96 - Sprung über den Schatten

Triggerwarnung! Heute erfahren wir das ganze Ausmaß
von Jimins Schicksal. Achtung - psychische Gewalt.

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Völlig gerädert wache ich am Morgen auf und versuche die furchtbaren Traumbilder dieser Nacht abzuschütteln. Namjoon muss arbeiten, denn in zwei Tagen ist die Gala. Und ich möchte unbedingt wissen, wie es Jimin jetzt geht. Also fahre auch ich mit auf den Berg.

Unterwegs telefoniere ich mit dem Beamten. Er bestätigt mir, dass Herr Park erstbmorgen um 18.00 Uhr freigelassen wird, falls Jimin bis dahin nicht Anzeige erstattet hat. Er erzählt mir auch, dass er grade über den Akten von damals sitzt und zu verstehen versucht, warum eigentlich Jimin nicht geglaubt wurde.
Das würde mich allerdings auch brennend interessieren!
“Dürfen wir diese Akten denn auch einsehen? Oder zumindest Jimin? Oder ein Anwalt von Jimin?”
“Ein Anwalt von Jimin dürfte es. Aber wo wollen Sie so schnell einen hernehmen?”
“DAS lassen Sie mal meine Sorge sein. Was für einen brauche ich denn? Strafrecht, Zivilrecht, Sozialrecht oder noch was anderes?”
“Das weiß ich leider auch nicht. Da müssen Sie sich durchfragen. Viel Erfolg! Ich mach hier weiter.”

Im Pförtnerhaus sind schon alle auf den Beinen. Nur Jimin schläft noch vor dem Kamin, und alle sind leise, um ihn nicht zu wecken. Jeongguk ist irgendwann in der Nacht in sein Bett gegangen, damit er noch richtig Schlaf bekommt. Inzwischen ist er schon los zur Arbeit.
Dafür ist Yoongi heute da. Alle bis auf Tae und Jimin gehen in die Diele, wo wir uns die Hände an einem Kaffee oder Tee wärmen und Yoongi erzählen, was gestern alles passiert ist.
“Jimin hat damals bei der Polizei eine Aussage gemacht, und ihm wurde nicht geglaubt? Seltsam. Kinder lügen nicht bei sowas. Jimin ist so auf Gehorsam gedrillt - der läuft doch nicht einfach so davon!”
In Yoongis Kopf arbeitet es sichtlich. Schließlich schüttelt er frustriert den Kopf.
“Jimin braucht einen Anwalt. Ich will diese Akte sehen. Da stimmt was nicht!”

Also fange ich an zu telefonieren und mich durchzufragen, bis ich wieder bei dem Mann rauskomme, der im Sommer schon bei Namjoon und Taehyung geholfen hat. Ich erzähle ihm alles, was ich weiß, und gebe ihm den Kontakt zu unserem Verbündeten bei der Polizei. Er wird sich heute Nachmittag dahinterklemmen, eventuell hier vorbeikommen und uns auf jeden Fall informieren, sobald er Akteneinsicht hat. Mehr können wir im Moment nicht tun.

Namjoon und Yoongi gehen an ihre Arbeit. Jin geht auch zur Villa, um die Aufbauarbeiten für die Gala zu begleiten. Ich sehe nach Taehyung und Jimin. Der ist inzwischen wach, etwas desorientiert und offensichtlich sehr verängstigt. Tae hat eine Decke um ihn gewickelt und hält ihn im Arm.
“Guten Morgen, Jimin. Konntest du ein bisschen schlafen heute Nacht?”
“Hm.”
“Na, immerhin etwas. Kannst du dich an gestern Abend erinnern?”
Seine Augen weiten sich vor Schreck, er zuckt zusammen.
“D.Dass … mein Vater … Ist … er noch bei der Polizei?”
“Bis morgen Abend. Ich habe inzwischen einen Anwalt für dich. Der wird versuchen, möglichst noch heute Akteneinsicht von damals zu bekommen. Wir wollen rausfinden, was da schief gelaufen ist, was dir alles passiert ist, und was wir jetzt anders machen müssen, damit der Mann dir nie wieder gefährlich werden kann.”

Stumm weint der verängstigte Junge in Taehyungs Armen. Eine ganze Weile halten wir mit ihm zusammen aus. Dann verändert sich sein Gesichtsausdruck.
“So, … wie bei Gukkie? Dass … er … nie wieder Angst haben muss?”
Tae hat schon wieder Tränen in den Augen.
“So wie bei Gukkie, für den Yoongi die Wahrheit rausgefunden hat. Und so wie bei mir, weil ein sehr, sehr tapferer Jimin seine Angst überwunden und für mich ausgesagt hat. Deshalb kann ich jetzt in Frieden und Sicherheit leben, ich habe eine Zukunft. Und du sollst auch in Sicherheit leben und eine schöne Zukunft haben. Das ist uns ganz wichtig.”

Wieder warten wir eine ganze Weile ab, was da wohl grade hinter Jimins lebhaftem Minenspiel abgeht. Seine Stimme ist brüchig wie dünnes Eis bei Tauwetter, als er weiterspricht.
“M.Muss ich … irgendwas tun?”
Hoffentlich schafft er das! So panisch wie gestern ist er jedenfalls nicht mehr. Ängstlich - ja. Aber nicht panisch.
“Ohne deine Hilfe geht es nicht. Du musst aussagen, was dir passiert ist. Der nette Polizist wird dir auch helfen. Und dein Anwalt. Und wir alle. Du musst nichts alleine tun.”
“Du weißt, dass du das kannst. Für mich hast du es doch auch geschafft.”

“Hm.”
Fragend sehen wir ihn an.
“Ich mein’ … da hab ich für jemand anderen … Für mich selbst … das ging noch nie. Er … er war immer stärker. Gehorchen war meine Lebensversicherung.”
Irgendwas kitzelt in meinem Oberstübchen bei dem Satz. Aber ich kann es nicht greifen.
Wenn er - warum und wie auch immer - wirklich IMMER gehorcht hat - warum hat er dann so eine entsetzliche Angst vor Strafen? Immer wieder verplappert er sich oder zeigt Reaktionen, die auf drastische Strafen hindeuten. 
Uns bleibt nichts anderes übrig, als auf Erkenntnisse aus den alten Akten zu hoffen.

Gegen Mittag taucht der Anwalt hier auf und versucht, Jimins Vertrauen zu erlangen. Dann erklärt er ihm in Ruhe, wie so eine Anzeige funktioniert, was seine Rolle als Anwalt dabei ist, wie diese Akteneinsicht abläuft und was im Verlauf eines Prozesses Jimin schaffen müsste zu tun. Der wird immer kleiner dabei. Allein die Vorstellung, dass das alles nicht zum gewünschten Ziel führen könnte, droht, ihn zu überwältigen. Also lassen wir ihn wieder in Ruhe. 
Der Anwalt zieht sofort los, um sich mit dem freundlichen Polizisten zu treffen.
Wenn wir Glück haben …

Taehyung und Jimin haben sich ein bisschen im Park beschäftigt. Zum Mittagessen sind dann alle inklusive der Bürodamen bei uns in der Pförtnerei. Wir reden nicht über Jimin, damit er abschalten kann. Etwas abseits lässt Yoongi sich von mir über das Gespräch vorhin erzählen, und über mein komisches Kopfkitzeln.

Wir haben Glück. Grade, als auch Yoongi wieder an die Arbeit gehen will, meldet sich der Anwalt.

“Ich habe mir das alles angesehen und bin ehrlich verwirrt. Da steht ein Kind und sagt:’wenn ich dies falsch mache, dann macht er mit mir das.’ Aber weil es keine Narben gibt, behauptet der Richter:’das Kind lügt.’ Glauben Sie, er schafft es, direkt mit uns darüber zu reden?”
“Das kann ich nicht einschätzen. Traumareaktionen sind nicht kontrollierbar. Aber wir müssen es versuchen.”
“Gut. Dann sammeln wir hier noch ein paar Genehmigungen ein, damit ich handlungsfähig bin, und kommen dann zusammen zu Ihnen.”

“Bleib bitte hier, Yoongi. Ich möchte, dass du mithörst und zwischen den Zeilen liest.”
Yoongi muss sowieso ein paar Telefonate führen, das kann er auch hier tun. Also bleibt er gleich da.

Jimin ringt mit sich. Irgendwas will raus, er traut sich aber nicht. Tae macht ihm Mut.
“Was ist Jimin? Trau dich! Hier ist niemand Offizielles. Wir sind doch da.”
Es dauert einen Moment, bis Jimin anfängt zu reden.
“M. … Muss ich … wenn ihr in die Akte … ich … muss ich dabei sein? Ihr redet dann da drüber. … Ich … das kann ich nicht!”
Schwer atmend verstummt er wieder. Schnell versucht Yoongi, ihn wieder zu beruhigen.
“Bei der Durchsicht werden uns sicherlich einige Fragen kommen. Es wäre gut, wenn wir dir die direkt stellen könnten. Aber dafür musst du nicht die ganze Zeit dabei sein. Wie wärs, wenn du mit Tae zusammen in den Bus oder in sein Zimmer gehst. Wenn wir was fragen wollen, kommen wir dazu und verschwinden gleich wieder.”
Jimin zögert, aber dann nickt er.
“Jetzt gleich?”
“Natürlich - wenn du das möchtest. Vielleicht bringt ihr erstmal Taes Matratze zurück in sein Bett, und dann suchst du dir aus, wo du dich am sichersten fühlst.”
Erleichtert verschwinden die beiden mitsamt Matratze und Decken.

Kaum ertönt die Klingel vom Tor her, steht Yoongi auf, um den beiden Männern entgegen zu gehen.
“So. Jetzt bin ich echt gespannt.”
Der Polizist, der Anwalt, Yoongi und ich sitzen an dem großen Tisch, versorgt mit reichlich Kaffee, und sortieren gemeinsam alles, was wir über Jimins Schicksal wissen.
Mir wäre es ja erheblich lieber, wenn Jimin mir das alles selbst und ohne Angst irgendwann erzählen würde. Aber so viel Zeit haben wir jetzt leider nicht.

Yoongi stellt sich und seine Qualifikation vor und wird sofort konkret.
“Sie kennen Jimin, seit er zwölf Jahre alt ist. Da hatte er schon höllische Angst vor seinem Vater. Aber was ist mit der Mutter? Ich habe das Gefühl, wir müssen das gesamte System betrachten, um Antworten zu finden.”
Der Beamte ist verblüfft, sagt erstmal gar nichts und denkt nach. Dann blättert er vor und zurück in der Akte.
“Ich glaube, das bringt uns nicht weiter. Jimin hat nichts über seine Mutter gesagt, der Vater hat nur angegeben, dass sie verschwunden ist, als der Junge noch klein war.”
“Wie klein?”
“Moment … ah, hier. Er war wohl schon in der Schule. … Ungefähr sechs oder sieben Jahre alt.”
“Das heißt: als Sie Jimin kennen gelernt haben, war er bereits sein halbes Leben mit diesem Vater alleine?”
“Sieht so aus.”
“Hat die Mutter Jimin nicht mitnehmen wollen, oder hat der Vater das verhindert?”
“Darüber steht hier nichts.”
Yoongi beginnt, sich Fakten und Fragen zu notieren.

Die beiden Männer sind längst hellhörig geworden bei seiner Zielstrebigkeit.
“Was denken Sie dabei, Herr Min?”
“Noch nicht genug, um zu spekulieren. Was haben Sie noch?”
“Es gibt Jimins Aussagen auf Band. Das können wir uns anhören.”
“Sehr gerne!”
Der Beamte macht ein Wiedergabegerät startklar, und kurz darauf hören wir Jimins kindliche Stimme erzählen. Wieder kitzelt es in meinem Kopf. Es gleicht alles einem Muster.
'Wenn ich, … dann er … Ich muss, ich darf nicht, ich mache alles, damit er nicht … Gehorchen war meine Lebensversicherung.'

“Yoongi kneift die Augen zu, um sich zu konzentrieren.
“Warum ist die Mutter gegangen? Warum hat sie ihren Sohn zurückgelassen? Wer und wo ist diese Mutter? Und was hat der Vater vor und nach dem Verschwinden der Mutter getan, dass der Sohn so dermaßen lückenlos gespurt hat?”

Lückenlos gespurt hat.’
Plötzlich rutschen in meinem Kopf mehrere Aussagen übereinander.
“Oh Gott, wie furchtbar!”
Alle sehen mich fragend an.
“Was hat Jimin gestern geschrien, als er die Stimme im Kopf hatte? ‘Seine Stimme … ist wie ein Messer, mit dem er mich in Stücke schneidet. Er schneidet mich. Er prügelt mich. Er verbrennt mich. Der bringt mich um! Ich muss hier weg. Er darf mich nicht finden. Sonst ersäuft er mich im Han.’ -
Die Stimme! Sonst! Dazu ‘Gehorchen war meine Lebensversicherung.’ Und: er hat keine Narben.”

Mir schießen die Tränen aus den Augen.
“Diese Aufzählung - das sind keine geschehenen Tatsachen. Das sind die Drohungen, mit denen er gefügig gemacht wurde. Und weil er immer, klaglos und bedingungslos gehorcht hat, war keine dieser Strafen nötig. Darum hat er keine Narben. Also - nicht am Körper.”
Die Männer am Tisch sehen mich entsetzt an. Yoongi knirscht mit den Zähnen.
“Dann ist die Mutter in höchster Bedrängnis geflohen und konnte ihn nicht mitnehmen. Jimin hat vermutlich schon als Kleinkind Gewalt an seiner Mutter mit ansehen müssen. Darum haben bei ihm die Drohungen schon gereicht.”

Unruhig tigert Yoongi durch den Raum.
“Und wie um Himmels Willen kriegen wir solche Aussagen jetzt aus Jimin raus, ohne dass er komplett durchdreht bei diesen Erinnerungen? Dieser Mann ist ein Monster! Er hatte seine Familie zu jeder Zeit völlig unter Kontrolle.”
Der Polizist unterbricht ihn.
“Das klingt erschreckend plausibel. Nur das mit der Mutter ist doch etwas spekulativ, oder?”
“Erstmal ja. Aber ich habe noch ein paar Fragen. Dass da eine Mutter war, die irgendwann verschwunden ist, ist klar. Aber warum ist sie verschwunden? Dass Jimin jahrelang gehirnwäschenartig manipuliert wurde, steht für mich außer Frage. Aber - er hat diesen unbedingten Gehorsam zweimal durchbrochen. Einmal mit zwölf Jahren, als er zu Ihnen gerannt ist. Und einmal nach dem Schulabschluss, als er ganz verschwunden ist. Beide Ausnahmen müssen einen triftigen Grund gehabt haben.”

Der Anwalt hat die ganze Zeit einfach nur zugehört. Jetzt richtet er sich auf.
“Für mich klingt das alles sinnvoll. Ich sehe jetzt für mich eine ganz andere Aufgabe. Ich muss rausfinden, was und wie viel der Kerl Dreck am Stecken haben muss, damit er tatsächlich für immer aus dem Verkehr gezogen werden kann. Denn sonst wird Park Jimin nie zur Ruhe kommen. Und Sie … müssen die Mutter finden.”
Der Beamte stutzt - und versteht.
“Wenn Jimin damals nicht von der Mutter geredet hat, wird er es auch heute nicht tun. Um unsere Vermutungen bestätigt zu bekommen, brauchen wir aber die Mutter. Damit ich offiziell nach der Mutter suchen kann, muss Jimin also erst Anzeige gegen den Vater stellen.”
Mist! Das ist echt ohne Netz und doppelten Boden. Ob wir ihn dazu kriegen?
“Und die wird dann hoffentlich so viel zu berichten haben, dass der Mann endgültig weg vom Fenster ist.”

Der Anwalt wendet sich nun wieder an uns.
“Wird es möglich sein, dass ich mit Park Jimin spreche?”
Yoongi und ich schütteln gleichzeitig den Kopf.
Wir könnten es versuchen. Und für Sie protokollieren. Vielleicht können Sie auch vom Nebenraum aus zuhören. Aber mehr ist sicher nicht drin.”

Ein leises Räuspern ist von der Tür her zu hören. Wir drehen uns um und sehen Jimin, der dort steht, am ganzen Leib zittert, fast Taehyungs Hand zerquetscht, aber eine ungewohnte Entschlossenheit im Blick hat. Er ringt um Worte, der Schweiß bricht ihm aus, er atmet schwer. Die Entschlossenheit bleibt. Wir warten ab.
Oh, Jimin! Du bist so stark. Lass dich nie wieder brechen!

“I. … I.Ich … Ich war immer … a.alleine mit ihm. I.Ich habe gesehen, was er mit Mama gemacht hat. Ich war zu klein, um ihr zu helfen. Sie … S.Sie ist … weggegangen, weil … sie wieder schwanger war. Er …”
Jimin macht zwei Schritte rückwärts, seine Augen spiegeln seine ganze Qual, aber er lässt Taes Hand nicht los.
“Er war schlau, faul und … so … groß. E.Er … hat … E.er hat mich nie angerührt. Ich bin in die Schule gegangen, man hat mir nichts angesehen. Und … und ich kannte doch nichts anderes. Väter schlagen ihre Frauen und bedrohen ihre Kinder. Das war einfach so. Also habe ich gehorcht. Immer. Draußen war ich ein stilles, etwas seltsames Kind, …”
Jimin lächelt ein bisschen gequält.
“... Bin ich ja im Grunde immer noch. Zu Hause war ich sein Sklave. Ich habe alles getan. Wenn man glaubt, dass … dass … das Leben davon abhängt, dann … dann kann ein siebenjähriger Junge seeehr schnell seeehr erwachsen und selbständig werden.”
Erschöpft schließt er die Augen, schwankt, Tae hält ihn fest.

“Als ich zwölf war, …”
Wir halten alle den Atem an. Yoongi hat sofort beim Auftauchen der beiden auf seinem Handy eine Aufnahme-App eingeschaltet.
“Ich habe stumpf gemacht, was er wollte. Ich habe gelernt. Ich habe eingekauft, gekocht, gespült, gewaschen und geputzt. Ich stand immer zur Verfügung. Er hatte mich in der Gewalt - nur … nur … mit … seinen Augen … und mit … seiner Stimme. Ich hatte keine Freunde, war nie irgendwo zu Besuch. Ich wusste nicht, dass es etwas anderes gibt als das. Als ich zwölf war, dachte ich: so ist die Welt. Bis ich meiner Mutter begegnet bin. Sie hatte ein kleines M… M.Mädchen dabei, und sie hatte große Angst. Sie hat nur gesagt:’Bitte, glaube mir. Ich wollte dich mitnehmen. Aber er hat dich nachts immer eingeschlossen. Und nur er hatte den Schlüssel.’
Dann ist sie im Gewühl verschwunden. Und ich habe … zum ersten Mal gedacht:’Gibt es etwas anderes als das, was ich kenne?’ Ich habe angefangen, anderen Schülern zuzuhören. Habe sie mit ihren Eltern beobachtet, habe in Büchern gelesen und im Fernsehen gesehen, dass alle anderen Familien irgendwie anders sind.”

Jimin lehnt sich an Tae, macht einen Moment Pause, lässt sich halten. Dem Polizeibeamten, Taehyung und mir laufen die Tränen. Der Anwalt sieht grimmig konzentriert aus. Und in Yoongis Gesicht tobt ein Tornado vor Zorn.

“W. Wir haben in der Schule einen Film gesehen. Über … unseren Staat. Über Rechte und Pflichten. Was die Feuerwehr macht. Wozu die Polizei da ist. Da … hab … i.ich geglaubt … die Polizei wird mir helfen. Also … bin ich nach der Schule zur nächsten Wache gerannt. Da, … da …”
Stumm zeigt er auf den Beamten. 
“I.Ich habe Mama weggelassen. Sie hatte doch so eine Angst. I.Ich … ich habe alles erzählt, was er mir jemals angedroht hat. Das … das ist alles in meinem Kopf eingebrannt. Diese Stimme. … Alles. … Er … hat mir auch geglaubt. I… ich … hatte Hoffnung. Aber … ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.”
Jimin lässt den Kopf hängen. Tae hält ihn ganz fest.
“Nichts! Jimin, du warst ein psychisch schwer misshandeltes Kind. Du hast nichts falsch gemacht.”

Noch einmal rafft Jimin sich auf.
“Danach hat er weiter gemacht wie vorher. Keine … körperliche Gewalt. Nur … die Drohungen. Er hat sie ausgemalt, mit jedem Detail. Diese Bilder in meinem Kopf! Nach der Schule habe ich mir die Lehrstelle in der Gärtnerei gesucht. Schön weit weg. Mein Vater musste das noch unterschreiben, aber dann bin ich abgehauen. Im Sommer war ich in den Gewächshäusern. Das Fahrrad hab ich vom Sperrmüll. Ein paarmal …”
Seine Stimme senkt sich zu einem Flüstern.
“E.Ein … paarmal hätte er mich … fast erwischt. Aber mein Chef … Ich weiß nicht, warum. Er hat mich beschützt. Hat für mich gelogen. Hat bei der Berufsschule eine Sonderregel für mich erkämpft. So musste ich nicht immer da hin.
Irgendwann … bin ich auf der Flucht den Berg rauf beim Schrottplatz gelandet. Im Winter bin ich dann in den Bus gezogen. Unsichtbar zu sein, war mir zur zweiten Natur geworden. Sejin hat Monate gebraucht, bis er das kapiert hat. … Hyebit allerdings nicht, der wusste sofort, dass ich da war, hat mich aber einfach da sein lassen. ... Ich durfte bleiben.
Ich musste nur am Berg immer aufpassen, … dass … dass ich … nicht ins Ghetto gerate. Sejin wollte mich zu sich nehmen. Mein Chef hat mir das auch angeboten. Aber … aber … eine Wohnung … ist ein Gefängnis. Das … geht einfach nicht.”

Verblüfft sehen wir ihn an. Yoongi findet zuerst wieder Worte.
“Dein Vater wohnt im Ghetto???”
Jimin nickt.
“Alles klar. Wir müssen deine Mutter finden. Und deine Schwester. Bitte sag uns alles, was du weißt!”
Aber unser tapferer Kämpfer ist von jetzt auf gleich völlig abwesend.
Vielleicht setzt auch jetzt endlich ein Schutzmechanismus ein. Das ganze ist eine furchtbare Tortur.
Wir warten ab. Bis Jimin zu flüstern beginnt.
Deine Schwester. M.Meine Schwester. Ich … ich habe eine Schwester! So … wie Minnie. Eine richtige Schwester. … Tae, ich …”
Taehyung strahlt ihn an, und ganz, ganz allmählich geht in Jimins Gesicht die Sonne auf.

Wir alle schütteln die Anspannung von uns ab. Yoongi lässt seine App einfach weiterlaufen, und Jimin schafft es jetzt tatsächlich, sich zu uns an den Tisch zu setzen.
“Muss … müssen Sie noch mehr wissen?”
Sein Anwalt schüttelt den Kopf.
“Im Endeffekt werden noch viele konkrete Fragen kommen. Aber wir haben jetzt alles, um sofort Anzeige zu erstatten. Sie dürfen sich erstmal ausruhen. Das war grade ein riesiger Schritt nach vorne. Und das soll nicht umsonst gewesen sein.”

Er wendet sich an den Beamten.
“Wie gehen wir jetzt weiter vor?”
“Hauptsache schnell. Jimin, damit wir diese Aussage nutzen können, informiere ich Sie, dass Herr Min Ihre ganze Erzählung mitgeschnitten hat, und bitte Sie, mir zunächst mündlich zu erlauben, dass ich die Aufnahme offiziell benutzen darf.”
“Wenn das hilft … Ja, natürlich.”
“Danke!"
Sein Blick geht zurück zu dem Juristen.
"Sie bereiten bitte bis morgen früh die Anzeige vor. Ich informiere meinen Chef und setze die Maschinerie in Gang. Mit alten Melderegistern finden wir hoffentlich eine Spur von der Mutter und Schwester. Wir halten uns gegenseitig auf dem Laufenden. Ich bin guten Mutes.”

Yoongi überlegt.
“Sollten wir eine Gruppe dafür aufmachen, damit immer alle auf dem neuesten Stand sind?”
“Gerne!”
Anwalt und Polizist tauschen sofort ihre Nummern mit Yoongi aus. Er schickt gleich die Aufnahme in den Chat.
Nur Jimin schüttelt den Kopf.
“Ich bitte nicht. Das halte ich nicht aus.”
Meine Nummer kommt auch noch in die Gruppe, dann brechen die beiden Männer auf, und Yoongi geht endlich wieder an seine eigentliche Arbeit.

Als eine ganze Weile später Jin und Namjoon Feierabend machen und zu uns in die Pförtnerei kommen, sitzen wir immer noch schweigend um den Tisch und verdauen diesen intensiven Nachmittag.
Auch gemeinsam machen wir nicht mehr viel. Taehyung nimmt Jimin wieder mit in sein Zimmer, um für ihn da zu sein. Yoongi informiert Namjoon und nimmt auf, was der über Herrn Park in der Knastzeit zu berichten weiß. Ich helfe Jin beim Kochen und schnibbele mit Inbrunst Zwiebeln, denn heulen würde ich jetzt sowieso. Jeongguk kommt nach Hause und wird soweit gebrieft, dass er das Wesentliche kapiert und sich entsprechend verhalten kann.

Nach dem Abendessen fahren Namjoon und ich nach Hause. Es wird ein ziemlich schweigsamer Abend, und wir gehen auch bald ins Bett. Dieser Tag hat uns alles abverlangt.

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23.1.2024    -    28.3.2024

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