Einmalige Chance (1/3)

𝐸𝑙𝑒𝑎

Ich zwängte mich durch eine Menschentraube, die sich unpraktischerweise mitten auf meinem Weg gebildet hatte. Es war eine wahre Ansammlung älterer Leute, vereinzelt auch Jüngere, die sich alle vor Frau Masiks Laden drängten. Aufgeregtes Getratsche übertönte jedes andere Geräusch. Satzfetzen, die ich vereinzelt aufschnappte, verrieten mir, dass heute scheinbar eine neue, spezielle Teesorte in ihr Sortiment aufgenommen wurde. Wie ich eher unfreiwillig mitbekam, wurde sie vom südlichen Kontinent aus importiert, dem Reich Selatan. Das war ziemlich weit weg, was wohl den Tee so besonders machte, dass dutzende Menschen darum Schlange standen. Sehr zu meinem Ärgernis, da sie den Durchgang zur Gasse blockierten, die zum Hafen führte. Meine Mutter, die gerade beim Bäcker Baro einkaufte, hatte mich dorthin geschickt, um meinem Vater und Kei zu helfen. Um die Mittagszeit lagerten sie stets ihren bisherigen Fang ein, damit er länger frisch blieb, bevor sie sich nach einer kurzen Pause wieder in die Fluten wagten. Und da Ru, wen überraschte es, nicht auffindbar war, musste mal wieder ich einspringen. Wenn ich ihn nicht so gerne hätte, hätte ich meinen ältesten Bruder schon längst den Fischen zum Fraß vorgeworfen. Oder ihn den weithin verrufenen Meermenschen ausgeliefert, die angeblich Kinder, die sich zu weit ins Wasser gewagt hatten, ertränkten. Mit seiner Geisteshaltung konnte man Ru locker als Kind ausgeben.


Nachdem ich endlich durch die eher langsam ausweichende Menge gekommen war, atmete ich tief durch. Meine eher unterdurchschnittliche Geduld war bereits überstrapaziert, weshalb ich beinahe durch die Gasse rannte, um schnell am Hafen zu sein. Dabei übersah ich leider einen Eimer Wasser, der am Wegesrand abgestellt war. Ich stolperte darüber, was den Eimer natürlich umwarf. Mit einem metallenen Klirren schlitterte er über die Pflastersteine. Damit war das Chaos aber noch nicht komplett, nein. Der Inhalt musste sich auch über eine friedlich vor sich hindösende Katze ergießen, die daraufhin fauchend und mit gesträubtem Fell aufsprang und pfeilschnell wegrannte. Hastig bückte ich mich und stellte den Eimer wieder an seinen ursprünglichen Platz. Dann machte ich mich eilig daran, weiterzugehen.


Missmutig steckte ich meine Hände in die Hosentaschen. Heute schien nicht mein Tag zu sein. Wie so oft. Immer lief irgendetwas schief. Manchmal war es, als könnte ich nichts richtig machen. Öfter als ich wollte, fühlte ich mich wie die Enttäuschung, die meine Mutter insgeheim in mir sah. Ich wollte weder einen Ehemann finden, was meiner Mutter definitiv das Liebste wäre, noch war ich in irgendeinem Beruf gut. Natürlich gab es ein paar Dinge, die ich ganz gut händeln konnte. Wie Fischfang, was wohl aufgrund meines Vaters wenig überraschend war. Doch ich wollte nicht irgendetwas machen, in dem ich bloß mittelmäßig und noch dazu nicht glücklich war. Auch wenn es vermutlich völlig bescheuert klang, wünschte ich mir manchmal, dass irgendwo da draußen eine Bestimmung auf mich wartete. Ein großes Schicksal. Und seit der seltsamen Begegnung mit der Paigha wagte ich Dummkopf tatsächlich, einen Schimmer Hoffnung zu haben. Die Hoffnung, dass mich irgendetwas aus dieser Stadt holen würde und mit auf ein Abenteuer nahm. Wie in den Büchern, die ich las, wenn mir die Realität zu viel wurde. Aufgrund dieser „albernen Träumereien", wie meine Mutter zu sagen pflegte, durfte ich nur selten lesen. Laut ihr brachten mich Bücher nur auf dumme Gedanken. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht sollte ich meine Träumereien aufgeben und endlich erwachsen werden. Entmutigt ließ ich die Schultern hängen. Ich konnte nicht ewig auf etwas warten, das wahrscheinlich nie kommen würde. So sehr ich auch wollte.


Plötzlich prallte ich unsanft gegen jemanden. Ich wurde zurückgestoßen und strauchelte kurz. „Pass auf wo du hingehst, Kleine!", wies mich eine tiefe, raue Stimme schroff zurecht. Normalerweise hätte ich aufgesehen und mich wenigstens entschuldigt, aber heute hätte die Meeresgöttin persönlich auftauchen können und ich hätte mit keiner Wimper gezuckt. Deshalb brummte ich nur ein knappes „Jaja", ohne mich auch nur umzudrehen. Prompt packte mich jemand grob am Handgelenk und riss mich hart zurück. Schon zum dritten Mal an diesem Tag geriet ich ins Stolpern. Die Hand, die mich erst in diese missliche Lage gebracht hatte, bewahrte mich vor einem Sturz.


Sobald ich mich wieder gefangen hatte, sah ich mit zornig zusammengekniffenen Augen hoch. Ich wollte wissen, wer mich so dreist angefasst hatte. Während ich aufschaute, holte ich bereits Luft, um meinem Ärger freien Lauf zu lassen. Doch als ich mein Gegenüber erblickte, blieben mir förmlich die Worte im Hals stecken.


Vor mir stand ein hünenhafter Mann. Sein breites, kantiges Gesicht wurde von filzigem rötlichen Haar umrahmt, das ihm bis zum Bauch reichte. Die untere Gesichtspartie wurde beinahe vollständig von einem Vollbart bedeckt, der von derselben Farbe und Ungepflegtheit wie sein Haar war. Im Gegensatz zu seiner groben Erscheinung standen seine sanft olivgrünen Augen, die mich mit einem wilden Blick bedachten. Er sah aus, als wäre er direkt den Geschichten über die nördlichen Stämme hinter dem Molekgebirge entsprungen. Seine Kleidung bestand größtenteils aus braunem Leder, über dem Ledergewand trug er eine Jacke, die ziemlich sicher aus Bärenfell gefertigt war. Dass dieser Mann einen Bären erlegt hatte, bezweifelte ich nicht im Geringsten.

Ich fürchtete mich nicht schnell vor Männern. Aber dieser Riese könnte mich wahrscheinlich mühelos mit einer Hand ins Meer schleudern. Da würden mir alle Kampfkenntnisse der Welt nichts nützen. Ein guter Kämpfer wusste, wann ein Kampf aussichtslos war. Das hatte ich vor einiger Zeit einmal in einem Buch gelesen. Deshalb versuchte ich, mein schnell entflammbares Temperament zu zügeln. Die Vernunft musste die Oberhand behalten. Sonst war ich vermutlich nur noch ein trauriger Haufen am Wegesrand, nachdem dieser brutal aussehende Mann mit mir fertig war.


Ich schluckte die bösen Worte herunter, die mir vor wenigen Sekunden noch auf der Zunge gelegen waren. Danach versuchte ich es mit einem einnehmenden Lächeln. Wahrscheinlich sah es eher nach einem nicht sehr bedrohlichen Zähneblecken aus. Diplomatie war noch nie meine Stärke gewesen, deswegen war ich dennoch stolz auf dieses Beinahe-Lächeln.Recht viel schien der Versuch eines Lächelns jedoch nicht zu bringen. Bedrohlich langsam beugte sich der Hüne zu mir herunter. Da er mindestens zweieinhalb, wenn nicht drei Köpfe größer war als ich, musste er sich ganz schön tief hinunterbücken. Dabei fielen ihm einige rote Haarsträhnen über die Schulter nach vorne. Der unpassende Gedanke, dass ich froh über mein gerade mal schulterlanges Haar war, schlich sich in meinen Kopf. Doch so schnell er gekommen war, verschwand er auch wieder, da die Präsenz des Giganten mein ganzes Sein einnahm.Als er schließlich auf Augenhöhe mit mir war, fixierte er mich mit einem durchdringenden Blick. Wieder fiel mir auf, wie unpassend der weiche Grünton seiner Iriden war. Aber auch dieser Gedanke war eher nebensächlich angesichts dessen, dass mir bereits der nicht gerade wohlriechende Atem des Mannes ins Gesicht blies. Es kostete mich enorme Selbstbeherrschung, dabei nicht das Gesicht zu verziehen.


„Weißt du eigentlich, wen du hier gerade angerempelt hast?", fragte mich der Mann, die raue Stimme bedrohlich dunkel. „Nein, aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen.", schoss ich flapsig zurück. Im selben Moment noch schlug ich mir die freie Hand vor den Mund. Warum konnte ich nicht einmal nachdenken, bevor ich wie automatisch irgendeinen Unsinn redete? Der Hüne zog die buschigen Brauen zusammen und sah mich aus schmalen Augen an. Der Griff seiner rechten Hand, die immer noch mein linkes Handgelenk umklammert hielt, verstärkte sich. „Respekt hat man dir wohl nicht beigebracht, du kleine Göre, hm?", stichelte er provozierend. „Ähhh...", brachte ich nicht sehr geistreich hervor. Gleichzeitig begann leise Wut in meinem Bauch zu brodeln. Wie kam dieser Raufbold-Verschnitt dazu, mich zu beleidigen? Ich biss die Zähne zusammen, um nicht noch einmal etwas Falsches zu sagen.


Da ich nicht reagierte, kam er noch näher an mein Gesicht heran. Ich wusste nicht, was ich als Erstes machen wollte: Brechen angesichts des unaushaltbaren Mundgeruchs, oder ihm das gehässige Grinsen aus dem Gesicht wischen, das sich gerade auf seinen Lippen formte.Klugerweise tat ich nichts dergleichen. Stattdessen blieb ich stocksteif stehen und versuchte, die aufkommende Aggression zu unterdrücken, die sich wie nagendes Feuer durch meine Adern schlängelte. Das einzige Zeichen meines inneren Kampfes war mein Atem, der schnell und schwer ging. Ich ballte die Faust so fest, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handinnenfläche gruben.


„Es ist wohl an mir, dich ein wenig Ehrfurcht zu lehren.", meinte der Riese, immer noch so ein ekelhaft gehässiges Grinsen im Gesicht. Er bewegte seine andere Hand nach vorne. Ich machte mich schon bereit, im Notfall meine geballte Faust auf seine gewaltige Nase krachen zu lassen. Doch bevor einer von uns beiden etwas machen konnte, unterbrach uns eine dunkle, kräftige Frauenstimme:


„Yngwar, was bei allen Meeresgöttern machst du da?" Aus der Menge trat eine große Frau. Wenn ich mich vorher noch kaum bewegt hatte, so stand ich jetzt wie schockgefroren da. Die Frau, die mit langen, selbstsicheren Schritten durch die Menge spazierte, als gehörte ihr der Hafen, war das schönste und ätherischste Wesen, das ich je gesehen hatte. Ihre Haut hatte einen ockerfarbenen Stich, ein helles Braun, wie Baumstämme in einem von Sonnenlicht durchfluteten Wald. Das dunkelbraune, beinahe schwarze Haar, war zu einem Flechtzopf gebändigt, der ihr lässig über die Schulter hing. Ein paar einzelne Strähnen hatten sich aus dem Zopf gelöst, die die stark gelockte Struktur ihrer Haare preisgaben. Die abstehenden Strähnen wirkten jedoch keineswegs wie ein Schönheitsmakel. Im Gegenteil: Sie verliehen ihr einen Eindruck von Wildheit. Ihr Gesicht war oval mit einer merkwürdig ausgeprägten Kinnpartie, die etwas Maskulines an sich hatte. Doch auch das tat ihrer überwältigenden Schönheit keinen Abbruch. Dieses Kinn, das sie stolz vorgereckt hatte, ließ sie entschlossen erscheinen. Um ihren eher länglichen, aber gleichzeitig auch stämmig wirkenden Oberkörper schlang sich eine eng geschnürte, ärmellose Lederweste, die ihre dezenten, aber dennoch vorhandenen Kurven hervorragendend zur Geltung brachte. Darunter trug sie ein weißes Hemd mit bauschigen Ärmeln. Ihre langen Beine steckten in einer braunen, stellenweise fleckigen Hose. Die scheinbar perfekt aufeinander abgestimmten Kleidungsstücke wurden von einem Paar brauner Lederstiefel vollendet. Doch das vielleicht bemerkenswerteste an ihr waren ihre Augen. Sie waren von einem hellen Bernsteingold. Ihr Blick erinnerte mich an den der Löwin, die ich einmal auf einem Schiff aus Selatan erspäht hatte. Obwohl das arme Tier in einem viel zu engen Käfig gelegen hatte, hatte es mit demselben Stolz in den Bernsteinaugen auf die Welt um sich herumgeblickt wie die Frau in jenem Augenblick. Wenn man mir erzählen würde, sie wäre eine zu uns herabgestiegene Göttin, hätte ich keinen Moment daran gezweifelt.


Ich erwachte erst aus meiner Starre, als die Frau schon beinahe bei uns war. Der Hüne, der offensichtlich den Namen Yngwar trug, ließ schnell meine Hand los. Sofort trat ich einen Schritt zurück. Möglichst unauffällig rieb ich mir das schmerzende Handgelenk. Das würde sicher ein paar blaue Flecken geben. Aber angesichts dessen, dass Yngwar noch in meiner Nähe war, wollte ich keine Schwäche zeigen. Auch ich hatte meinen Stolz.


Die Frau bedachte Yngwar mit einem scharfen Blick. Irgendwie war es möglich, dass dieser Schrank von Mann neben der Löwenfrau wie ein beschämter kleiner Junge wirkte, der verbotenerweise die Süßigkeiten geplündert hatte. Und das, obwohl sie trotz ihrer beachtlichen Größe immer noch gut einen Kopf kleiner war als der rothaarige Grobian. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte etwas für mich Unverständliches in sein Ohr. Er antwortete ebenfalls im Flüsterton.


Dann wandte sich die Frau von ihm ab und ging energisch auf mich zu. Kumpelhaft legte sie mir ihren Arm auf meine Schulter, zog mich etwas zu sich und meinte versöhnlich: „Ich muss mich für meinen Co-Kapitän entschuldigen. Wo er herkommt wurde ihm aggressives Verhalten eingetrichtert, weil Aggressivität ja so ,männlich' ist. Deshalb ist er manchmal etwas unleidlich" Sie lächelte mich einnehmend an. „Stimmts, Yngwar?" „Ich bin überhaupt nicht unleidlich!", verteidigte dieser sich, die Arm trotzig verschränkt. Damit wirkte er noch mehr wie ein bockiges Kleinkind. Die Frau sah ihn mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen an. Yngwar knurrte genervt. „Na schön, du hast recht!", gab er sich geschlagen. „Hab ich doch immer, Schatz!", rief sie. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass mich nur mein Mann Schatz nennen darf?" In Yngwars Augen trat ein Ausdruck der Resignation. „Ich bin deine Kapitänin, ich darf dich auch rosaroter Tanzbär nennen, wenn mir danach ist!" Yngwar machte sich nicht einmal mehr die Mühe zu antworten, sondern drehte sich einfach um und ging. Im Weggehen murmelte er etwas in seinen Bart hinein, das wie „Immer dasselbe mit ihr!" klang.


Heillos verwirrt stand ich da. Die fremde Frau entfernte ihren Arm wieder von meiner Schulter und stellte sich vor mich. „Da du schon so rüpelhaft unseren guten Yngwar kennengelernt hast, will ich mich auch gleich vorstellen." Sie räusperte sich. „Ich bin Artemia Malakas, eine der berüchtigtsten Piratinnen des gesamten Rakasmeeres."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top