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Auf das, was am Tag darauf passierte, war Kevin so gar nicht vorbereitet gewesen. Eigentlich begann alles wie immer. Er war ein wenig zu früh da, doch er mochte die Ruhe am Morgen früh, wenn noch alles ruhig war und nicht das metalerne Geplärre des Radios durch die Werkstatt hallte. Womit er jedoch nicht gerechnet hatte, war dass auch Sunwoo an diesem Morgen früh dran war, anders als der Junge, der wohl sehr genau gewusst hatte, dass er Kevin um die Uhrzeit bereits hier antreffen würde.
Er lächelte und kam dann mit schnellen Schritten auf ihn zu. Kevin runzelte nachdenklich die Stirn. Etwas in seinem Innern sagte ihm, dass Sunwoo etwas geplant hatte, das hinterhältige Grinsen auf seinen Lippen war unverkennbar. Er überlegte sich gerade, ob er vielleicht besser wegrennen sollte, doch da hatte der andere ihn bereits erreicht.
Er kam ihm ungewöhnlich nah, zu nah! Sämtliche Alarmglocken schrillten gleichzeitig in Kevins Kopf los, doch er war wie gelähmt, als Sunwoo seine Hand ausstreckte und sie auf seine Wange legte. Die Stelle an der er ihn berührte, prickelte und fühlte sich auf einmal ganz heiss an. Alles an ihm fühlte sich heiss an.
Dann beugte sich Sunwoo vor und küsste ihn. Einfach so, direkt auf den Mund. Es war ein kurzer, harmloser Kuss, der wahrscheinlich nur wenige Sekunden andauerte, ehe sich der andere wieder zurückzog, doch Kevin kam es so vor, als würde die Zeit stehen bleiben. Er fühlte alles und nichts zur selben Zeit, fühlte wie ein Feuerwerk auf seinen Lippen explodierte, dort wo sie mit denen von Sunwoo kollidierten.
Sein Kopf hingegen war wie leergefegt, selbst dann noch, als sich der Jüngere längst wieder von ihm entfernt hatte. Was genau war gerade passiert und was hatte das zu bedeuten?
Es dauerte ein wenig, bis er seine Sprache wiedergefunden hatte und selbst da versagte ihm anfangs die Stimme. »W-was...«, er räusperte sich, »Was sollte das gerade?« Er hatte geplant gehabt, den anderen anzufahren, wütend zu sein, doch am Ende klang er einfach nur unglaublich durcheinander.
Er hatte seit Ewigkeiten niemanden mehr geküsst und auch wenn man das eben nicht als richtigen Kuss zählen konnte, so war es doch das erste Mal seit einer wirklich langen Zeit gewesen, dass jemand anderes seine Lippen berührt hatte. Das Gefühl war ihm unglaublich fremd geworden, doch er glaubte jetzt auch, es in all den Jahren vermisst zu haben. Er war zwar ab und an mit einem anderen Mann intim geworden, schliesslich hatte er auch Bedürfnisse, doch er hatte dabei immer aufs Küssen verzichtet, weil das seiner Meinung nach etwas war, was man nur mit jemandem den man liebte teilen sollte.
Dass Sunwoo ihm jetzt also einfach so einen Kuss gestohlen hatte, warf ihn zwar aus der Bahn, überraschte ihn aber im Nachhinein nicht mehr wirklich, es war schliesslich nicht das erste, was sich der Junge von ihm genommen hatte, ohne ihn zuvor zu fragen.
Und wie auch schon die anderen Male zuvor schien Sunwoo auch dieses Mal nicht den Hauch eines schlechten Gewissens zu verspüren. Natürlich nicht, was hatte Kevin auch anderes erwartet, als das ständig präsente Lächeln in dem Gesicht des Jungen, das etwas eigenartig Undurchsichtiges an sich hatte. Man konnte nie so genau sagen, was in Sunwoos Kopf vor sich ging und ob er eigentlich wirklich ernst meinte, was er gerade sagte.
Zumindest ging es Kevin immer so, wann immer der andere auch den Mund aufmachte. Vielleicht war es aber auch eine Art Schutzmechanismus, überlegte Kevin. Sunwoo versteckte sich hinter seinem durchtriebenen Grinsen und seinen frechen Sprüchen, damit ja niemand auf die Idee kam, einen Blick hinter diese Fassade zu werfen.
Vielleicht war das aber auch alles Blödsinn. Kevin war gerade noch zu durcheinander, als dass er sich sinnvolle Gedanken hätte machen können. Wahrscheinlich irrte er sich, ja ganz sicher sogar, beschloss er, als Sunwoo ihm als Antwort auf sein vorheriges Gestotter zuzwinkerte.
»Ich finde mich bloss in meine Rolle ein«, meinte er. Er zuckte lachend mit den Schultern, so als würde das alles erklären, doch Kevin verstand es trotzdem nicht. »Es gibt keine Rolle in die du dich einfinden könntest«, sagte er langsam. Sie hatten ihren Deal gestern nicht geschlossen, Kevin hatte dem Jungen nicht zugestimmt, weil er nicht daran glaubte, dass es funktionierte.
»Oh komm schon, ich würde den perfekten Freund abgeben, hast du ja gerade eben gesehen«, behauptete Sunwoo und Kevin sog scharf die Luft ein. Oh ja, daran hatte er jetzt keine Zweifel mehr, der Junge würde seine Rolle wirklich überzeugend spielen. Wahrscheinlich war das vorhin nur der Anfang davon gewesen, doch genau das machte Kevin Angst. Was wenn er sich zu sehr daran gewöhnte? Er wusste das Sunwoo problemlos wieder aus diesem Spiel aussteigen konnte, doch er? Alleine dieser harmlose Kuss gerade eben hatte ihn bereits mehr fühlen lassen, als gut für ihn war, obwohl er ihn doch theoretisch hätte kalt lassen sollen. Was würde erst geschehen, wenn er mehr davon bekam? Er würde wahrscheinlich nie wieder damit aufhören wollen. Keine guten Voraussetzungen, für etwas was zeitlich beschränkt war.
Also schüttelte er bestimmt den Kopf. »Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist«, sagte er, doch er klang dabei nicht ansatzweise überzeugend. Verdammt, wieso musste ihn Sunwoo auch so überrumpeln, kein Mensch konnte nach so einem Überfall noch eine gescheite Diskussion führen.
»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich bei dem Jungen, weil er sich gerade wie der letzte Idiot aufführte. »Es wäre wahrscheinlich besser, wenn du heute mal einem von den anderen über die Schulter siehst, ich kann das hier gerade nicht.« Er wartete gar nicht erst auf eine Antwort des Jüngeren, sondern machte auf dem Absatz kehrt und floh. Wortwörtlich.
Er verzog sich in die hinterste Ecke der Werkstatt, wo er sich hinter einem Regal versteckte. Sein Atem ging unnatürlich schnell und sein Herz klopfte plötzlich wie verrückt. Was war nur mit ihm? Wieso liess er sich von einer kleinen, unbedeutenden und unglaublich dummen Aktion eines ungehobelten Flegels so sehr aus dem Konzept bringen?
Er fand keine Antwort darauf, weshalb er dem Jungen auch den restlichen Tag über immer wieder aus dem Weg ging. Er wusste, dass er sich lächerlich benahm. Er war erwachsen verdammt, er sollte sich nicht wie ein verknallter Teenager verhalten, denn das war er nicht. Er empfand nichts für Sunwoo, ganz bestimmt nicht.
Wieso nur zog sich dann aber sein Herz schmerzhaft zusammen, als Sunwoo ihm noch einen letzten wehmütigen Blick zuwarf, bevor er sich am Abend von den anderen verabschiedete, bevor er ging?
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