Prolog
Ein Blitz zerriss das Firmament des Himmels und schlug mit einem ohrenbetäubenden Krachen in das aufgewühlte Meer ein. Die Wellen türmten sich auf, schäumten und wüteten und vernichteten alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Dunkle Wolken verhangen bedrohlich den Himmel. Donner vibrierte beständig durch die Luft. Es war, als würde die Welt untergehen. Als wollten die Wolken die Sonne verschlingen. Als wollte das Meer das Land erobern. In gewisser Weise war es so.
Eine Frau, klein und unscheinbar in dem tobenden Sturm, der alles zu zerreißen drohte, stand auf einem Felsvorsprung an den schroffen Klippen. Gerade außer Reichweite der meterhohen Wellen, die wild und ungezügelt gegen den harten Stein schlugen. Gischt spritzte zu ihr hoch und bedeckte ihr Gesicht mit kleinen Tröpfchen, die bei jedem Blitz aufleuchteten wie kleine Edelsteine. Scheinbar gleichmütig beobachtete sie den tosenden Ozean, ihr schlichtes, weißes Kleid heftig im Wind flatternd. Der Blick aus ihren Augen, die jeden erdenklichen Blauton des Meeres aufwiesen, schweifte in die Ferne. Und trotz ihrer leicht zu übersehenden Gestalt im Angesicht des zürnenden Sturms, trotz ihres zerzausten Haares, das genau so weiß schien wie ihr Kleid, trotz ihrer entrückten Miene, strahlte sie etwas Anmutiges und Königliches aus.
Der Grund dafür war, dass diese Frau niemand Geringeres als Audra war, die Göttin des Meeres. Ungeachtet des Gewittersturms, der ihr die Kontrolle über ihr eigenes Herrschaftsgebiet entzog, wirkte sie ruhig, beinahe abwartend. Es dauerte nicht lange, da erschien jemand in einem grellen Blitz vor ihr. Der Neuankömmling überragte Audra um einiges, sein grobschlächtiger, massiger Körper ließ sie noch kleiner und zarter erscheinen. Auch seine wilde, dunkle Haarpracht, der ungepflegte Vollbart, sowie die von Blitzen durchzuckten Augen verstärkten den Kontrast zwischen den beiden. Ein barbarischer Krieger, der neben einer edlen Göttin stand.
„Myrosk." Eine Feststellung. Audra musste ihre Stimme nicht einmal erheben, damit die Energie und Macht darin den Donner im Hintergrund übertönte, ihn unwichtig erscheinen ließ. „Audra." Ihr Gegenüber, Myrosk, schaffte es, selbst ihren Namen nur so vor Spott und Verachtung triefen zu lassen. „Was ist das, ein letzter, verzweifelter Versuch, mich aufzuhalten?" Ein dröhnendes Lachen hallte durch den Sturm, vermischte sich mit dem Tosen der Wellen, dem Krachen des Donners und dem schaurigen Heulen des Windes. Triumph glitzerte in seinen Augen, in denen derselbe Sturm wie über dem Meer zu wüten schien. Er fixierte Audra mit seinem Blick. Diese sah ihn nur ruhig an, nicht gewillt, auch nur den Bruchteil einer Sekunde wegzusehen. Wieder ertönte von Myrosk Gelächter, diesmal allerdings leiser. „Ich habe alle Götter, die sich gegen mich gewandt haben, vernichtet. Alle Halbgötter, die es wagten, sich gegen mich aufzulehnen, wurden zu Asche. Alle Heere, die die Menschen in ihrem aussichtslosen Kampf gegen meine Krieger ausgeschickt hat haben, wurden in Grund und Boden gestampft. Und du, liebe Schwester, willst mich aufhalten?"
„Du vergisst, dass auch ich eine der alten Götter bin. Genau wie du weile ich seit Anbeginn der Zeit auf dieser Welt. Die Götter, die du vernichtet hast, waren einstige Halbgötter, die wir erst erschaffen hatten. Sie waren nicht ansatzweise so mächtig wie wir. Nicht ansatzweise so mächtig wie ich." Nun funkelte sie ihn herausfordernd an. Myrosk sah auf sie herab, sowohl metaphorisch als auch bildlich gesprochen. Er sah in ihr keine Bedrohung. Dennoch musste sie, jetzt, da sie sich gegen ihn auflehnte, sterben.
Myrosk streckte die Hand aus und ein Speer erschien darin. Der Griff war aus schlichtem, dunklen Holz, in das Blitzmuster eingraviert waren. Die große, metallene Spitze knisterte nur so vor Elektrizität. Langsam erhob er den Speer. Er kostete den Moment aus. Es war das erste Mal, dass er jemanden tötete, der ihm ansatzweise ebenbürtig war. Die Macht, die er dabei erhalten würde, überstieg sein Vorstellungsvermögen. Nachdem Audra tot war, wäre er wahrhaftig unbesiegbar.
So schnell wie die Blitze, die ihm überall hin folgten, stieß er zu. Scheinbar mühelos fuhr der Schaft des Speers durch Audras Herz. Als er zustieß, huschte zum ersten und letzten Mal ein flüchtiger Ausdruck der Angst über Audras Züge. Weiß leuchtende Flüssigkeit, das Blut der Götter, strömte auf die scharfkantigen Steine des Felsvorsprungs. Audra keuchte, das einzige Zeichen für die Qualen, die sie erlitt. Dennoch lächelte sie. Das Rauschen des Meeres, obgleich es nicht mehr ihrer Kontrolle unterlag, beruhigte sie. Und das Wissen, dass sie gewonnen hatte.
Myrosk wich einen Schritt zurück, als er den wohlbekannten Ausdruck des Sieges in den Augen seiner Schwester leuchten sah. Plötzlich durchfuhr ihn ein stechender Schmerz. Er sah an sich herab. Blau leuchtende Risse arbeiteten sich langsam an seinen Armen hoch, ungekanntes Leiden mit sich bringend. „Was hast du mit mir gemacht?", zischte er zwischen angestrengt zusammengebissenen Zähnen hervor. „Penyre und ihr Volk haben einen Zauber erschaffen, der dich an den Grund des tiefsten Grabens des Meeres fesseln soll." Gequält verzog Audra das Gesicht und holte rasselnd Luft. „Der Preis dafür ist mein Leben. Für die Durchführung musste ich nur auf deinen Hochmut zählen." Erneut pausierte sie. Dann hauchte sie entkräftet: „Du hast dir selbst dein Grab geschaufelt, Bruder." Die Stärke, mit der sie sich bis jetzt noch halbwegs aufrecht gehalten hatte, verließ sie nun komplett. Erschöpft sank sie auf den harten Fels.
„Du... Miststück!", schnaufte Myrosk verbissen. Die blauen Risse erschienen nun auch auf seinem Gesicht. „Vielleicht hast du jetzt gewonnen, aber du kannst mich nicht ewig festhalten. Ich werde wiederkommen!" Der Schmerz wurde immer schlimmer, fachte seinen Zorn immer weiter an. „Hörst du mich?", brüllte er erbost. „Ich werde wiederkommen!" Dann löste sich seine Gestalt auf und er war fort, sein Schrei noch nicht einmal verklungen.
Sofort hörte das Gewitter auf, die rasenden Wellen beruhigten sich langsam. Auch die beinahe schwarzen Wolken wichen allmählich zurück. Trotz der Tatsache, dass Myrosk verbannt war, fand Audra keinen Frieden. Denn er hatte recht. Sie konnte ihn nicht für immer festhalten. Irgendwann, auch wenn es Jahrtausende dauerte, würde er wieder freikommen. Ihr Atem ging immer flacher. Sie durfte nicht sterben. Audra war als Einzige bereit gewesen, sich für das Überleben der Welt zu opfern. Wenn sie nicht mehr war, wer sollte dann Myrosk aufhalten?
Das war ihr letzter Gedanke, ehe mit einem leisen Seufzen alle Luft aus ihren Lungen wich, ehe der Glanz dieser ungewöhnlich blauen Augen verschwand und Audra blicklos gen Himmel starrte. Reglos lag die Göttin da, das beständige Rauschen des Meeres das einzige Geräusch. Als hätte die Welt selbst für einen Moment den Atem angehalten, um ihren Verlust zu betrauern. Ein paar Sekunden der Stille verstrichen, dann begann Audras Körper, die sterbliche Hülle, in der sie ihr göttliches Wesen gebannt hatte, zu verblassen. Als nur noch ein Fleck weiß schimmernden Blutes von der Gräueltat zeugte, die an dieser Klippe stattgefunden hatte, begann der Wind wieder zu heulen und die Möwen schrien, als wäre nie etwas passiert.
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