieden fest. „Dann machen wir uns auch mal an die Arbeit. Retour über die Planke aufs Festland!"
Sie drehte sich um und schritt energisch über die Planke wieder auf den steinernen Boden des Hafens. Kurz zögerte ich. Ein kleiner paranoider Teil von mir fragte sich, ob ich wirklich nochmal runtergehen sollte. Was wenn sie mich doch zurückließen? Der rationale Teil hingegen sagte, dass diese Zweifel Schwachsinn waren, warum sollte sich Artemia all die Mühe machen mich aufs Schiff zu bringen und vorzustellen, nur um mich dann doch sitzenzulassen? Entschieden schob ich diese Zweifel beiseite und ging ebenfalls über die Planke auf Artemia zu, die mich schon mit einem Lächeln am Steg erwartete.
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