Kapitel 9
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, schlief Tim wie gewohnt noch, aber ich weckte ihn nicht wie sonst mit einem Kuss, sondern schnappte mir sein Handy und stellte einen Timer in voller Lautstärke auf zwei Minuten. Davon würde er sicher auch aufwachen. Dann schnappte ich mir Klamotten und ein Handtuch und lief in unser Bad, um zu duschen. Als ich umgezogen und mit noch leicht feuchten Haaren wieder in unser Zimmer kam, schaute mich Tim mit einem noch sehr verschlafenen und fragenden Blick an und sah im ersten Moment aus, als wollte er etwas sagen, machte seinen Mund dann aber wieder zu, als er meinen kalten Blick bemerkte. Ich hatte nicht vor, mit ihm zu reden, sondern verließ schnell das Zimmer um zu frühstücken. Als ich den Speisesaal betrat, wurde ich von den Meisten wie gewohnt ignoriert, doch von einigen Leuten aus unserer Jahrgangsstufe erntete ich teilweise verächtliche oder belächelnde, tatsächlich aber auch einige bewundernde Blicke. Erst war ich völlig verwirrt, was die Leute dazu brachte, mich plötzlich wahr zu nehmen, bis mein Blick auf Lukas fiel, dessen Auge ein riesiges lilanes Veilchen zierte. Irgendwie war es ein befriedigendes Gefühl, ihn da inmitten seiner ganzen Freunde zu sehen, die mich alle teilweise verächtlich aber auch respektvoll und vereinzelt sogar ängstlich musterten. Offenbar hatte ich die Gruppe mit dieser Reaktion ziemlich aus der Bahn geworfen. Mit einem kleinen Grinsen stellte ich mich an, um mir mein Frühstück zu holen. Nachdem ich aufgegessen hatte, ging ich kurz in unser Zimmer um meinen Rucksack zu holen und machte mich dann auf den Weg zu den Chemie Sälen. Vom Unterricht bekam ich relativ viel mit; ich hatte mir im letzten Monat angewöhnt, im Unterricht mehr aufzupassen, da ich meine Freizeit nicht mehr mit Lernen sondern mit Tim verbracht hatte. Inzwischen könnte es mir ja wieder egal sein, aber irgendwie war es ganz schön, am Nachmittag nur Hausaufgaben erledigen zu müssen und dann frei zu haben. In der letzten Stunde hatten wir Deutsch bei unserer Klassenlehrerin. Schon als sie in den Raum kam, wusste ich, dass aus unserer Klasse keiner mehr Lust hatte, noch irgendetwas zu tun, wie es in fast jeder zehnten Stunde war, doch wider Erwarten hatte Frau Saller auch nicht vor, heute mit uns zu lernen. Stattdessen verkündete sie fröhlich: „So, da ihr bald das Abitur hinter euch habt, steht der Abi-Streich an. Ich weiß, dass sich einige von euch in einer Vertretungsstunde schon Gedanken über ein Thema gemacht haben, deswegen würde ich alle bitten, mir Vorschläge zu machen. Wir werden dann abstimmen, welcher letztendlich umgesetzt wird." Augenblicklich brach lautstarkes Diskutieren in der Klasse aus, bis wir fünf Themenvorschläge an der Tafel stehen hatten und abstimmten. Es gewann mein Favorit: 'Harry Potter – Wir verlassen die Kammer des Schreckens'. Bis zum Ende der Stunde überlegten alle, was wir machen konnten und jeder außer mir schrie seine Einfälle auch lautstark durch die Klasse. Schließlich einigten wir uns darauf, fünf Schüler auszusuchen, die sich als Harry, Ron, Hermine, Dumbledore und Professor McGonnagall verkleiden und jeweils eine Rede halten würden. Der Rest sollte sich einfach schwarz anziehen und wenn möglich einen Zauberhut aufsetzen. Ich wusste, dass ich keinen der fünf verkörpern wollte, die eine Rede halten mussten, deswegen sah ich den anderen zu, die sich lautstark darum stritten, Harry sein zu dürfen. Schließlich fiel die Wahl auf die Schüler, die denjenigen, die sie darstellen sollten am ähnlichsten sahen, mit Ausnahme von Dumbledore, den unser Klassenclown Sebastian darstellte. So kam es, dass Tim Harry spielen würde, doch mich interessierte das nicht weiter. Als es zum Schulschluss klingelte, sprang ich sofort auf und verließ als einer der Ersten den Klassenraum. In unserem Zimmer angekommen, setzte ich mich an unseren Schreibtisch und erledigte meine Hausaufgaben. Dann klappte ich meinen Laptop auf und fing an, auf Amazon nach Zauberhüten zu suchen. Als ich einen passenden gefunden und auch direkt bestellt hatte, wusste ich nicht mehr, was ich noch tun konnte, also packte ich meinen Zeichenblock aus und begann, mit meinem Bleistift über das Papier zu fahren. Ich zeichnete nichts bestimmtes, aber das Bild wirkte trotzdem genauso wie ich es beabsichtigt hatte. Ich schraffierte einige Stellen ziemlich dunkel und andere ließ ich fast weiß. Wenn man sich das Bild jetzt normal von vorne ansah, konnte man es für Gekritzel oder aber für moderne Kunst halten, doch wenn man es leicht von der Seite betrachtete und seine Augen zusammen kniff, sah man deutlich, dass die hellen Stellen aussahen, wie ein grinsender Totenkopf. Eine seltsame Art der Genugtuung machte sich in mir breit. Ich wusste nicht, wie ich es deuten sollte, aber mir war klar, dass das keine einfache glückliche Zufriedenheit war, die sich sonst in mir breit machte, wenn mir ein Bild gelungen war. Dieses Gefühl grenzte schon fast an Schadenfreude und Überlegenheit, galt aber niemand bestimmtem. Vielleicht war ich aber auch einfach nur stolz, dass ich der Einzige war, der dieses Bild so verstand, wie es gemeint war. Da es draußen schon dunkel wurde, machte ich mich auf den Weg in die Mensa und ging nach dem Essen direkt ins Bett. Ich bekam nicht mehr mit, wie Tim das Zimmer betrat und sich ebenfalls schlafen legte.
Die restliche Woche verlief ähnlich, ich wechselte kein Wort mit Tim, doch die allgemeine Stimmung unter den Zwölftklässlern wurde immer angespannter, da die Abiturprüfungen jetzt unmittelbar bevor standen. Ich hatte begonnen, täglich mehrere Stunden zu lernen und man traf auch in den Gängen, der Bibliothek und sogar beim Essen immer öfter Abiturienten an, die ihre Nasen in Bücher gesteckt hatten und teilweise etwas vor sich hin murmelten oder sich Notizen machten. Und eine weitere Woche später stand auch schon die erste Prüfung in Deutsch an. Ich war zwar durchaus nervös, aber ich schob keine extreme Panik wie einige meiner Klassenkameraden. Vor allem die Mädchen waren schon fast hysterisch und rannten wie aufgescheuchte Hühner den Gang auf und ab. Als wir endlich in den Prüfungsraum gelassen wurden, lief ich zielstrebig auf einen der hintersten Tische zu und ließ mich darauf fallen. Im Gegensatz zu den meisten anderen hatte ich keinen Traubenzucker sondern nur einen Apfel und eine Flasche Wasser dabei. Nachdem die Blätter ausgeteilt worden waren, kehrte absolute Stille ein, die nur zwischendurch von leisem Papierrascheln oder dem Geräusch eines kratzenden Stifts durchbrochen wurden. Ich entschied mich bei meinem Aufsatz für eine Argumentation, da mir das am besten lag. So kam es, dass ich als einer der Ersten fertig wurde, obwohl ich fast sieben Seiten geschrieben hatte. Zumindest konnte ich jetzt alles noch einmal durchlesen und fand tatsächlich noch einige ausbesserungswürdige Stellen. Während ich die dritte Fußnote schrieb, ärgerte ich mich mal wieder, dass man solche Aufsätze nicht am Computer verfassen durfte, doch auch das war bald geschafft, also saß ich noch etwa eine halbe Stunde im Zimmer und starrte gedankenverloren auf meine Arbeit, als der Erste seine Unterlagen abgab und ich schließlich auch aufstand, um meinen Bogen auf den Tisch des Prüfers zu legen. Dann verließ ich den Raum. Zielstrebig lief ich zu unserem Zimmer und setzte mich direkt an meinen Schreibtisch. Die Prüfungsphase war noch lange nicht vorbei; ich durfte also keine wertvolle Zeit zum Lernen vergeuden. Irgendwann betrat auch Tim den Raum und ließ sich erschöpft auf sein Bett fallen, doch ich schenkte ihm keine Beachtung. Dieser Ablauf änderte sich die nächsten zwei Wochen kaum. Ich nutzte – wie auch die meisten anderen Abiturienten – jede freie Minute zum Lernen und schrieb eine Arbeit nach der Anderen. Als ich an einem Freitagmittag schließlich endlich den letzten Prüfungsbogen im Fach Geschichte abgab, fühlte ich mich mit einem Schlag komplett befreit. Erleichtert lief ich aus dem Klassenraum und fühlte mich so frei, als könnte ich jeden Moment davon fliegen. Endlich hatte ich die Schule hinter mir! Fröhlich lief ich in unser Zimmer, wo ich direkt Kelly anrief. In letzter Zeit hatten wir wieder öfter telefoniert und sie hatte mir ungemein geholfen, mit meinen Gefühlen klar zu kommen. Umso mehr freute sie sich jetzt, dass es mir gerade so gut ging und wir vereinbarten, gemeinsam feiern zu gehen, wenn ich wieder zu Hause war. Dann würde Kelly ihr Abitur nämlich ebenfalls vollendet und hoffentlich bestanden haben. Das Wochenende über erholte ich mich einfach von der anstrengenden Prüfungsphase und verbrachte die meiste Zeit draußen, wo ich zeichnete oder mit Kelly telefonierte. Immer noch wechselte ich kein Wort mit Tim, aber dafür sprach mich völlig überraschend eine Mitschülerin im Gang an und fragte mich, wie es mir im Abitur gegangen sei. Perplex antwortete ich mit einem leisen: „Ganz gut...", und ging schnell weiter. Allgemein schien die Stimmung in unserer Jahrgangsstufe freundlicher geworden zu sein, denn ich wurde kein einziges Mal mehr angeschnauzt und gelegentlich kam es sogar vor, dass mich jemand anlächelte. Anfangs verwunderte mich das alles ziemlich, doch irgendwann hatte ich angefangen, das Lächeln zu erwidern und merkte, wie gut sich eine so kleine Geste doch anfühlen konnte. Plötzlich fühlte ich mich irgendwie wieder ein Bisschen wie ein Teil dieser Klasse. Ich wusste nicht ganz, wie ich mit diesem Gefühl umgehen sollte, aber ich wusste, dass es nichts Negatives war. Mit Tim hingegen wechselte ich immer noch kein Wort. Ich hatte nicht vor, das Schweigen als Erster zu brechen und er machte keine Anstalten, irgendetwas zu tun. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, er könnte sich doch noch entschuldigen, aber ich versuchte, es einfach zu vergessen. In einigen Wochen würden wir sowieso unsere Abiturnoten erhalten und danach würde ich wahrscheinlich keinen einzigen meiner Mitschüler jemals wieder sehen, so auch Tim. Den Abi-Streich hatte ich in dem ganzen Lernstress vergessen, doch zwei Tage vorher wurde ich wieder daran erinnert, weil mein bestellter Zauberhut ankam. Ich hatte ihn zwar schon früher erwartet, aber solange er rechtzeitig geliefert worden war, passte ja alles. Mit dem kleinen Paket unter dem Arm lief ich von den Postfächern aus wieder in unser Zimmer und machte mich ans Auspacken. Kurz darauf drehte ich den Hut in meinen Händen hin und her. Der Stoff schimmerte leicht grünlich und metallisch. Er gefiel mir irgendwie. Zufrieden legte ich ihn in mein Regal und schnappte mir dann meine Zeichenmappe. Mit ihr unter dem Arm machte ich mich auf den Weg in den Schlossgarten, zu meiner Lieblingsstelle. Wie schon so oft setzte ich mich ins Gras und begann, die Landschaft, die mich umgab, zu skizzieren. In Gedanken versunken zog ich immer mehr Striche auf dem Papier und war letztendlich mehrere Stunden damit beschäftigt, Bäume, Wiesen und Hecken zu zeichnen. Zufrieden betrachtete ich mein Werk, ehe ich es in meine Mappe packte und mich auf den Rückweg zum Schloss machte. Langsam fing es schon an zu dämmern und ich hatte Hunger bekommen, also machte ich mich auf den Weg zum Speisesaal, nachdem ich meine Sachen in unser Zimmer gebracht hatte. Als ich fertig war mit Essen, verließ ich die Mensa und wollte mich gerade auf den Rückweg machen, als plötzlich hinter mir ein Mädchen meinen Namen rief. Ich drehte mich um und sah Nina, die auf mich zu gelaufen kam. Ich wunderte mich, was sie wohl von mir wollte, doch kaum war sie bei mir angekommen, fing sie auch schon an, zu erklären: „Äh Stegi, also ich spiele ja übermorgen die McGonnagall und, also ich weiß, dass du in Deutsch viel besser bist als ich und weil wir müssen ja eine Rede schreiben und irgendwie kann ich das nicht...", druckste sie unsicher herum. „Soll ich dir helfen?", fragte ich vorsichtig. Ich hatte zwar irgendwie Bedenken, aber bis jetzt hatte sich Nina mir gegenüber immer neutral verhalten, also beschloss ich, ihr einfach einen Gefallen zu tun und ihr bei der Rede zu helfen. Wir verabredeten uns fünf Minuten später in der Bibliothek, da Nina noch ihre Unterlagen, die sie schon geschrieben hatte, holen wollte. Ich hingegen machte mich direkt auf den Weg und setzte mich an einen freien Tisch. Kurz darauf kam auch Nina angelaufen und ließ sich außer Atem auf einen Stuhl mir gegenüber fallen. Dann legte sie einen Block auf den Tisch und ließ mich ihre angefangene Rede durchlesen. Ich merkte, dass sie noch ziemlich unsicher war, wenn es darum ging, die richtigen Formulierungen zu finden, doch inhaltlich war ihr Text ziemlich gut. Gemeinsam überarbeiteten wir den Text, tauschten einzelne Wörter oder manchmal ganze Sätze aus und fügten noch einiges hinzu. Schließlich hatten wir fast eine Seite Handschrift und beschlossen, dass das genug sein musste. Anfangs hatte ich noch Probleme gehabt, frei zu sprechen oder Kritik an Ninas erstem Text zu äußern, doch ich hatte schnell gemerkt, dass ihre Freundlichkeit keine Fassade sondern ernst gemeint war. Doch eine Frage beschäftigte mich die ganze Zeit und da ich sowieso nichts zu verlieren hatte, stellte ich sie einfach: „Äh Nina, warum bist du plötzlich so nett zu mir? Ich meine, vorher wollte ja auch niemand Kontakt zu mir, warum also plötzlich so freundlich?" Ich merkte, wie meine Frage sie aus der Fassung brachte, aber ich wollte jetzt eine Antwort, also sah ich sie so lange erwartungsvoll an, bis sie leise anfing zu reden: „Also erstmal will ich dir sagen, dass ich nicht homophob bin. Ich hab nichts gegen schwule und ich hab eigentlich auch nichts gegen dich. Aber meine Eltern sind so krass gegen Homosexualität, dass ich irgendwie immer Angst hatte, sie könnten es mit bekommen, wenn ich Kontakt zu dir hätte. Ich weiß, dass die mich geschlagen hätten wenn sie das herausgefunden hätten. Ich weiß, dass das jetzt für dich wie die hirnrissigste Ausrede der Welt klingen muss und vielleicht ist es auch so, aber ich hatte einfach solche Angst. Es tut mir echt Leid! Aber ich habe immer versucht, dir so gut wie möglich zu helfen. Also, wenn du verprügelt wurdest oder so, hab ich halt immer die Lehrer alarmiert und neulich als dich Lukas geschlagen hatte, hab ich dir halt geholfen. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist, aber ich hatte irgendwie einfach immer zu viel Angst, dass mir dasselbe passiert wie dir, wenn ich mich mit dir anfreunde." Ninas Blick war gesenkt und ihre Stimme klang schuldbewusst. Ich hatte keine Ahnung, was ich dazu sagen sollte, aber ich wollte sie irgendwie beruhigen. Ich konnte ja verstehen, dass sie nicht in derselben Situation sein wollte wie ich, deswegen murmelte ich: „Ist nicht schlimm. Danke für die Hilfe." Ein Lächeln schlich sich auf Ninas Gesicht und man sah ihr an, dass sie erleichtert war. Als wir bemerkten, dass schon zwei Stunden vergangen waren, seit wir angefangen hatten, an der Rede zu arbeiten, beschlossen wir, in unsere Zimmer zu gehen. Dort angekommen zog ich mich schnell um und ließ mich erschöpft in mein Bett fallen. Kurz darauf war ich auch schon eingeschlafen.
Und hier ein Bild von unserem LeWuff ^^
Ist er nicht cuteeeee?
Bye!
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