Entscheidung ohne Mitspracherecht (2/3)

𝐴𝑣𝑎𝑛𝑚𝑜𝑟𝑎

Der Rückweg nach Sircadis war in Schweigen gehüllt. Wenn Venilia, die sonst um kein Wort verlegen war, so still war, dann musste der Unmut meines Vaters astronomische Ausmaße haben. Mir wurde ganz klamm und ein Kloß bildete sich in meiner Kehle bei dem Gedanken, ihm gleich gegenübertreten zu müssen. Als schließlich die sandfarbenen Mauern der Gebäude in Sircadis in Sichtweite waren, krampfte sich mir der Bauch zusammen. Gleichzeitig stieg Übelkeit in mir auf. Alles in mir schrie danach, wieder kehrtzumachen. Doch Vaters Befehle nicht sofort zu befolgen würde noch schlimmere Konsequenzen haben. Keine, die mir physisch Schaden zufügen würden. Nein, das würde seinen Ruf ruinieren. Mein Vater war Meister in der psychologischen Folter. Ich kannte alle seine Taktiken, da ich sie selber hatte lernen müssen im Zuge des Unterrichts. Und doch war ich nicht stark genug, um mich ihm zu widersetzen. Seine Lieblingsmethode war, mich zu isolieren und ohne jegliche Beschäftigung in einem leeren Raum schmoren zu lassen. Man könnte nun glauben, dass das doch gar nicht so schlimm sei. Aber für einige Stunden nichts außer einer Gittertür und Wänden aus sandfarbenem Gestein um sich zu haben zermürbt einen. Mein Glück war meine lebhafte Fantasie. Ohne die fantastischen Welten, in die ich mich während der Stunden in der Zelle versetzte, wäre ich wahrscheinlich schon längst verrückt geworden. So wie die Kriegsgefangenen, von denen die Alten manchmal erzählten. Wenn man für Monate von jeglichen Reizen abgeschirmt war, konnte das einen brechen. Daran hatte ich keine Zweifel.


Wenig später waren wir bereits angekommen. Wir schwammen über den Köpfen der anderen Neeru hinweg zwischen hohen, eckigen Bauten aus Sandstein hindurch. Unter uns war reger Betrieb, es wurde geschwatzt, eingekauft, gegessen und noch vieles mehr. Allerdings nahm ich das nur nebensächlich wahr, da meine Gedanken immer noch um mein bevorstehendes Treffen kreisten. Worum denn auch sonst? Ich malte mir zahlreiche Bestrafungen aus, die er mir auferlegen könnte aufgrund meiner „mangelnden Disziplin". Ich zog nicht einmal ansatzweise in Erwägung, dass er nur sehen wollte, wie es mir ging. Nein, so naiv war ich schon lange nicht mehr. Er interessierte sich nur dafür, ob ich auch die Vorzeige-Tochter war, die er haben wollte. Und da ich die meistens nicht war, sah er die Notwendigkeit, mich von Zeit zu Zeit zu maßregeln. Das waren die einzigen Anlässe, an denen ich ihn jemals gesehen hatte. Wieso also sollte es diesmal anders sein?


Viel zu schnell waren wir an dem imposanten Eingangstor des Hauses, in dem ich wohnte. Als General hatte mein Vater reichlich Geld zur Verfügung, weshalb auch unsere Behausung um einiges größer als die des Durchschnitts war. Zudem war die Türe nicht einfach nur aus schlichtem Sandstein, wie es sonst üblich war. Die bogenförmige, zweiflügelige Türe besaß Fenster aus bunten, geschliffenen Steinen, die man manchmal in Schiffswracks fand. Sie waren teuer, weshalb man sie eher als Schmuck verwendete. Aber der Erbauer, ein Vorfahre meines Vaters, hatte wohl ebenfalls zu viel Geld gehabt und eine gewisse Vorliebe für Luxus, denn sämtliche Fenster waren aus diesen Steinen gefertigt. Auch die Inneneinrichtung entsprach diesem extravaganten Standard. Von magisch präservierten Menschengemälden bis hin zu kristallinen Kronleuchtern besetzt mit leuchtenden Mikroorganismen fand man alles.Vor der Türe waren zwei Wochen, die mit grimmigem Blick stoisch geradeaus starrten. Als ich näherkam, nickten sie mir zum Gruß zu und öffneten dann die Tore. Ich sah Venilia an, die mir den ganzen Weg nicht von der Seite gewichen war. Sie konnte nicht mit hinein, da niemand, der nicht explizit von meinem Vater eingeladen war oder bei ihm angestellt war, das Haus betreten durfte. Sanft tätschelte sie mir die rechte Schulter und sah mich mitleidig aus ihren großen, grünen Augen an. „Viel Glück!", wisperte sie mir zu, ehe sie umkehrte und davonschwamm, ihr auf und ab schlagender Fischschwanz schnell kleiner werdend. „Das werde ich auch brauchen.", murmelte ich zu mir selbst. Dann straffte ich die Schultern und nahm einen tiefen Atemzug. Ich war nicht bereit, meinem Vater gegenüber zu treten. Das war ich nie. Aber ich konnte zumindest versuchen, so zu wirken als wäre ich es.


Ich schwamm zügig, aber gemäßigt durch die Eingangshalle, um möglichst schnell voranzukommen und dabei noch anmutig auszusehen. Wie es sich für eine Vorzeige-Tochter gehörte. Schon in dieser Halle merkte man das edle Interieur. Zwischen bunten Rundbogenfenstern hingen wertvolle Gemälde. Wenn man genauer hinsah, merkte man einen leichten Schimmer. Das war die Magie der Ogya, mit denen wir oft zusammenarbeiteten, die das Wasser davon abhielt, Farbe und Leinwand über die Zeit abzutragen und zu zersetzen. Dasselbe Prinzip wandten wir auf Menschenbücher an, um deren Wissen zu erhalten. Oben an der hinaufgewölbten Decke hingen kristalline Kronleuchter, die durch das diffuse Licht unter Wasser mystisch funkelten.


Ansonsten wirkte die Halle beinahe gespenstisch leer. Eine geschickte Taktik, um einerseits seinen Wohlstand eindrucksvoll vorzuführen und andererseits durch die Abwesenheit anderer Einrichtung ein Gefühl des Unbehagens bei Besuchern auszulösen. Niemand sollte sich zu wohl fühlen, sonst würde die Machtposition des Hausherrn nicht so zur Geltung kommen. Mir kam es so vor, als wäre das nicht nur auf Besucher bezogen. Außerhalb meines Zimmers spürte ich in jedem Winkel den militärischen Grundgedanken, der sich hinter dem Prunk verbarg. Der Erbauer hatte nichts dem Zufall überlassen, alles war sorgfältig geplant und angelegt worden. Als wäre der Bau eines Zuhauses nicht mehr als eine andere Form einer Schlacht oder ein gerissener taktischer Schachzug.


Nachdem ich den Gang durchquert hatte und vor der Tür, die zum Speise- und Versammlungssaal angelangt war, die eine kleinere Version der Eingangstür war, sammelte ich mich noch einmal innerlich, ehe ich den rechten Flügel der Tür aufstieß und mit bemüht selbstsicherer Miene in den Raum hineinglitt. Vater hasste es, wenn ich Unsicherheit zeigte. Unterwürfigkeit jedoch war geduldet, sogar erwünscht. Allerdings nur gegenüber Personen über meines Ranges. Alle unter meinem Rang sollten mir wiederum hörig sein. In seiner Welt bestand alles aus klaren Hierarchien, dienen und bedient werden. Titel waren das Wichtigste, was es gab und die Person hinter ihrem Titel spielte keine Rolle. Man musste nur wissen, wo man stand und sich dementsprechend verhalten.


So wie auch jetzt. Mein Vater war einer der mächtigsten Männer des gesamten Reichs Osmeoke. Weshalb ich ihm bei meinem Eintreten den gebührenden Respekt erwies und Kopf senkte und dabei die rechte Hand auf meine Brust legte. Der Gruß für Höherstehende. „Sei gegrüßt, Tochter.", empfing er mich mit einem so frostigen Tonfall, dass es ein Wunder war, dass das Wasser in dem großen Raum nicht gefror. Zumal er wirklich in der Lage war, dies geschehen zu lassen. Doch das war vermutlich selbst für einen so kaltherzigen Mann wie ihn nicht besonders gesundheitsfördernd, nahm ich an. „Sei gegrüßt, Vater.", gab ich zurück und hob dabei meinen Kopf. Man durfte erst aufsehen und sprechen, wenn der Ranghöhere einen begrüßt hatte. Mein Vater thronte beinahe königlich auf einem der Liegestühle am Ende eines großen, ovalen Tischs aus Quarzgestein. Die Stühle, auf denen man halb saß und halb lag, waren ebenfalls aus diesem Material. Der Rest des Raumes war ebenfalls so eingerichtet wie die Eingangshalle.


Jedes Mal aufs Neue, wenn ich meinem Vater gegenübertrat, war ich schockiert, wie ähnlich er mir sah. Wie eine ältere, muskulösere und männliche Version von mir. Er hatte dieselbe türkis-blaue Schwanzflosse, dieselbe blassblaue Haut und dieselben türkis-blauen Augen, die gerade auf mich geheftet waren und mich mit einem respekteinflößenden Blick fixierten. Sein weißes Haar war auf einen Zentimeter getrimmt: Ein typischer Haarschnitt für Soldaten, egal welchen Geschlechts, aufgrund seiner Funktionalität.


„Komm, setz dich!", forderte mich mein Vater auf und deutete auf einen Stuhl auf der langen Seite des Tischs. Folgsam gehorchte ich seinem Befehl, schwamm bis zu ihm hinüber und ließ mich dann auf dem Stuhl nieder. Mein Herz hatte hektisch zu schlagen begonnen, je näher ich ihm gekommen war. Nun schien es mir förmlich aus der Brust springen zu wollen. Krampfhaft versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen und stattdessen die scheinbar unberührte Miene meines Vaters zu imitieren. Wie viel Erfolg ich dabei hatte, konnte ich nicht sagen.


„Es betrübt mich zu hören, dass du in meiner Abwesenheit ein gar fahrlässiges Verhalten an den Tag gelegt hast.", begann mein Vater seine Standpauke. Sein Blick, der unverwandt auf mir ruhte und sich förmlich in mich bohrte, sandte mir kalte Schauer über die Haut. „Nicht nur hast du mehrmals dein Kampftraining geschwänzt. Du hast dich auch von deinen Freunden und diesen vermaledeiten Fantasiegeschichten ablenken und Flausen in den Kopf setzen lassen." Er machte eine bedeutungsvolle Pause, die mich schlucken ließ. „Ich muss dir wohl nicht erklären, dass dies äußerst unprofessionell ist." Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte langsam.


Er schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Ich habe so lange Geduld und Nachsicht bewiesen. Habe dir so viele Chancen gegeben, nur um immer wieder enttäuscht zu werden. Du lässt mir keine andere Wahl." Mit falschem Bedauern in seinem Blick betrachtete er mich. Stocksteif saß ich da, während meine Gedanken rasten, versuchend zu erraten, welche Strafe er mir auferlegen würde. „In vierzehn Tagen kommen Rekrutierer in die Stadt, um frisches Blut in die Armee zu bringen. Du wirst mit ihnen gehen und beitreten. Dort gibt es keine Ablenkungen und du wirst Disziplin und Integrität lernen."


Sein bedauernder Blick verschwand wieder und präsentierte wieder die Abwesenheit von jeglichen Gefühlen. Kalt. Unberührt. So wie er immer gewesen war. Ob er wusste, dass er mir gerade meinen größten Alptraum als Strafe auferlegt hatte, und es war ihm einfach schlichtweg egal? Oder kannte er mich, seine Tochter, so wenig, dass ihm nicht einmal klar war, dass er mich in meine persönliche Hölle schickte. Im Endeffekt war es egal, denn das Resultat blieb dasselbe. Ich wollte schreien und toben. Wut brodelte in mir und verlangte danach, ausbrechen zu dürfen, während in meinem Kopf gleichzeitig eine seltsame Taubheit herrschte. Ich hatte schon immer gewusst, dass ich meinem Vater nichts bedeutete. Aber zumindest hatte es noch andere Leute gegeben, denen ich etwas bedeutet hatte. Wenn ich nun der Armee beitreten musste, verlor ich selbst das.


Da es für mich nicht noch schlimmer werden konnte, erhob ich mich abrupt und verließ ohne ein Wort den Raum. Selbst wenn ich wollte, konnte ich mich nicht gegen ihn auflehnen. Ich war erst siebzehn und bis achtzehn hatten die Eltern noch komplette Befehlsmacht über ihre Kinder. Also machte ich das Einzige, was mir noch übrig blieb und schwamm, so schnell ich konnte davon, so schnell das alles um mich herum undeutlich wurde. Doch leider blieb die Realität dabei so klar wie der Himmel an einem sonnigen Tag.

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