Seras Erbe

Langsam ging sie die grau gepflasterte Gasse entlang und blickte vor sich auf den Boden.

Ihre nackten Füße traten auf kalten, rauen Stein, der uneben in die Erde eingelassen war. Laut hallten ihre Schritte dabei gegen die Wände und ließen ein leises plätschern erklingen.

Mild lächelte sie die hohen Häuser an, welche links und rechts in einer Reihe standen und alle die selbe Bauweise hatten:
Quadratische Fenster, die einen weißen Rahmen schmückten, eine weiße Veranda vor der Haustür und ein rotes Ziegeldach.

Am liebsten hätte sie sich auf eine der vielen Holztreppen gesetzt und den kleinen Wassertropfen beim Fallen zugeschaut. Nur um zu sehen, wie sie wie Regenschirme auseinander sprangen, die kleinen Tropfen wieder auf den Boden fielen und leise zu einem Bach überliefen.

Doch sie ging weiter. Auf den Strand zu, der zehn Meter von ihr entfernt lag.

Warmer, feuchter Sand blieb an ihren Fußsohlen hängen und drängte sich zwischen ihre Zehen, als sie die Steine verließ und die kleine Sandwüste betrat. Ohne Absicht ließ sie Spuren von sich zurück.

Dunkel beige Punkte bildeten sich auf dem Sand, als die Regentropfen dumpf auf den kleinen Körnern aufkamen und leichte Einkerbungen hinterließen.

Ein lau warmer Windwirbel streifte ihr Gesicht sanft und flüsterte Melodien in ihre spitz zulaufenden Ohren. Die Luft roch nach salzigem Wasser und erdigem Sand.

Sie blieb stehen.

Wellen wanderten laut rauschend vor ihr den Sand hinauf. Weißer Schaum bildete sich an den Spitzen. Während sie sich zurück zogen und wieder neue Wellen über den Sand liefen, legte das Mädchen langsam ihren Kopf in den Nacken. Dabei rutschte ihre braune Kapuze von den Haaren. Anstatt sie wieder über ihren Kopf zu ziehen und sich vor den Regentropfen zu schützen, beobachtete sie ruhig die grauen, dichten Wolken, welche den Himmel bedeckten und weiter Richtung Osten zogen.

Regenwasser hatte schon längst den braunen Stoff ihres Umhanges durchdrängt und befeuchtete nun auch ihr Gesicht. Doch sie fröstelte nicht. Im Gegenteil! Sie genoss die nassen Perlen, welche an ihrem Kinn, ihrem Hals und ihrer Stirn hinunter liefen und sich gleich darauf in ihren Haaren sowie in ihrem Kleidungsstück verfingen.

Leicht öffnete sie ihre Lippen und schloss die Augen. Wasser lief in ihren Mund hinein. Strähnen ihrer braunen Haare hingen ihr wirr im Gesicht.

Wind zerrte an ihrem Umhang. Die Enden der dünnen Schnüre, welche den Stoff an ihrem Körper hielten, wehten hin und her. Wellen brachen tosend auf der Wasseroberfläche zusammen und machten Platz für neue Riesen des Meeres. Das sonst so türkise Meereswasser färbte sich Azurblau. Düster und wütend wirkte es auf sie.

"Kind. Was stehst du da draußen im Regen? Komm doch rein", brüllte ein alter Mann über den pfeifenden Wind hinweg und winkte sie zu sich.

Sie drehte sich um. Er stand viele Meter von ihr entfernt und hatte die Tür der Strandbar einen Spalt weit geöffnet. Die Fenster, des einstöckigen, auf Stelzen stehenden Hauses, leuchteten in einem gemütlichen Gelb. Es schienen viele Leute in dem Haus Unterschlupf gefunden zu haben, als dieser Sturm überraschend aufgezogen war. Schwarze Silhouetten zeichneten sich nämlich hinter den Fenstern ab. Wie bei einem Schattenspiel, das ihr Vater früher immer mit ihr gespielt hatte, tänzelten sie hinter den Scheiben hin und her und schienen ein Theaterstück für sich selber aufzuführen.

Emotionslos sah sie wieder nach vorne, zu dem tosenden Meer.

"Dann mach doch, was du willst", brüllte er sauer zurück und knallte hinter sich die Tür zu.

Sie verstand die Menschen nicht. Warum versteckten sie sich in ihren Häusern und mieden die Natur, die sie am Leben hielt und ihnen so vieles schenkte? Angst hatten sie vor dem, was sie nicht kannten, und zerstörten, was sie am Leben hielt. Blind liefen sie durch die Wälder. Hörten nicht, wie die Kinder der Vögel zwitscherten und etwas neues jeden Tag geboren wurde, um den Kreislauf der Natur zu wahren. Ihre Sinne starben von Generation zu Generation. Ihre Ich - bezogene Arroganz und ihre Gier nach Geld und Macht ließen sie unnötige Kriege führen, die ihre Rasse ausrotteten.

Leise entknoteten sich die Schnüre um ihren Hals. Geräuschvoll flatterte der Umhang auseinander. Wie ein Blatt im Wind flog er hoch und landete ein paar Meter von ihr entfernt leise auf dem nassen Sand.

Eine Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper, als die kühle Luft ihre Haut umschmeichelt. Sonnenstrahlen durchstießen kurz die dichte Wolkendecke und schienen auf sie herab. Genüsslich schloss sie wieder die Augen, legte ihren Kopf leicht in den Nacken, hob ihre Arme auf Höhe ihrer Schultern und atmete tief ein.

Schon als Kind mochte sie es im Regen zu stehen und den Tropfen beim Fallen zu zuschauen. Früher hatte sie sich immer gefragt, warum. Doch zu diesem Zeitpunkt konnte sie es sich nicht erklären. Heute verstand sie es.

Geboren als Wasserbändigerin und als Herrscherin des Meeres konnte sie nicht anders, als Wasser zu mögen. Ihr Schicksal bestimmt von hohen Mächten des großen und weitem Universums war es ihr wiederlegt nichts anderes zu tun, als Frieden im Meer zu schaffen.

Ihre Schuppen, welche nur ihre Brüste, ihren Unterleib und die Seiten ihres Gesichtes bedeckten, funkelten Waldgrün im warmen Licht. Weich und warm schmiegten sie sich an ihre Haut und bieteten ihr in den tiefsten und kältesten Gewässern Schutz. Die Wolken schlossen die kleine Lücke wieder, sodass keine Sonne mehr durchdrang.

"Hestmir Ssorss", hauchte sie und betonte das S wie eine Schlange. „Erhöre mich."

"Sera", wisperte ihr der Wind mit ruhiger Stimme ins Ohr. „Sprich."

Ein Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht. „Ruhig, friedlich und sanft sollst du sein. Soll die Sonne auf dein Türkises Kleid schein."

Langsam ließ sie ihre Arme sinken. Waldgrün wandelte sich um zu grasgrün, als sie ihre Augen aufschlug und die Sonne auf ihr Gesicht schien. Der Regen hörte langsam auf. Wind legte sich sanft um sie, wie eine Decke. Die dichte Wolkendecke prach plötzlich auseinander. Blauer Himmel kam zum Vorschein.

Zufrieden nickte sie und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Nichts deutete auf den Sturm hin, der vor ein paar Minuten noch gewütet hatte. Nur der bunte Regenbogen, welcher am Himmel prangte, zeugte von dem Regen und dem Wind, der aufgezogen war.

„Danke", flüsterte das Mädchen sanft lächelnd.

Schnell lief sie zu ihrem Umhang und hob ihn auf. Mit ihrer Magie zog sie das restliche Wasser, das nicht von der Sonne getrocknet wurde, heraus und warf ihn sich über. Mit gekonnten Griffen knotete sie die Schnüren um ihren Hals zusammen.

Menschen öffneten ihre Klappläden und lugten neugierig aus den Fenstern hinaus.

Erschrocken flüchtete sie hastig zurück in die Schatten der Gassen. Darauf bedacht nicht von Menschen gesehen zu werden.

Leise lief sie durch die Eingangstore des Meerdorfes. Wie Schatten begleitete sie das plätschern ihrer Schritte und die Grauen Wolken, welche sich langsam aber sicher auf lösten. Warmer Wind ließ ihren Umhang zur Seite wehen.

Sie hatte ihren Auftrag erfolgreich erledigt.
"Vereine alle sieben Nationen zu einem ganzen. Besänftige das Meer, damit die Menschen vor dem großen Ereignis Frieden finden und halte dich versteckt. Wenn Sie wissen wer du bist, ist alles verloren!", hallte die strenge Stimme ihrer Mutter laut durch ihren Kopf. Sie sah sie vor sich liegen. Blass, mit eingefallenem Gesicht und kaputten Schuppen. Im Sterbebett. Auch wenn der Tod so nah bei ihr war und er sie schlussendlich mit sich nahm, verlor sie nicht ein liebes Wort zu ihrer einzigen Tochter.

Traurig blieb sie auf einem hohen Hügel, weit vom Dorf entfernt, stehen und sah auf dieses herab.

Das Meereswasser glitzerte in der Sonne und blendete ihre empfindlichen Augen. Menschen bauten wieder ihre Fischstände auf und breiteten ihre Handtücher auf dem Sand aus. Unbekümmert und nicht wissend, dass ihnen bald etwas schreckliches bevor stand.

DER WESENKRIEG!

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