𝑅𝑜𝑤𝑎𝑛
Ich saß auf dem harten Steinboden der Klippe. Der Wind zerrte an meinen langen, weißen Haaren und wirbelte sie durcheinander, nicht wenige davon direkt in mein Gesicht. In solchen Momenten wünschte ich mir, dass ich wie Topas nach Belieben meine Gestalt wandeln könnte. Dann würde ich mir für die Zeit auf der Klippe einen Kurzhaarschnitt verpassen. Momentan fragte ich mich, was mich überhaupt besessen hatte, mich von Moisha hierhin bringen zu lassen. Ich hätte auch einfach am Stadtrand eine Pause von den Menschenmassen machen können. Aber dann blickte ich wieder auf das Meer, das sich unvorstellbar weit zu erstrecken schien, bis es sich schließlich am Horizont mit dem bewölkten Himmel traf. Dieser Ausblick war jeden unangenehmen Felsboden und jede vom Wind ruinierte Frisur wert. Und nicht nur der Ausblick, sondern auch die Ruhe war es wert. Abgesehen vom Rauschen des Meeres und dem Heulen des Windes, manchmal durchbrochen von fernen Möwenschreien, war es still. Keine Menschen, kein Trubel. Nur ich allein mit meinen Gedanken.
Es stellte sich jedoch die Frage, ob es überhaupt so gut war, mit meinen Gedanken alleine zu sein. Denn seit meine Hand die des blonden Mädchens am Marktplatz berührt hatte, herrschte in meinem Kopf Chaos. In diesem Moment wurde mir eine sehr große und sehr seltene Ehre zuteil. Eine Ehre, von der ich nicht wusste, ob ich sie wollte oder ihr überhaupt gewachsen war. Saloma hatte mir eine Prophezeiung geschickt. Ausgerechnet mir, einer Paigha, die noch nicht einmal das Jahr nach der vollendeten Ausbildung hinter sich hatte, in dem man nach der alten Tradition durch die Welt reiste und Menschen half. Obwohl ich sie nur einmal gehört hatte, waren die Worte bereits wie in mein Gehirn gebrannt. Eine stete Erinnerung, dass dies nur der Anfang war.
Eines der ersten Dinge, die man in der sechsjährigen Ausbildung von zwölf bis achtzehn Jahren lernte, war, dass der Verkünder einer Prophezeiung von Saloma persönlich auserkoren war, die Erfüllung von dieser zu überwachen. Selbst Prophezeiungen waren fehlbar. Die Zukunft war nie in Stein gemeißelt, auch eine der ersten Lektionen. Da die Götter nach dem großen Krieg geschworen hatten, zu unserem eigenen Besten die Interventionen mit Sterblichen so gering wie möglich zu halten, half uns Saloma, so gut es ging aus dem Hintergrund. Dazu gehörte das Senden von Prophezeiungen an diejenigen, die sie für würdig erachtete. Dieser Gedanke entrang mir einen schnaubenden Lacher. Ich und würdig. Zwar war ich immer ein guter und vorbildlicher Schüler gewesen, aber nie außergewöhnlich gut oder talentiert. Und nicht nur das.
Mein Blick fiel auf den Rollstuhl neben mir, mit dem mich Moisha hierhergebracht hatte. Vor ein paar Jahren hatten mich die Heiler mit einer degenerativen Muskelerkrankung diagnostiziert. Zwar konnte durch ihre Heilmagie der oft schmerzhafte Muskelabbau verlangsamt und teilweise sogar rückgängig gemacht werden, aber da die Krankheit angeboren war, musste ich immer wieder zu den Heilern. In der Regel alle sechs Monate. Das war aber immer nur eine temporäre Lösung und deshalb konnte ich den Großteil der Zeit nur schwer aufrecht stehen, geschweige denn gehen. Selten hatte ich auch gute Tage. An denen tobte ich dann gerne wie ein kleines Kind herum, während Moisha und Topas ein wachendes Auge über mich hatten. Aber alles in allem war ich eine absolut ungeeignete Wahl, um der Hüter einer Prophezeiung zu sein. Saloma musste wohl verwirrt gewesen sein, als sie ihre Wahl getroffen hatte.
Ich seufzte. „Wer wird denn da so grüblerisch sein?", ertönte plötzlich eine Stimme von irgendwo hinter mir. Prompt zuckte ich heftig zusammen und konnte ein erschrockenes Aufkeuchen nicht unterdrücken. Schon im Umdrehen war mir klar, dass Topas hinter mir sein würde. Und da lag sie, er oder wie auch immer man Topas ansprechen wollte. Ihr war das völlig egal, solange er Unfug treiben konnte, war er glücklich. Wie jetzt. Topas lag hinter mir auf dem Boden in einer Pose, als ob sie sich jetzt malen lassen wollte. Obwohl das dreckige hellbraune Hemd, das er trug, nicht dafür sprach. Dabei kaute er lasziv auf einem Grashalm herum, von dem ich nicht wusste, woher er ihn überhaupt hatte, da auf den Klippen kein Gras wuchs. „In was hast du dich diesmal verwandelt, dass du dich so an mich anschleichen konntest?", fragte ich sie. Topas Antwort bestand nur aus einem übertrieben nachdenklichen Blick. Seine Augen, von denen wie üblich eines gelb und eines violett war, waren in gespielter Konzentration gen Himmel gerichtet. Ein paar Strähnen ihres Haares, das irgendwo zwischen kurz und schulterlang war, fielen ihr in die Augen.
„Ich weiß es nicht.", gab Topas zu und schüttelte langsam den Kopf. „Vielleicht war ich eine Katze." Ihr Körper begann weiß zu schimmern und sie verwandelte sich eine elegante Schildpattkatze, die schnurrend um mich herumstrich. Dann verwandelte sich Topas kurz zurück, nun wie eine Katze, die auf Streicheleinheiten wartete, am Boden liegend. „Oder auch ein kleiner Vogel.", überlegte er weiter und im nächsten Moment flatterte ein Vogel mit gelben, schwarzen, weißen und violetten Federn bunt durchmischt in seinem Gefieder um meinen Kopf herum. Dabei trällerte er nervtötend in mein Ohr. Wieder nahm Topas kurz menschliche Gestalt an, um mich schelmisch anzusehen. „Es könnte aber auch sein, dass ich eine Schlange war.", sagte sie betont philosophisch und wieder befand sich im nächsten Moment ein Tier vor mir. Eine Kobra mit einem beeindruckenden Nackenschild, die mich zischelnd ansah. Sie versuchte, in dieser Gestalt zu lächeln. Allerdings mit eher mäßigem Erfolg. „Du siehst aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen.", informierte ich die Topas-Kobra trocken, konnte mir aber ein Grinsen nicht verkneifen.
„Du hast gelacht!", rief Topas, der nun wieder ein Mensch war und es endlich mal geschafft hatte, sich normal mir gegenüber zu setzen. „Mission erfüllt.", meinte sie selbstgefällig. „Du hättest auch einen Witz erzählen können. Alter Angeber." „Wo bleibt denn die Fantasie oder der Spaß bei einem Witz?", empörte sich Topas. „Seh ich etwa so aus, als hätte ich nichts Besseres als lahme Witze im Angebot?" „Es war nur eine Feststellung Topas, nimm es nicht gleich persönlich.", erklärte ich, mittlerweile leicht genervt. Normalerweise hatte ich sehr viel Geduld und machte Topas Späße gerne mit, aber die Sache mit der Prophezeiung zerrte an meinen Nerven. „Was ist, wenn ich es aber persönlich nehme?", fragte er gespielt trotzig und verschränkte die Arme. Meine Antwort bestand nur aus einem resignierten Blick. Erst da begriff Topas, dass jetzt nicht die Zeit für Witze war. Sie hatte oft Probleme, einzuschätzen, wann ihre Witze zu weit gingen oder gerade unangebracht waren. Im Nachhinein tat es ihm aber immer leid.
Topas setzte gerade zu etwas an, das vermutlich eine Entschuldigung werden sollte, da wurden wir beide vom Geräusch mächtiger Schwingen abgelenkt. Wie auf ein Kommando sahen wir beide nach oben. Niemand von uns war überrascht, als wir Moisha auf ihrer Stute Diomeda über den Himmel gleiten sahen, die feurigen Flügel des Tieres strahlend hell wie eine kleine Sonne vor dem eintönig grauen Himmel. Die beiden drehten übermütig eine Runde in der Luft, ehe sie zur Landung ansetzen. Sie kamen in irrsinnigem Tempo, wie ein unaufhaltsamer Komet, auf uns zu. Ich blieb ruhig sitzen, da ich wusste, dass weder Moisha, noch Diomeda uns irgendwie gefährden wurde. Topas hingegen schien sich dem nicht zu sicher sein, den der verwandelte sich prompt in eine fauchende Katze und sprang auf meinen Schoß. Kurz bevor sie uns erreicht hatten, machte Diomeda eine abrupte Wendung und landete schließlich neben uns. Sie brauchte ein paar Galoppsprünge, um stehen zu bleiben. Moisha schwang sich leichtfüßig von ihrem Rücken und ging mit kraftvollen Schritten zu uns hinüber. Ihre Stute folgte ihr auf Schritt und Tritt, die Flügel nun eng an den Körper gefaltet.
„Na, hat da jemand Angst bekommen?", fragte Moisha mit einem belustigten Blick auf Topas, der immer noch in Katzengestalt mit gesträubtem Fell auf meinem Schoß lag. Sie setzte sich mir schräg gegenüber. Im selben Moment sprang Topas mit einem entrüsteten Miauen auf und verwandelte sich zurück. „Ich und Angst? Pff!", gab er sich völlig unberührt. „Natürlich, du doch nicht.", zog Moisha ihn auf, eine Augenbraue skeptisch hochgezogen. „Was soll der Blick? Ich hab doch keine Angst vor einem Pferd mit Flügeln!", erklärte sie selbstsicher. Moisha und ich schenkten ihm beide einen zweifelnden Blick. Das erwähnte Pferd mit Flügeln schien das wohl auch nicht ganz zu glauben, denn Diomeda schnaubte lautstark, als würde sie lachen. Topas verschränkte trotzig die Arme und schien kurz etwas Bissiges erwidern zu wollen, ließ es dann aber. „Ich werde euch schon noch beweisen, dass ich keine Angst vor Pferden habe." Ihr Blick wanderte von Diomeda zu mir. „Was ich nämlich eigentlich fragen wollte, bevor Frau Dramatischer-Auftritt hier-", dabei beäugte er Moisha kritisch, „Mich unterbrochen hat: Was ist los mit dir, Rowan?" Aller Spaß und gespielte Gekränktheit waren aus ihrer Miene verschwunden, nun stand ihr echte Sorge ins Gesicht geschrieben. „Seit unserem ersten Tag hier verhältst du dich komisch.", fuhr er fort.
„Stimmt.", pflichtete ihr Moisha bei. „Du redest kaum was, bist noch mehr in Gedanken verloren als sonst, und selbst Topas bringt dich selten zum Lachen. So kenne ich dich gar nicht." Nun saß ich hier, zwei Paar Augen besorgt auf mich gerichtet. Toll. Ich hatte den beiden noch nicht von der Prophezeiung erzählt. Wie sollte ich auch jemals die Worte dafür finden, dass ich nun einen anderen Weg als sie einschlagen musste? Es wäre undenkbar, dem Ruf von Saloma nicht zu folgen. Doch das stand unserem Plan, die Welt zu bereisen und unser Geld mit Auftritten zu verdienen, im Weg. Und ich konnte unmöglich von den beiden verlangen, das nur für mich aufzugeben.
Nachdem mich beide aber erwartungsvoll anstarrten, blieb mir wohl keine andere Wahl, als ihnen alles zu erzählen. Ich holte einmal tief Luft, ehe ich anfing zu reden: „An unserem ersten Tag hier habe ich ja den Leuten Ratschläge hinsichtlich ihrer Zukunft erteilt. Unter den Leuten war jemand, über den Saloma wohl eine Prophezeiung verfasst hat. Und scheinbar bin ich derjenige, der die Erfüllung dieser Prophezeiung überwachen sollte." Nervös fing ich an, mir eine Haarsträhne um den Zeigefinger zu wickeln. Allein der Gedanke an diese riesige Verantwortung war mir zu viel. Nach einer kurzen Pause fuhr ich fort: „Das heißt, ich muss diese Person finden und ihr Beistand leisten. Das wiederum bedeutet, dass sich unsere Wege trennen." Beim letzten Satz ließ ich den Kopf hängen.
Für einen Moment sahen mich Moisha und Topas nur still an. Topas meldete sich als Erstes zu Wort: „Also im Witze reißen bist du wirklich nicht sehr gut." Er schüttelte langsam den Kopf. Verwirrt hob ich den Kopf und blickte ihn an. Sie betrachtete mich mit einem ungläubigen Blick, als hätte ich den Verstand verloren. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir dich alleine lassen?" Er gab ein empörtes Schnaufen von sich und verschränkte trotzig die Arme. „Ein bisschen mehr Vertrauen in dein Team, wenn ich bitten darf!" Moisha, die sich sonst eher wenig enthusiastisch gab, rief voller Inbrunst: „Genau!".
Ich konnte es kaum glauben. Obwohl ich erst wenige Monate bei ihnen war und die beiden sich gegenseitig bereits länger kannten, wollten sie mich begleiten und mich unterstützen. „Das würdet ihr wirklich für mich tun?", hakte ich nach. „Klar doch!", rief Topas enthusiastisch und zwinkerte mir zu. „Natürlich.", pflichtete ihr Moisha bei und sah mich mit einer ungewohnten Wärme in ihren Augen an. Normalerweise war die mächtige Halbgöttin eher zurückhaltend und reserviert. Selbst uns, ihre Freunde, ließ sie selten hinter ihre gefasste und selbstsichere Fassade spähen. Ganz im Gegensatz zu Topas, der immer ein offenes Buch war. Wie sich die beiden jemals angefreundet hatten, war ein Rätsel, das ich vermutlich nie lösen würde.
Während ich noch von Moishas dunklen Augen gefangen war, fing Topas schon wieder an zu reden: „Also, nachdem das geklärt ist, können wir ja wieder zurück, oder?" Er sah mich fragend an. Ich nickte nur. Daraufhin wollte ich mich aufraffen. Bevor ich allerdings dazu kam, war Moisha aufgestanden und hatte mich vom Boden aufgehoben, als würde ich nichts wiegen. Obwohl ich zugegebenermaßen durch meine Erkrankung sehr dünn und leicht war. Allerdings geriet dieser Gedanke schnell in den Hintergrund, denn war ich mir der Berührung ihrer beiden Arme jede Sekunde bewusst, einer stützend bei meinen Knien, der andere an meiner Taille. Moisha hatte mich schon zuvor so getragen. Doch bis jetzt hatte sie nie so energisch die Initiative ergriffen.
Als ich sie fragen wollte, wo sie gedachte mich abzusetzen, hatte sie mich bereits auf Diomedas Rücken gehievt. Die Stute hielt ihre feurigen Flügel gerade so weit von ihrem Körper weg, sodass ich mich nicht verbrannte. Ich lächelte Moisha voller Freude an. Sie wusste, dass ich das Reiten geliebt hatte, bevor meine Muskelkrankheit schlimmer geworden war. Deshalb ließ sie mich manchmal für kurze Zeit im Schritt auf Diomeda reiten. Es war nicht dasselbe wie im vollen Galopp dahinzupreschen, doch es war dennoch immer wieder ein fantastisches Gefühl. Einfach nur den warmen Pferdekörper unter mir zu spüren, den leichtfüßigen Schritt von Diomeda. Moisha schien meine Freude zu spüren, denn sie schenkte mir ein kleines Lächeln. Topas hingegen fühlte sich dazu bemüßigt, sich über meinen Sitz lustig zu machen. Ich ignorierte sie einfach und grinste weiter vor mich hin. Vielleicht war doch alles nicht so schlimm. Vielleicht würde sogar alles gut werden.
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