Der Erste Abschied

"Du schaffst das", flüstere ich und nehme seine Hände in meine.

Seine Stirn lehnt er an meine, durch müde Augen schaut er mich an und lächelt schwach.
Wieder kommen ihm die Tränen, die ihm über die Wange kullern.
Sofort streiche ich sie ihm weg.

"Hör auf zu weinen. Du stehst das durch. Danach geht es dir besser."

Manuel fällt mir um den Hals. Ich spüre, wie mein Shirt nass wird und seine Schluchzer wie kleine Wellen gegen meine Schulter knallen. Bei jedem Schluchzer zuckt sein schwacher, dünner Körper in meinen Händen zusammen. Auch mir kommen die Tränen.
Seit wir zusammen leben, waren wir nie eine Nacht voneinander getrennt. Und dann lasse ich ihn alleine im Krankenhaus.

An dem Tag, an dem wir uns gestritten haben, blieb noch eine Weile bei Sebastian. Trank den Tee, aß das Eis. Auch wenn es wirklich komisch war, ständig zwischen heiß und kalt zu wechseln, aber in dem Moment hat es mich nicht gestört. Mein ganzer Körper hing bei Manuel. Als säße ich gar nicht bei meinem besten Kumpel auf der Couch, sondern bei ihm. Ich habe ihn gesehen. Wie er verzweifelt in der Wohnung herum lief, irgendetwas murmelte und schrie. Er schlug gegen die Wand und weinte.

All das sah ich. Zumindest vor meinem inneren Auge. Und trotzdem war die Vorstellung so intensiv, dass mir der Atem stockte. Mein Hals wurde trocken und ich konnte nicht mehr. Ich spürte seine Verzweiflung und wusste, dass irgendetwas wirklich schlimmes passiert sein muss.

Mir kamen die verschiedensten Szenarien in den Kopf. Tatsächlich war ich so weit, dass ich gedacht habe, er könnte jemanden umgebracht haben. Aber mir fiel keine plausible Erklärung ein.

Und als ich in der selben Nacht noch zu Manuel gefahren bin, hat er es mir erklärt. Mir erzählt, was los war.
Denn er war wirklich nicht bei der Arbeit. Genau wie Sebastian es gesagt hatte. Er brauchte Zeit für sich. Seine roten Augen kamen nicht von Schlafmangel. Seine Augen waren rot, weil er geweint hat. Jeden Tag. Jede Nacht. Und ich Vollidiot habe es nicht mitbekommen.

Als er es mir sagte, weinte er wieder. Zitterte am ganzen Körper. Ich weiß noch genau, wie er aussah. Wie fertig er war. Wie brüchig seine Stimme war, als er es aussprach.

"Ich habe einen bösartigen Tumor. An meinem Hirn."

Seine Augen waren so ängstlich. Und ich war überfordert. Meine ganze Welt brach in großen Scherben über mich hinein.

Und jetzt stehen wir hier vor dem Krankenhaus. Seiner letzten Chance.

"Ich habe Angst", krächzt Manuel, "was ist, wenn sie mir nicht helfen können?"

Ich drücke seinen zerbrechlichen Körper an meinen und lege meine Hand in seinen Nacken, was ihn aufschauen lässt und seine roten, verweinten Augen zum Vorschein bringt.

"Hör auf, Manu", bestimme ich, "sie werden dir helfen. Bitte glaub daran."

"Es nützt nichts, daran zu glauben, Patrick. Ich bin wie ein Blick in den Sternenhimmel. Wenn du hinauf schaust, siehst du Sterne, die es vielleicht schon lange nicht mehr gibt. Du siehst mich zwar lebendig, aber eigentlich bin ich schon längst tot. Ich habe keine Chance mehr."

Meine Wangen sind feucht, mein Hals trocken.
Ich will nicht, dass er so etwas sagt.
Er soll daran Glauben. Es gibt eine kleine Chance ihm zu helfen. Und an dieser kleinen Chance sollte er festhalten.

Nun lege ich meine Hand an seinen kahlen Kopf. Vor kurzem hat er sich die Haare abrasiert, weil sie anfingen auszufallen und nun hat er nur noch kleine Stoppeln auf dem Kopf.

"Da oben ist ab jetzt nur noch Platz für positive Dinge, hörst du? Verbann all die negativen Dinge. Richtig, du bist ein Stern. Mein Stern. Denk immer an die Sterne. An dich und mich. Zusammen bilden wir unsere eigene Galaxie. In der dieses blöde Ding da oben keinen Platz hat. Verstanden? Du schaffst das."

Mein Freund lächelt und nickt dann.

Wir lösen uns voneinander und er schiebt die kleine Tasche auf seiner Schulter zurecht. Dann dreht er sich um, geht in das große Gebäude und dreht sich nicht noch einmal um.

Als er aus der Eingangshalle verschwindet und ich ihn nicht mehr sehen kann, fällt meine Fassade und ich sacke in mir zusammen. Für Manuel versuche ich, ein wenig stark zu wirken. Derjenige zu sein, der ihm Halt gibt und ihn aufmuntert, obwohl es mich genauso zerfrisst wie Manu.
Uns beiden sieht man von fünfhundert Meter Entfernung an, dass wir gerade eine ziemlich schwierige Zeit durchmachen.

Seufzend drehe ich mich um und gehe zu meinem Auto, mit dem ich zu Sebastian fahre. Ich bin in letzter Zeit oft bei ihm. Wenn Manuel arbeiten ist und ich früher nach Hause komme oder frei habe. Mir macht es Angst, alleine zu sein. Denn wenn ich Pech habe, bin ich bald wieder alleine. Wenn die Ärzte ihm heute nicht helfen können, hat Manuel nicht mehr viel Zeit. Dann lebe ich wieder alleine in der Wohnung. Ohne Manuel. Dann gibt es Manuel nicht mehr.

Ich schlucke und lasse mich in den Sitz fallen.

Wenn Manuel wirklich... sterben sollte, werde ich elendig daran zerfallen. Das schaffe ich nicht. Das würde ich nicht verkraften.

Langsam öffne ich die Autotür, steige aus dem Auto und mache die Tür wieder zu. Dann laufe ich die Treppen zu der Wohnung von Sebastian hinauf und klopfe.
Als er die Tür öffnet, schaut er mich mit den gleichen Augen an, wie sonst auch. Sie strahlen so viel Mitleid aus, dass es mir fast leid tut.

"Ist Manu im Krankenhaus?"

Stumm nicke ich und betrete die Wohnung. Hinter mir schließt Sebastian die Tür und wieder gehen wir ins Wohnzimmer.

"Willst du etwas essen oder trinken?"

"Nein, ich habe wirklich keinen Appetit."

"Wie geht es ihm denn?", erkundigt er sich und ich bemerke die Vorsicht in seiner Stimme. Klar, er hat Angst zu weit zu gehen. Mich zum Weinen zu bringen. Verständlich.

"Ihm geht es gut. Man merkt noch nicht viel. Aber uns beiden tut das nicht gut. Wir wissen, dass er... dass er dieses Ding hat und sein Leben auf dem Spiel steht. So etwas ist nicht leicht zu verkraften. Und vergessen oder ausblenden kannst du es auch nicht. Vorallem Manu. Du verstehst das sicherlich. Du weißt, dass du vielleicht bald stirbst. Da erleidet die Psyche einen ganz schön großen Schaden. Ich hoffe nur, dass er stark bleibt. Sich nicht das Leben nehmen will oder so."

Es ist still.
Sebastian ist sichtlich überfordert.
Ich habe auch nichts anderes erwartet. Was soll man tun, wenn man so etwas hört? Was sagt man da am besten?

"Wann holst du ihn wieder ab?"

Sebastian ignoriert zwar das Gesagte nicht, geht aber nicht weiter darauf ein. Und dafür bin ich ihm dankbar.

"Morgen Mittag."

"Willst du hier schlafen?"

Wieder nicke ich nur.

Wir vertreiben uns die Zeit mit Videospielen und irgendwann, als die Sonne schon lange untergegangen ist, geht Sebastian schlafen. Vorher hat er mir noch eine Decke und ein paar Kissen gegeben, damit ich es auf der Couch halbwegs gemütlich habe.

Ich schalte das Licht im Wohnzimmer aus und nun scheint nur noch der Vollmond in das Zimmer. Meine Versuche zu Schlafen scheitern kläglich und frustriert setze ich mich auf. Mein Blick fällt aus dem Fenster.

Schon immer fand ich Sebastians Wohnung toll. Alleine wegen der Aussicht. Man sieht zwar nicht viel von der Stadt, lediglich ein paar Lichter, dafür kann man aber perfekt in den Himmel schauen, weil nichts im Weg steht.

Ich schaue hinauf und betrachte die Sterne. Mit dem Vollmond sieht das Ganze noch viel schöner aus. Die kleinen Dinger da oben hatten schon immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Irgendwie vergesse ich immer alles Böse um mich herum, wenn ich hinaufschaue. Nur nicht jetzt. Viel zu oft habe ich mit Manu nach oben geschaut. Neben ihm gelegen und einfach geschwiegen.

Wir haben uns das erste Mal unter den Sternen geküsst. Hatten unser erstes Date in einer Sternwarte.
Und auch als wir schon lange zusammen wohnten, sind wir oft noch raus gegangen und haben im Gras gelegen.

Ich dachte mit ihm wäre es vielleicht vorbei gewesen. Meine Pechsträhne mit der Liebe. So glücklich wie mit ihn war ich noch nie. Ihn liebe ich mehr als die Sterne. Er ist mein Stern. Der Stern, der am stärksten strahlt. Der mir bei meiner Orientierung hilft.

Und jetzt?
Jetzt in diesem Moment wird entschieden, ob ich weiter mit ihm zusammen leuchten kann oder wir beide erlöschen. Denn ohne ihn kann ich nicht leuchten.

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