Vier

Am nächsten Morgen freute Stegi sich schon fast auf den neuen Schultag - irgendwie war es ja auch ein bisschen aufregend und spannend. Und jetzt, da es sogar jemanden gab, der Gebärden konnte, war es halt nochmal irgendwie cooler.

Die ersten beiden Schulstunden waren Kunst - und das war selbst taub einfach. Die Lehrerin hatte den Arbeitsauftrag auf einer Folie abgedruckt an die Wand projiziert und sie hatten die ganze Stunde Zeit dafür. Und da Stegi Kunst schon immer gelegen und interessiert hatte (zumindest in der Praxis - Kunsttheorie war eher langweilig), machte ihm das sogar ziemlich Spaß.

In der Pause traf er sich mit Tim wieder in der Aula - weil der am anderen Ende des Schulgeländes Unterricht gehabt hatte und nicht wie Stegi im Kunsttrakt. Allerdings nahm er ihn nun direkt am Eingang der Aula in Empfang und begrüßte ihn. Stegi lächelte und grüßte zurück.

'Hast du Lust, dass wir mal zu meinen Freunden gehen?'

Stegi stimmte zu - auch wenn ihm ein bisschen unwohl war dabei. Er konnte natürlich verstehen, wenn Tim keine Lust hatte, seine Pausen eher mit ihm anstatt seiner Freunde zu verbringen - aber so zu ganz Fremden, die er ja nicht kannte und nicht verstehen konnte - er hätte sich schöneres vorstellen können. Am Ende wurde es aber sogar überraschend okay. Die Gruppe, zu der Tim ihn mitnahm, bestand aus einer Gruppe Jungs, die seine Klasse besuchten- Stegi konnte sich nicht alle Namen merken, auch wenn Tim sie ihm alle brav buchstabierte. Grundsätzlich übersetzte Tim eh viel von dem, was sie sagten und auch die Anderen schienen aufgeschlossen ihm gegenüber - und das war cool, auch, wenn es nicht damit vergleichbar war, wie es war, sich mit Anderen selbst und mit Gebärden zu unterhalten. Tim sagte ihm auch, dass es zum Pausierende geklingelt hatte und erklärte sich sogar bereit, einen Teil seines Weges zu seinem Klassenzimmer noch mitzugehen - nur ein kleiner Umweg zu seinem eigenen Unterrichtsraum, wie er erklärte.

'Sprichst du eigentlich?'

Stegi verzog das Gesicht, zuckte mit den Schultern und schüttelte dann den Kopf. Unterstützend winkte er mit dem ausgestreckten Zeigefinger - die Gebärde für Nein. Er fügte eine Erklärung hinzu, indem er auf sich zeigte und dann mit der Hand langsam über seine Brust nach unten strich - das Wort »mögen«, aber kombiniert mit seinem Kopfschütteln dabei in verneinter Form. Er wollte nicht. Tim schien das zu akzeptieren, ohne es zu hinterfragen. Vielen Gehörlosen ging es so.

'Wie lange hast du heute Schule?'

Stegi zeigte sechs Finger - dass er Stunden meinte und nicht die Uhrzeit, würde Tims schon verstehen. Der nickte.

'Hast du Lust, danach mit in die Stadt zu kommen? Wir gehen danach noch Pizza essen.'

Stegi überlegte kurz - aber eigentlich konnte er kaum ablehnen, oder? Wann hatte er denn bitte schon die Chance auf so eine großartige Integration - als Neuer in der Stufe und gerade mit seiner Taubheit.

'Gerne.'
'Cool'
Tim grinste und Stegi nahm ihm sogar ab, dass er das cool fand. 'Dann treffen wir uns am Schultor oben?'

Stegi stimmte zu und bedankte sich, als Tim ihm vor seinem Klassenzimmer absetzte und weiter zu seinem eigenen Unterrichtsraum ging. Er konnte das Mädchen, neben dem er in Chemie gesessen hatte (er hatte schon wieder vergessen, Tim nach ihrem Namen zu fragen), lächeln sehen und erwiderte es. Ihrem Gesichtsausdruck nach freute sie sich für ihn, dass er sich mit Tim gut verstand und Zeit mit ihm verbrachte. Stegi war wirklich froh, dass sie und die anderen Beiden anscheinend in die Wege geleitet hatten, dass Tim ihn kennenlernte - auch wenn der wohl auch so schnell von dem neuen tauben Schüler in der Parallelklasse erfahren hätte. Freundlich von ihnen war es trotzdem. Als er sich ein wenig orientierungslos in dem wieder neuen Klassenzimmer umsah, winkte sie ihn zu sich, hob ihre Tasche von dem leeren Stuhl neben ihr und deutete darauf, eindeutig als Einladung. Stegi fühlte sich geschmeichelt, setzte sich neben sie und bedankte sich automatisch mit der entsprechenden Gebärde - der flachen Hand, die sich mit geschlossenen Fingern von den Lippen aus dem Ellenbogen heraus nach vorne kippte. Das Mädchen lächelte. Diese Mal zog sie ein kariertes Heft aus der Tasche und Stegi konnte einen Blick auf den Namen auf dem Umschlag erhaschen, bevor er es öffnete. Elisa. Er grinste leise triumphierend.

'Was heißt das?', kritzelte sie auf eine leere Seite irgendwo hinten. Stegi nahm sich den Stift, den sie ihm mit dem Heft hingeschoben hatte, und schrieb seine Antwort darunter. Elisa probierte es sofort aus - und das auch fast richtig. Stegi nickte, zeigte es ihr nochmal langsamer, und sie versuchte erneut, es nachzumachen. Als er bestätigend nickte und einen Daumen nach oben zeigte, schien sie sich zu freuen.

'Was heißt 'Hallo'?'

Stegi grinste und winkte - Elisa grinste zurück. Das war einfach.

'Und ... Wie sage ich 'Ich heiße Elisa'?'

Stegi zeigte es ihr - legte zuerst seine Flache Hand auf seine Brust, dann strich er zwei Mal mit Zeige- und Mittelfinger über seine Wange und buchstabierte dann Elisas Namen. Dazu schrieb er eine Erklärung.

'Wörtlich hieße das 'Mein Name Elisa', aber Gebärdensprache hat andere Grammatik. Also ist das richtig so.'

'Wie cool!' Elisa probierte ihren neu gelernten Satz sofort aus. 'Das ist halt echt cool. Wie so eine Geheimsprache.'

Stegi grinste, zuckte mit den Schultern. Für ihn fühlte es sich nicht wie eine Geheimsprache an - es war seine Muttersprache - aber er konnte verstehen, was das Mädchen meinte, wenn sie das sagte. Und in gewisser Weise stimmte es ja auch. Zumindest sprachen die meisten Hörenden keine Gebärdensprache.

Den Rest der Stunde ließ sie sich von Stegi allerlei einfache Gebärden beibringen - und Stegi merkte, wie sie sich bemühte, möglichst viel davon zu behalten. Sie schien wirklich nett und sympathisch und diese Versuche, ein paar Grundlagen zu lernen, waren echt lieb. Stegi freute sich wirklich, als sie sich zu Stundenende schließlich per Gebärden von ihm verabschiedete - und ihm sogar noch einen schönen Nachmittag wünschte. Zwar hatte er ihr das auch erst zwei Minuten zuvor beigebracht und so wirklich war es also keine Meisterleistung - aber der Wille zählte und der war auf jeden Fall gut. Es schien so, als hätte Stegi wirklich, wirklich Glück mit seiner neuen Schule.

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