Kapitel 1

London, 20. Dezember 1895

Zwei Tage, nachdem mein Vater und ich die Einladung meiner Großmutter erhalten hatten, traten wir unsere Reise nach Brighton an. Wir reisten mit dem Zug, da dies ganz einfach die leichteste Reisemethode war. Unsere Fahrt dauerte eine knappe Stunde, was meiner Meinung nach nicht besonders lang war. Seit meiner Rückkehr empfand ich manche Strecken, die andere als ewig lang empfanden, als sehr kurz. Aber dies war höchstwahrscheinlich normal, wenn man es gewohnt war, auf dem Rücken eines Kamels Stunden, ja sogar ganze Tage durch die glühend heiße Wüste zu reiten.
Mein Vater und ich befanden uns in der Victoria Station, wo in einer Viertelstunde unser Zug abfahren würde. Unser Gepäck war, mit dem verglichen, was wir alles nach Ägypten mitgenommen hatten, sehr klein ausgefallen: zwei große Koffer für mich und einen großen Koffer für meinen Vater. Ich konnte so manche Vergleiche mit Ägypten nicht unterdrücken, da ich dieses Land und seine Einwohner wirklich mehr als alles andere vermisste. Obwohl ich, als ich mich anfangs dazu entschieden hatte, meinen Vater zu begleiten, große Angst und teilweise sogar Bedenken hatte, bereute ich meine Entscheidung keineswegs. Ich war sehr glücklich, mitgegangen zu sein und diese Erfahrung gemacht zu haben. Dort hatte ich meine Arbeit als Archäologin über alles geliebt und viele, tolle Menschen kennengelernt, die ich sehr arg vermisste.
Als wir uns auf den Weg zu unserem Gleis machten, nahm ich mir etwas die Zeit, die Menschen um mich herum zu beobachten. Man konnte größtenteils Menschen erkennen, die alleine, zu zweit oder mit ihrer Familie reisten und mit ihrem Gepäck umhergingen. Ich erkannte tränenreiche Abschiede und freudige Begrüßungen, was mich sehr berührte. Warum konnten sich manche Menschen nur schwer voneinander trennen? Wie standen sie zueinander? Das einzige, was man machen konnte, war, sich eine Geschichte für die verschiedenen Personen auszudenken. Vielleicht waren es gute Freunde, vielleicht aber auch Liebende, die sich erneut auf unbestimmte Zeit voneinander trennen mussten. Genau aus diesem Grund mochte ich es schon seit meiner Kindheit, die Menschen in meiner Umgebung richtig wahrzunehmen. All ihre verschiedenen, einzigartigen Geschichten faszinierten mich schon mein Leben lang.
Sobald wir die Treppe, die zu unserem Gleis führte, erreicht hatten, gingen wir diese hinauf. Mein Vater ging vor und hatte es meiner Meinung nach mit einem Koffer sehr viel leichter als ich. Während er immer weiter ging, versuchte ich, meine beiden Koffer gleichzeitig hochzuheben und so an mein Ziel zu gelangen. Dies stellte sich jedoch als viel schwerer als gedacht heraus und ich stieg mit großer Mühe die ersten Absätze hoch. Ich war körperlich nicht besonders stark, weswegen ich sie schon nach kurzer Zeit auf den Boden stellen musste, da meine Arme schon anfingen zu schmerzen. Hierbei war ich jedoch nicht besonders vorsichtig, da einer meiner Koffer umkippte und lautstark runterfiel. Ich seufzte genervt auf. Ich hatte keine andere Wahl, als meinen zweiten Koffer kurz alleine zu lassen, damit ich den anderen holen konnte. Dabei würde ich aber das Risiko eingehen, dass er mir gestohlen werden würde. Als ich meinen Weg nach unten antreten wollte, bedeutete mir aber plötzlich ein fremder Mann, stehen zu bleiben. "Warten Sie, ich helfe ihnen!", rief er mir zu und hob meinen Koffer auf. Wenige Sekunden später blieb er neben mir stehen und nahm auch noch den Rest meines Gepäcks in die Hand. Ich rückte meine Brille zurecht, während er mich mit heruntergeklappter Kinnlade musterte.
Bei meinem Helfer handelte es sich um einen um die dreißig Jahre alten Mann, der einen edlen Anzug trug und einen ganzen Kopf größer war als ich. Er besaß wuschelige, dunkelbraune Haare und graue Augen, die irgendetwas ausstrahlten, was mir ein schlechtes Gefühl gab. Ich war mir in diesem Moment sicher, dass die Mehrheit aller Frauen sich darum prügeln würde, sich von ihm die Koffer irgendwohin tragen lassen zu dürfen.
Er musterte mich mehrmals von oben bis unten, bis er schließlich das Eis brach: "Wohin muss die Dame denn hin?" Der Fremde lächelte. "Nur bis an das Ende der Treppe.", sagte ich und lächelte mehr oder weniger gezwungen zurück. Er nickte, worauf ich augenblicklich losmarschierte. "Wo geht die Reise denn hin? Reisen sie alleine?", fragte er, während er etwas zu dicht neben mir ging. "Ich fahre nach Brighton, da ich über die Feiertage meine Familie besuche. Mein Vater reist mit mir, aber er ist denke ich schon längst oben angekommen.", erklärte ich knapp. Die Fragen des Fremden waren mir sehr unangenehm. Allgemein mochte ich fremde Menschen nicht besonders, da ich mich in den meisten Fällen vor ihnen fürchtete. Wenn ich im Nachhinein recht überlegte, fürchtete ich mich vor Menschen im großen und ganzen. Ich beobachtete sie gerne aus der Ferne, aber sobald eine fremde Person mich aus heiterem Himmel ansprach, verfiel ich in Panik, aus Angst, etwas falsch zu machen und mich deswegen zu blamieren. Aus diesen Gründen mied ich, wenn möglich, große Menschenansammlungen und fühle mich die meiste Zeit alleine und mit Personen, die ich gut kannte, einfach wohler.
"Ah, an die Küste also. Besitzt ihre Familie denn ein Haus am Meer?" Ich spürte, wie mein Nacken aufgrund meiner steigenden Anspannung zu schmerzen anfing. Es waren nur noch wenige Stufen, dann würde ich den Fremden los sein und ihn auch hoffentlich nie in meinem Leben wiedersehen. Ich holte einmal tief Luft. "Nein. Ihr Anwesen befindet sich fünf Kilometer vom Meer entfernt, was ich aber als nicht besonders lang empfinde." Ich hatte große Mühe, ihm zu antworten. "Sie sind also eine von der sportlichen Sorte, habe ich recht?" Glücklicherweise hatten wir in diesem Moment das Ende der Treppe erreicht und der Fremde setzte meine Koffer nieder. Erneut rückte ich meine Brille zurecht, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Ich beschloss, dem Fremden einfach für seine Hilfe zu danken und mich dann unauffällig, aber dennoch schnell aus dem Staub zu machen. "Ich danke ihnen vielmals für ihre Hilfe, Mr. -" Mir blieb die Sprache weg. Wie hieß dieser Mann überhaupt? Er hatte mir nie seinen Namen verraten. "Hershel. Nennen Sie mich einfach Hershel.", sagte er lächelnd. "Ich danke ihnen vielmals für ihre Hilfe, Hershel.", sagte ich. "Grace, da bist du ja! Ich habe dich überall gesucht und schon angefangen, mir Sorgen um dich zu machen." Mein Vater stellte sich neben mich und augenblicklich breitete sich eine Welle der Erleichterung in mir aus. Nun musste ich wahrscheinlich nicht mehr mit Hershel sprechen. Mein Vater musterte mich fragend. "Wie dem auch sei. Gute Reise, Grace.", sagte Hershel und wandte sich mit einem nicht zu deutenden Lächeln von uns ab. "Bevor Sie sich Fragen stellen: dieser Mann hat mir mit meinen Koffern geholfen. Ganz freiwillig, ich habe ihn zu nichts angestiftet.", sagte ich. Mein Vater seufzte. "Ach Grace, dafür musst du dich doch nicht entschuldigen! Es ist alles gut. Nun komm, sonst verpassen wir unseren Zug noch. Aber dieses Mal trage ich dir deine Koffer, diese ganze Situation mit Hershel war so schon anstrengend genug für dich.", sagte er. Er nahm meine Koffer in die Hände und wir setzten unseren Weg fort.

Wenig später waren mein Vater und ich in unserem Abteil in der ersten Klasse angekommen. Bevor mein Vater die Schiebetür öffnete, drehte er sich zu mir um und schenkte mir einen verschwörerischen Blick. "Bist du bereit für die beste Zugfahrt deines Lebens? Achtung, es besteht die Gefahr, dass du uns vor lauter Begeisterung öhnmächtig wirst, wenn du unser Abteil erst einmal gesehen hast.", sagte mein Vater und benutzte dabei einen Ton, der alles irgendwie geheimnisvoll erscheinen ließ. Ich musste lachen. Es rührte mich sehr, dass mein Vater sich Mühe gab, mich schwierige Situationen schnell vergessen zu lassen. Während oder nach schweren Situationen, in denen ich viel mehr Angst als üblich empfand, bemühte er sich sehr, mich abzulenken oder zum Lachen zu bringen. Seiner Meinung nach war das Lachen der Angst größter Feind. Er hatte mit seiner Aussage recht, denn wenn man genug lachte, vertrieb es selbst den größten Angstanfall. Mit solchen hatte ich ebenfalls zu kämpfen, jedoch machte mein Vater dieses ganze Leid irgendwie ertragbarer. Ich war ihm sehr dankbar dafür, dass er sich so gut um mich kümmerte, obwohl er meine Krankheit nicht immer verstehen konnte.
"Ich wiederhole: bist du bereit für die beste Zugfahrt deines ganzen bisherigen Lebens?", rief mein Vater fröhlich. Innerlich hoffte ich, dass er nicht viel Aufsehen mit seinem Ablenkungsmanöver ernten würde. Normalerweise war ich genauso fröhlich und humorvoll wie er, jedoch lag mir das baldige Zusammentreffen mit Viola schwer im Magen und es erlaubte mir nicht wirklich, ich selbst sein zu können. "Ja.", sagte ich, bei weitem weniger laut als er. "Ich kann dich nicht hören!", rief er erneut, jedoch war er dieses Mal lauter als beim ersten Mal. "Ja, das bin ich!", rief ich ebenso laut wie er. Mein Vater lächelte mich zufrieden an. "Gut, dann lass uns unser Abteil erkunden.", sagte er und riss die Schiebetür mit einem Ruck auf. Sobald das Abteil zum Vorschein gekommen war, machte mein Herz einen Freudensprung. Schon seit ich ein kleines Mädchen war, reisten wir immer mit dem gleichen Zug nach Brighton. Die Abteile der ersten Klasse sahen alle gleich aus, weswegen ich mich augenblicklich an all die Male zurückerinnerte, an denen ich mit meinem Vater und meinem Bruder, voller Vorfreude auf meine Familie, Zug fuhr. Die zwei großen, von moosgrünem Samt überzogenen und sich gegenüberstehenden Sitze, über denen sich die großen Gestelle befanden, auf denen man sein Gepäck verstauen konnte, sahen noch genau so aus wie in meiner Erinnerung. In der Mitte der zwei Sitzen befand sich ein Tisch aus dunklem Eichenholz, auf dem ich immer mit meinem Bruder Karten gespielt hatte, um uns die Zeit zu vertreiben. Das meiner Meinung nach riesige Fenster mit seinen vertrauten, bordeauxroten Vorhängen fehlte natürlich nicht, was mich such irgendeinem Grund sehr beruhigte. Augenblicklich setzte ich mich auf meinen Stammplatz, der sich in Fahrtrichtung befand. Es wurde mit nämlich übel, wenn ich rückwärts fuhr. Die Sitze waren noch genau so gemütlich, wie ich es in Erinnerung behalten hatte.
Mein Vater verstaute stumm sein Gepäck und setzte sich anschließend mit gegenüber hin. "Es tut gut, unsere vertraute Umgebung wiederzufinden, nicht wahr?", fragte er. Ich nickte, während ich in der Ferne den Pfiff vernahm, der unsere Abfahrt ankündigte. In der Tat fuhr der Zug wenige Sekunden später los und ich schaute von meinem Platz aus zu, wie wir langsam London hinter uns ließen. Von hier an gab es also kein Zurück mehr. Ich war nun offiziell meinem Schicksal ausgeliefert und würde Viola gegenüberstehen müssen. Als ich daran dachte, knotete sich mein Magen zusammen und ich hatte das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Mein Vater merkte jedoch, dass etwas mit mir nicht stimmte. "Grace, was ist denn los? Bekommst du einen Anfall?", fragte er besorgt. Ich schüttelte den Kopf. "Nein, glücklicherweise nicht. Es ist mir nur etwas flau im Magen, machen Sie sich keine Sorgen.", antwortete ich und hoffte, dass mir keine weiteren Fragen gestellt werden würden. "Wenn etwas dich bedrückt, kannst du immer mit mir darüber reden, das weißt du.", sagte er. Ich nickte dankend.
Mein Vater und ich hatten ein ausgezeichnetes Verhältnis. Irgendwie konnte es auch nicht anders sein, da seit meiner Geburt nur er für meinen älteren Bruder Edward und mich gesorgt hatte. Ich hatte meine Mutter nie kennenlernen können, da es während meiner Geburt Komplikationen gegeben hatte und sie uns aus diesem Grund verlassen hatte. Seit ich mit elf Jahren erfahren hatte, warum alle meine Freundinnen außer mir eine Mutter hatten, machte ich mir schreckliche Vorwürfe. Als ich etwas älter und mich in einer sehr schwierigen Zeit befand, wollte ich aus diesem Grund nicht mehr leben. Ich dachte, dass wenn ich nie geboren wäre, wäre alles besser gewesen. Wäre ich nie geboren, wäre meine Familie glücklicher gewesen und hätte meine Mutter nie verloren. Mein Vater hatte mir in dieser Zeit erklärt, dass der Tag meiner Geburt der schönste und gleichzeitig der schrecklichste Tag seinen Lebens gewesen wäre. Er hatte meine Mutter zwar verloren, jedoch hatte er dafür eine, seiner Meinung nach, wunderbare Tochter geschenkt bekommen, die er über alles liebte und nie für so etwas schreckliches verantwortlich machen könnte. Mit der Zeit hatte ich diesen Gedanken integriert, worauf es mir dann besser ging.
"Ab nach Brighton! Freust du dich, unsere Familie wiederzusehen?", fragte mein Vater. Trotz meiner steigenden Angst nichte ich und hoffte, irgendwie glaubwürdig zu wirken. Ich freute mich zwar auf meine Familie, jedoch hatte ich panische Angst vor Viola. Es würde keinen Weg geben, ihr irgendwie zu entkommen, da mein Bruder und sie bei meiner Großmutter lebten. Ich kam mir gleichzeitig auch furchtbar kindisch vor, weil ich solch eine Angst vor dieser Frau hatte. Irgendwo war es aber verständlich, wenn man wusste, was genau sie mir drei Jahre zuvor angetan hatte. Ich beschloss, dass ich mir diese Gedanken für später aufheben wollte und versuchte, mich ausschließlich auf die Aussicht zu konzentrieren.
Zunächst verlief die Fahrt schweigend, bis mein Vater die Initiative ergriff und ein Gespräch anfing. "Ich finde es noch immer ungewohnt, solch eine kurze Strecke mit dem Zug zurückzulegen.", sagte er. "Ja, das ist es. Ich bin es noch immer gewohnt, auf unseren Kamelen durch die Wüste zu reiten. Irgendwie ist es mir seit unserer Rückkehr aus Ägypten ständig kalt, als ob ich mich nie wieder an die hiesigen Temperaturen gewöhnen würde.", sagte ich. Mein Vater lachte. "Genau so ergeht es mir auch. Dort dachte ich, dass ich mich niemals an diese Hitze gewöhnen würde und nun vermisse ich sie. Ich bin froh, damit nicht alleine zu sein.", sagte er. "Wie sagt Amun immer? Europäer beklagen sich, wenn sie in Ägypten ankommen und sich nicht an die Hitze gewöhnen können und beklagen sich erneut, weil sie sie zu Hause vermissen!", sagte ich, worauf wir beide lachen mussten. Amun war in Ägypten einer der Archäologen gewesen, mit denen wir zusammengearbeitet hatten. Wir waren vom ersten Tag an unzertrennlich gewesen und hatten viele schöne Dinge zusammen erlebt. Er war ganze zehn Jahre älter als ich, was meiner Meinung nach in einer Freundschaft keine Rolle spielte. Wir hatten genau die gleiche Art von Humor und verbrachten teilweise Nächte lang damit, uns gegenseitig zum Lachen zu bringen, bis uns die Tränen übers Gesicht kullerten. Amun war mein bester Freund, der wirklich alles über mich wusste, eingeschlossen dem, was zwischen Viola und mir vorgefallen war. Er hatte mir dabei geholfen, mich besser zu fühlen und niemals das Lachen zu verlieren. Wir hatten noch immer engen Kontakt und schrieben uns die ganze Zeit. Er wollte mich im folgenden Sommer in London besuchen kommen, worauf ich mich schon sehr freute. Ich hatte in Amun wirklich einen echten Freund gefunden.
"Amun. Im Nachhinein vermisse ich seine schlechten Witze und Wortspiele.", sagte mein Vater. Ich nickte. "Aber dafür müssen Sie meine täglich ertragen. Ich kann mir auch gerne mehr einfallen lassen, wenn Sie es doch so sehr vermissen.", sagte ich ironisch. "Bitte nicht." Eine kurze Stille trat zwischen uns ein. "Sag mal, der junge Mann vorhin war aber sehr freundlich. Er hat dir sofort mit deinen Koffern geholfen.", sagte mein Vater. "Jetzt wo ich es angesprochen habe, müsste ich etwas wichtiges mit dir besprechen." Plötzlich war mein Vater sehr ernst geworden. Ein Teil von mir befürchtete schlimmes, als er auf seinem Sitz nach vorne rückte und die Hände auf dem Tisch zusammenfaltete. "Grace, du bist nun achtundzwanzig Jahre alt und wirst im Mai noch ein Jahr älter. Ich habe schon einige Jahre lang darauf gewartet, um dieses Gespräch zu führen und mache mir mittlerweile etwas Sorgen. Die meisten Menschen in deinem Alter sind verheiratet und haben in den meisten Fällen auch schon eine Familie gegründet. Ich möchte nur dass du weißt, dass ich nicht unsterblich bin und nicht auf ewig bei dir sein werde. Ich möchte nicht, dass du irgendwann ganz alleine bist, denn das würde mir nämlich das Herz zerreißen. Deswegen erwarte ich nun bitte eine ehrliche Antwort von dir: gibt es denn wirklich keinen Mann in deinem Leben, mit dem du zusammen alt werden möchtest?" Er musterte mich erwartungsvoll.
Da waren sie wieder, die altbekannen Schuldgefühle. Ich wusste noch immer nicht, ob ich meinem Vater einfach die Wahrheit sagen sollte oder ihn einfach munter weiter anlügen sollte. Ich konnte ihm unmöglich sagen, dass er sich darauf einstellen musste, nie im Leben einen Schwiegersohn zu bekommen. Ich hatte nämlich nicht mehr als Freundschaft für Männer übrig, da mein Herz schon mein ganzes Leben lang Frauen gehörte. Die einzige Person, die davon wusste, war Amun, da es bei ihm genau gleich war (nur, dass er sich für Männer interessierte). Ich konnte es meinem Vater unmöglich sagen, da er mich womöglich dafür hassen würde und alles daran setzen würde, mich zu "heilen". Da gab es absolut nichts zu heilen. Obwohl ich dazu stand, hatte ich panische Angst davor, offen damit umzugehen, da solche Menschen wie ich von der Gesellschaft als Abschaum angesehen wurden. Ich hatte keine Lust darauf, mich von meinen Mitmenschen wegen so etwas natürlichem schlecht behandeln zu lassen. Aus diesem Grund beschloss ich, meinen Vater trotz Schuldgefühlen weiter anzulügen.
"Wenn ich wirklich ehrlich bin, nein. Ich habe den richtigen wohl nocht nicht gefunden.", log ich, während sich alles in mir zusammenzog. Hoffentlich merkte man mir nicht an, dass ich unehrlich war. "Grace, ich kann es sehr gut verstehen, dass du auf den richtigen warten möchtest, jedoch sage ich das nur zu deinem besten. Ich hasse den Gedanken, dass du nach meinem Tod alleine sein würdest, nämlich sehr. Hattest du denn schon ein Verhältnis mit einem jungen Mann?" Hierbei konnte ich ruhig ehrlich sein und schüttelte den Kopf. Mein Vater schaute mich verblüfft an. "Ich nehme Edward nun als Beispiel. Er hat sofort in der ersten Frau die richtige gefunden. Genau so könnte es bei dir auch sein, aber dazu müsstest du dich nur darauf einlassen.", sagte er. Ich nickte. Er hielt mich womöglich für anormal verspätet. In einer Beziehung war ich zwar schon einmal gewesen, jedoch war diese heimlich gewesen. Damals, als ich sechzehn Jahre alt war und noch zur Schule ging, war ich ganze zwei Jahre lang mit einer Freundin von mir zusammen gewesen. Ich sage zwar hier Freundin, weil wir uns von anderen Menschen nichts anmerken lassen durften. Daher war ich nicht ganz so unerfahren, wie mein Vater es in diesem Moment vielleicht dachte.
"Vater, ich kann es sehr wohl verstehen, dass Sie es gut mit mir meinen. Der Richtige ist wirklich noch nicht aufgetaucht. Irgendwann bin auch ich an der Reihe, dafür lege ich sogar meine Hand ins Feuer.", versuchte ich ihn zu beruhigen. Er lächelte schwach und ich hoffte, dass dieses unangenehme Gespräch endlich zu Ende war. Das war es glücklicherweise auch und ich konnte den Rest der Fahrt damit verbringen, aus dem Fesnter zu starren und meine immer weiter steigende Angst zu unterdrücken.

Als der Zug in Brighton hielt, nahmen mein Vater und ich stumm unsere Koffer und verließen unser Abteil. Die Stille, die zwischen uns herrschte, gab mir das Gefühl, dass er nach diesem unangenehmen Gespräch nicht wirklich wusste, wie er mich ansprechen sollte. Aus irgendeinem Grundwar es mir recht, da ich wegen meiner steigenden Angst nicht besonders Lust hatte, irgendwelche tiefgründigen Gespräche zu führen.
Wenig später saßen wir auch schon in der Kutsche, die uns zum Anwesen meiner Großmutter bringen sollte. Diese Fahrt verlief weiterhin im großen Schweigen, da ich nur gedankenverloren zum Fenster hinausschaute und versuchte, dass mein Vater nichts von meinen stark zitternden Händen mitbekam. Wie würde das Zusammentreffen zwischen Viola und mir aussehen? Ich wollte es mir am liebsten nicht ausmalen, da mir ausschließlich schwarze Gedanken im Kopf herumschwirrten.

Ich wusste nicht, wie spät es war, als wir das Anwesen meiner Großmutter erreichten. Das große, eiserne Tor, das zur Art Vorgarten des Anwesens führte, stand schon offen. Scheinbar war jeder auf unser Eintreffen vorbereitet. Wir fuhren über den Pfad, der direkt zum Eingang führte. Dieser war von einem gepflegten, fast leuchtend grünen Rasen umgeben, der zu dieser Jahreszeit aber von einer feinen Schneedecke bedeckt war. Auf der Seite des Westflügels erkannte ich noch immer den riesigen Baum samt der Schaukel, die mein Bruder und ich als Kinder gebaut hatten. Wir hatten sie so groß gemacht, dass soch zwei Personen jedes Alters daraufsetzen konnten.
Ich schloss die Vorhänge, da der Fakt, dass ich sehen konnte, wie nah wir an unserem Ziel waren, mich noch mehr fürchten ließ. Meine Angst erreichte ihren Höhepunkt, als die Kutsche stehen blieb. Nun waren wir da und es gab endgültig kein Zurück mehr. Wenige Sekunden später öffnete der Kutscher uns die Tür und ich ließ meinen Vater zuerst aussteigen. Als es an mir war, half er mir aus der Kutsche und ich betrat vorsichtig den Boden. Ohne mich nach irgendeinem umzusehen, stief ich die helle, steinerne Treppe zur Eingangstür hinauf. Oben angekommen, schaute ich an der Fassade des Gebäudes hoch. Die roten Backsteine, die großen Fenster und die kleinen Türme, von denen sich jeweils einer am Ost- und Westflügel befand, lösten ein herrlich vertrautes Gefühl in mir aus. Ich atmete ein paar Mal hintereinander tief ein und aus, in der Hoffnung, meine mittlerweile sehr schnell gewordene Atmung irgendwie in den Griff zu bekommen. Mein Mund war sehr trocken geworden, weswegen mir nicht nur das Atmen, sondern auch das Schlucken schwer fiel. Ich durfte es bloß nicht zu einem Anfall kommen lassen!
Augenblicklich wurde uns die Eingangstür von einem der Butler geöffnet, den ich schon seit meinen Kindertagen kannte: Sebastian. Als er uns erblickte, lächelte er uns sofort herzlich an, was meine Angst augenblicklich sinken ließ. Seit ich denken konnte, war Sebastian alt gewesen. Seit ich ihn kannte, hatte er schneeweiße Haare und einen ebenso weißen Schnurrbart. Ich kannte sein genaues Alter nicht, jedoch schätzte ich ihn auf ungefährt sechzig Jahre. Wir beide verstanden uns sehr gut und redeten auch immer viel miteinander. Während der Zeit, in der es mir sehr schlecht ging, hatte er sich sehr gut um mich gekümmert und mir bei meinen schlimmsten Anfällen beigestanden, wenn niemand anderes Kraft dazu hatte. Da er etwas sehr großväterliches an sich hatte, fühlte man sich in seiner Nähe ruhig und sicher.
Sebastian bat uns mit einer einladenden Handbewegung herein. "Wie schön ist es, euch nach solch einer langen Zeit wiederzusehen! Ihr beide habt euch, wie ich finde, optisch kaum verändert.", sagte er, als wir an ihm vorbeigingen. "Sebastian! Wie geht es ihnen? Ist meine liebe Mutter nicht zu streng zu ihnen?", fragte mein Vater lachend. Der ältere Mann schüttelte den Kopf. "Nein, nein, das war sie noch nie. Ich bin sehr glücklich, eine Vorgesetzte wie Lady Dashwood zu haben." Schließlich wandte er sich mir zu, wobei er mich anlächelte.

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Und so war das erste, lange Kapitel zu Ende. Wie euch wahrscheinlich schon aufgefallen ist, werden die Kapitel wieder sehr lang. Anyway, nun zu unserer Frage:

Warum hat Grace eurer Meinung nach solch eine Angst vor Viola?

Ich freue mich auf eure Antworten. Bis zum nächsten Mal!

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