s t e p by s t e p

Es ist nicht schwer zu laufen. Man macht es Schritt für Schritt. Über Asphalt, Gras und für hohe Schuhe unheimlich nervige Kopfsteinpflaster. Klick. Klack.

Ich kann gut laufen, ich übe im langen Flur unserer Wohnung, die ich mit zwei Geschwistern und unserer Mutter teile. Wenn ich gehe, schwinge ich meine Hüfte erst nach rechts und dann nach links. Ich habe mal versucht es andersherum zu machen, aber irgendwie konnte ich mich nicht daran gewöhnen. Also Klick - rechts. Klack - links.

Ich schaue mir oft alte Folgen von GNTM an. Ich präge mir die Ratschläge in Heidis hoher Stimme ein. Lange Schritte, sagt sie. Zwei Fugen mit einem Schritt, denke ich. Schultern lockerlassen, Oberkörper gerade. Ich drücke meine Brust nach vorne, klick. Setze meine Sonnenbrille auf, klack.

Sechs Schritte, das war nicht schwer. Ich bin gerade an der Ecke angekommen. Im Eiscafé zwanzig Meter weiter sitzen viele Leute. Mein Herz klopft schneller. Es ist nicht schwer zu laufen, sage ich mir. Es sind nur Schritte. Schritte, die ich tausendmal geübt habe. Atmen. Ein, Aus. Ein, Aus. Klick. Ein. Klack. Aus.

Als ich am Erdbeerbecher essenden Tisch vorbeikomme, treffen mich die verwunderten Blicke. Mein Herz klopft schneller. Ich denke an Heidi in meinem Kopf. Lange Schritte. Klick. Klack. Klick. Klack.

Heute habe ich es zum ersten Mal angezogen. Das rote Kleid hing fast acht Wochen in meinem Schrank. Der Sommer ist schon fast vorbei. Es hat noch länger gedauert, es zu kaufen, doch als ich es jedes Mal als ich im Second Hand Laden war bewunderte, habe ich mich doch überwunden. „Für Ihre Freundin?", fragte die Verkäuferin lächelnd. „Ehm... eigentlich nicht... Ich würds gern... anprobieren. Für... Fasching!" Sie lachte: „Achso! Klar, gerne. Die Umkleiden sind dort hinten." Ich strich über den fließenden Stoff. Es war wunderschön. „Was sagen Sie?", fragte ich die Verkäuferin zögerlich, als ich den schweren Vorhang der Umkleidekabine zur Seite schob. Sie lächelte freundlich: „Steht Ihnen gut, nicht nur für Fasching, wissen Sie?" Ich lächelte zurück und betrachtete mich im Spiegel. Drehte mich und beobachtete den schwingenden Rock. Es war so wunderschön und ich kam mir so falsch drunter vor. Keine vollen Brüste, die den herzförmigen Ausschnittausfüllten und eine Kante statt der schön geschwungenen Kurve einer ausladenden Hüfte.

Klick. Klack. Lange Nächte vor dem Spiegel in meinem roten Kleid und den High Heels meiner Mutter, die ich um kurz vor vier auf leisen Sohlen wieder zurück in den Schuhschrank im Flur stellte.
Klick Klack. Viele Bilder von meinem Makeup mit dem Snapchatfilter, der meine Haut besser aussehen lässt als sie ist, die ich alle wieder löschte, damit niemand sie sehen kann, falls sie wieder mein Handy stehlen.
Klick Klack. Schöne Männer auf Grindr, denen ich nicht antworte, denn was wäre, wenn es doch etwas Festes wird und alles rauskommt. Grindr gelöscht und runtergeladen. Jeden Morgen, löschen. Jeden Abend, runterladen.

Klick. Klack. Rechts. Links. Hüfte .Lange Schritte. „Dass man sowas noch erlaubt", zischt eine Frau verächtlich im Vorbeigehen zu ihrem Mann. "Schwuchtel", ruft er mir hinterher. Nicht weinen. Klick. Klack. Rechts. Links. Hüfte. Lange Schritte. Schultern grade. Nicht hinsehen. Schnell weg.

An der nächsten Ecke setze ich mich in den Hauseingang und kann meine Tränen nicht zurückhalten. Mein wasserfestes Mascara verläuft doch. Dieser Marke kann ich nicht vertrauen. Ich atme tief durch, beziehungsweise versuche ich es. Zahllose Menschen laufen vorbei, niemand hält an. Sie sehen einen Spinner in einem viel zu schönen Kleid. Irgendwas ist falsch mit ihm, sie starren. Aber niemand hilft dem Spinner.

Mein Handy vibriert. Ich bin da. Steht auf meinem Display. Ich wische mir die Tränen aus den Augen. Ich brauche noch ein bisschen. Sie tippt. Ich warte. Soll ich dich abholen?

Ich starre die Leute an, die mich anstarren. Sie schauen weg. Ich sollte es allein schaffen, ich sollte einfach aufstehen und in die Bar gehen. Es sind nur noch dreißig Meter, es sind nur Schritte. Laufen ist einfach. Sei nicht so ein Weichei. An diesem Punkt ist es schwieriger zurück nach Hause zugehen, als hinzugehen, sage ich mir. Tu es einfach, schreit die Stimme in meinem Kopf, aber meine Beine bleiben still.

Ja, bitte, schreibe ich und ein Stein fällt mir vom Herzen. Egal. Nächstes Mal. Nächstes Mal gehe ich den ganzen Weg alleine.



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