Drei
Nach der Stunde packte Stegi seine Sachen zusammen und ging dann wie abgesprochen zum Lehrerpult, wo Herr Eichendorf sich gerade noch mit zwei von Steigs neuen Klassenkameradinnen unterhielt. Sie lächelten ihm kurz zu, als die Beiden schließlich auch in die Pause gingen. Stegis Klassenlehrer suchte ein Blatt Papier heraus und begann dann, zu schreiben.
Ein wenig unruhig dachte Stegi an Tim, mit dem er sich ja eigentlich hatte treffen wollen. Wahrscheinlich würde er warten, oder? Stegi bekam ein schlechtes Gewissen. Er mochte es nicht, unpünktlich zu sein. Sein Lehrer schrieb aber immer noch - also blieb ihm ja eigentlich gar nichts anderes übrig.
Als Herr Eichendorf ihm das Papier schließlich hinschob, war über die Hälfte mit der schwarzen Tinte beschrieben. Stegi überflog es - es waren ergänzende Notizen, was sie abgesehen von dem Stoff, den er ausgeteilt bekommen hatte, besprochen hatte und ein Vermerk, bis zu welcher Stelle seines Skriptes sie es geschafft hatten.
Stegi bedankte sich mit der Geste, die sein gegenüber ja anscheinend verstand. Der lächelte und wandte sich dann mit einem kurzen Winken wieder seinen Unterlagen zu. Damit war er dann wohl entlassen.
Stegi schulterte seine Tasche und verließ das Klassenzimmer. Draußen wartete tatsächlich Tim auf ihn. Stegi winkte ihm. (Manche Gebärden waren wirklich einfach zu verstehen, selbst für jemanden, der sie nicht konnte, wie das Winken für "Hallo" und "Tschüss".) Tim begrüßte ihn ebenfalls und Stegi entschuldigte sich, dass er ihn hatte warten lassen. Tim winkte ab.
'Ich hab mir schon so etwas gedacht. Kennst du dich schon halbwegs aus hier? Oder soll ich dir etwas zeigen?'
'Ein Bisschen. Der Direktor hat mich gestern ein wenig herumgeführt.'
'Okay. Dann würde ich sagen, wir gehen in die Aula. Da ist es zwar ein wenig voll, aber bei dem Wetter allemal besser als draußen.'
Tims Gesichtsausdruck, als er von dem Wetter sprach, war genauso voller Abneigung, wie Stegi sich fühlte. Dem Wetter gegenüber, nicht Tim. Er nickte zustimmend.
'Du gebärdest gut.'
Stegi musste ein wenig aufpassen, dass er nirgendwo dagegen lief, während er auf Tims Antwort schaute.
'Ich bin auch zweisprachig aufgewachsen. Meine Schwester ist genauso alt wie ich und taub, seitdem wir nichtmal ein Jahr alt sind.'
Stegi zog ein wenig überrascht die Augenbrauen hoch. Er machte leichte Scherenbewegungen mit der Hand vor seinem Gesicht, während er mit den Lippen das entsprechende Wort formte. Dass es eine Frage war, zeigte er mit seiner Mimik.
'Zwillinge?'
Tim nickte.
'Wie heißt deine Schwester?'
'Jana.', buchstabierte Tim und machte dann kreisartige Bewegungen mit beiden Händen, so, als würde er diese aneinander reiben, allerdings ohne, dass sie sich berührten. Dann hielt er die linke Hand flach mit der Innenseite nach oben und schwenkte Zeige- und Mittelfinger der anderen darüber. Er zeigte Stegi ihre Gebärde.
'Auf welche Schule geht sie?'
Als Tim antwortete, begann Stegi zu grinsen. 'Das ist meine alte Schule!'
'Echt? Kennst du sie?'
'Ich weiß es nicht. Aber vom Sehen bestimmt. Ich war auf der Schule aber auch nur zwei Jahre.'
'Wie cool! Werden wir ja sehen, wenn du sie mal kennenlernst.'
Stegi grinste und nickte.
Sie verbrachten die Pause damit, sich zu unterhalten und kennenzulernen und am Ende brachte Tim Stegi sogar noch zu dem Klassenzimmer, in dem er jetzt Unterricht haben würde. Es war Geografie und das, was an die Tafel angeschrieben wurde reichte zum Glück ziemlich, um den Stoff auch ohne Erklärungen der Lehrerin zu verstehen. In der letzten Doppelstunde des Tages hatten sie Chemie und Stegi wurde ein freier Platz neben einem Mädchen in der letzten Reihe gezeigt. Es war das Mädchen, das heute morgen mit Tim gesprochen hatte, bevor er zu ihm gekommen war. Stegi hatte ihren Namen leider wieder vergessen. Sie lächelte ihn nett an und Stegi glaubte, wirklich Glück mit seiner neuen Klasse zu haben - bisher schienen alle grundsätzlich freundlich und aufgeschlossen. Kaum hatte der Unterricht begonnen, zog sie ein paar weiße Papiere aus der Tasche und begann, mit schwarzem Fineliner Muster und Formen darauf zu zeichnen, die im Gesamtbild ziemlich cool aussahen. Stegi sah mehr auf ihre Arbeit und die Selbstverständlichkeit, wie ihre Finger ohne Lineal oder Vorlage sicher die Striche zogen, als auf den Unterricht vorne - der ihm ohne Tafelanschrift allerdings auch genau nichts brachte. Von daher war es auch kein Verlust.
Das Mädchen hatte seinen Blick natürlich bemerkt und irgendwann zog sie ein zweites, leeres Blatt aus dem kleinen Stapel und schrieb in ordentlicher, kleiner Schrift ein paar Worte darauf.
'Spannender als Chemie, oder?'
Stegi nickte - auch wenn er ja nicht wirklich wusste, wie spannend oder eben auch nicht der Unterricht eigentlich war. Dem nach, wie viele seiner Mitschüler um ihn herum aber irgendetwas anderes machten als den Erklärungen des Lehrers zu folgen gar nicht.
Er schnappte sich einen eigenen Stift und schrieb seine Antwort darunter.
'Definitiv. Das sieht toll aus.'
'Danke. Ist eigentlich ganz einfach. Aber macht Spaß.'
Ungläubig zog Stegi eine Augenbraue hoch.
'Klar. Ganz einfach. Sieht man.'
Seine Sitznachbarin grinste und dieses Mal war es kein höfliches Grinsen, sondern ein echtes. Stegi nahm sich vor, Tim unbedingt nochmal nach ihrem Namen zu fragen - jetzt sich aber selber danach zu erkundigen war ihm irgendwie unangenehm - vor allem, weil er ihn ja schonmal erfahren hatte.
Sie schrieben ein Bisschen hin und her und Stegi freute sich, das erste Mal mit jemandem aus seiner Klasse zu kommunizieren.
Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, begann die Stimmung um sie herum sich zu verändern - sie wurde irgendwie angespannter, es kam Bewegung in die Schüler, wurde aber klein gehalten, langsam und unauffällig. Stegi kannte diese Stimmung - es war kurz vor Stundenende - ein Blick auf die Uhr bestätigte ihm, dass er recht hatte.
Seine Sitznachbarin verabschiedete sich noch von Stegi, bevor sie mit den Anderen aufstand, um sich auf den Heimweg zu machen. stegi winkte zurück und packte ebenfalls sein (komplett unbeschriebenes) Heft ein. Den Chemiestoff musste er zuhause definitiv im Buch nacharbeiten.
Auf dem Heimweg war seine Stimmung auf einmal schon um einiges besser als noch am Morgen - der zweite Tag war ungefähr um dreitausend Prozent besser gewesen als der erste - und morgen hatte er sich für die Pause wieder mit Tim verabredet.
Stegi grinste und umkurvte eine Pfütze mit halbgefrorenem Marschwasser. Wenn das eklige Wetter das einzige war, was an einem Tag schlecht war - dann konnte er doch ziemlich zufrieden sein.
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Zur Gebärdensprache: Ich verwende die Gebärden der DGS (Deutsche Gebärdensprache), weil auch dort wie bei Lautsprache in verschiedenen Ländern verschiedene Sprachen gebärdet werden. DGS ist KEINE Darstellung von der deutschen Sprache in Gebärden, sondern eine eigene Sprache mit Grammatik und co. Ich versuche hier einfach, ein bisschen von dem einzubringen.
bei Gebärdensprache werden die Wörter, die man gebärdet zeitgleich mit den Lippen geformt oder sogar ausgesprochen. Ich habe mich dazu entschlossen, die Gebärdensprache übersetzt (bis auf den allerersten Satz im ersten Kapitel) in deutscher Grammatik zu übersetzen - weil es sich einfach schöner liest. Sie wörtlich wiederzugeben (Beispiel: "Mein Name Tim" anstelle von "Mein Name ist Tim"/"Ich heiße Tim") würde sich für uns ungewohnt anfühlen - was es sich für die Charaktere, die Muttersprachler sind, aber nicht ist - weshalb es auch sein Ziel verfehlen würde. ich möchte die Sprache für uns so natürlich darstellen wie sie sich für Stegi anfühlt.
Ein paar wichtige Gebärden ("Danke", "Hallo"/"Tschüss", "Gebärde, ...) zwischendrin beschreibe ich so gut es geht - um ein bisschen Abwechslung reinzubringen und weil es ja auch nicht schaden kann, wenn vielleicht die eine oder andere bei jemandem hängen bleibt ;)
Jedem den es interessiert kann ich nur raten, einfach zu googeln - im Gegensatz zu vor paar Jahren, wo ich eine ähnliche Geschichte schonmal schreiben wollte, gibt es inzwischen online allerlei schöne Einführungen und Video-Wörterbücher.
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