95 - der Tag danach
Triggerwarnung! Ab heute erfahren wir nach und nach von Jimins Schicksal. Pass gut auf Dich auf!
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Ich wache davon auf, dass sich hinter mir die Matratze senkt. Kurz darauf hebt sich die warme Decke, und Namjoon kuschelt sich an mich. Er selbst ist allerdings überhaupt nicht kuschelig sondern im Gegenteil ziemlich kalt.
"Hei, ich bin nicht deine Heizung!"
Langsam schiebt sich eine kalte Hand meinen Arm entlang nach vorne. Ich versuche, meine warme Decke dazwischen zu wurschteln. Vergebens.
"Och, ich musste doch nur kurz wo hin. Willst du mich nicht vor dem Erfrierungstod retten, Schatz?"
Ich brumme unwillig.
"Im Moment versuche ich grade, meinen Erfrierungstod zu verhindern!"
Namjoon interessiert das offensichtlich überhaupt nicht. Er beugt sich über mich, so dass es jetzt von hinten ganz kalt zieht, und - knabbert mir am Ohrläppchen. Ich bin sofort völlig wehrlos, wie elektrifiziert. Gänsehaut wandert meinen Rücken runter, bunte Blitze zucken durch meinen Bauch. Jeder Widerstand schmilzt dahin wie Eis in der Sonne.
Ich brumme erwartungsvoll. Joon kichert.
"Das klingt schon ganz anders."
Ein Küsschen aufs Ohr. Langsam dreht er mich zu sich um. Ein Küsschen auf die Nasenspitze. Mir wird auf einmal sehr warm. Ein Kuss auf den Mund - für den wir eine Weile brauchen ...
Ach, könnte doch jeder Tag so beginnen.
"Wenns nach mir geht, kann das so bleiben."
"Wird es doch auch."
Fragend sehe ich ihn an.
Bin ich noch nicht wach - oder er?
Namjoon antwortet nicht. Stattdessen sucht er unter der Decke nach meiner linken Hand und zieht sie hervor. Er strahlt meine Hand an.
Allmählich wird es schräg.
Ich folge seinem Blick und entdecke etwas, das mich schlagartig glücklich macht.
Der Ring! Der Verlobungsring seiner Oma. Und meiner jetzt auch.
"Hast recht. Ich ziehe ja nicht alleine in die 'drei kleinen Häuschen'. Ich hab dann den wundervollsten Mann der Welt jeden Tag bei mir."
Ich betrachte meine Hand näher. Bei der Gelegenheit stelle ich fest, dass ich überhaupt etwas sehen kann, dass es also draußen - und darum auch hier drinnen - schon taghell ist. Ich denke laut.
"Der Ring ist besonders schön, weil er so schlicht ist. Ich finde, er steht mir. Er passt zu meiner Hand."
"Da hast du recht. Er passt zu dir. Er hat wohl auf dich gewartet."
"Und ich auf dich."
Ich drehe mich endgültig zu ihm hin und ziehe Joon zu mir runter. Meine Finger streichen durch seine Haare, während wir uns leidenschaftlich küssen. Dann liegen wir ganz still. Ich schließe die Augen und ertaste seine Haut mit meinen Fingern. Ein leises Zittern. Die feinen Haare auf seinem Arm. Das Muskelspiel, wenn er sich bewegt. Wie wundersam weich seine Haut innen an den Armen ist!
Ich brumme genüsslich.
Der Vormittag ist schon weit fortgeschritten, da stehen wir endlich auf - und verlagern unsere Zärtlichkeiten einfach unter die Dusche. Ich bestehe nur noch aus meinen Sinnen, so intensiv ist das alles. Wir lassen uns Zeit, frühstücken ausgedehnt, machen es uns gemütlich, verbummeln den Tag.
Was für eine Wohltat nach den anstrengenden letzten Wochen.
"Sollen wir heute überhaupt zur Villa fahren?"
"Ich glaube schon. Sehen, wie es Jin mit dem Abend geht. Wie es bei Hobi und So-Ra weitergeht. Wie Jeongguk und Jimin die Abende in den Gastfamilien verlebt haben. Ich vermute, da ist heute Gruppenkuscheln angesagt."
"Na, dann."
Ich brumme frustriert, denn eigentlich will ich heute nicht raus. Aber Namjoon hat leider den entscheidenden Knopf gedrückt - mein Verantwortungsgefühl für die Jungs. Um drei Uhr machen wir uns schließlich auf den Weg. Viel ist nicht los heute auf Seouls Straßen. Wir kommen zügig durch und treffen kurz vor Einbruck der Dämmerung an der Villa ein. Die Schatten der Bäume und Grundstücksmauern sind schon lang, die Stimmung ist für einen Moment fast magisch.
Aber dann bremse ich irritiert, denn auf der gegenüber liegenden Straßenseite steht stumm ein Mann und starrt den Hang hoch zum Portal. Er ist relativ klein, zu dünn angezogen und sieht ungepflegt aus. Zottelige Haare, unrasiert, das Gesicht, wahrscheinlich vom Alkohol, aufgedunsen und gerötet, eine deutliche Bierplautze, tief liegende Augen, die mir dennoch irgendwie bekannt vorkommen. Die Hände in die Taschen einer alten, schmutzigen Trainingsjacke gesteckt, die ursprüngliche Farbe der Hose lässt sich unter dem Dreck nicht erkennen, eine erloschene Zigarettenkippe hängt in seinem Mundwinkel und rundet das Bild ab.
Mit tonloser Stimme bricht Namjoon den Moment.
"Fahr weiter, Liebes. Nichts anmerken lassen. So lange der hier auf der Straße steht, muss er uns nicht interessieren. Es war damit zu rechnen, dass manche Betroffene hier plötzlich selbst vor der Tür stehen."
"Hast recht."
Ich steuere den Wagen am Parkplatz vorbei, hoch zur Pförtnerei. Aus den Fenstern des Gemeinschaftsraums leuchtet uns warmes Licht entgegen. Diese Augen gehen mir nicht aus dem Kopf.
Wir werden fröhlich von Jin, Tae und Jimin begrüßt und bekommen gleich einen Tee und Kekse angeboten. Kaum sitzen wir am Tisch, kommt der Kopf von Hyebit zum Vorschein, der uns mit einem gewaltigen Hundegähnen ignoriert und zum Ofen tapst. Der Kachelofen strahlt eine angenehme Wärme aus. Der Hund ist sofort wieder eingeschlafen.
"Fröhliche Weihnachten, Jungs. Das hier ist ein richtig gemütliches Zuhause."
Namjoon hält sich zurück und beobachtet. Aber es scheint allen gut zu gehen, und das freut mich sehr.
Jeongguk kommt mit einer Cola aus der Küche.
"Na, wie ist es dir bei Yoongis Eltern ergangen?"
Er setzt sich zu uns.
"Das war echt schön. Ich hab mich wohl und willkommen gefühlt. Die Art und Weise, wie die drei miteinander umgehen, hat mich beeindruckt. Man spürt, dass sie gemeinsam einiges hinter sich haben. Aber auch, dass sie damit durch sind und vorwärts blicken. Seine Eltern sind mächtig stolz, dass Yoongi jetzt so eine wichtige und sinnvolle Arbeit macht. Da ist ganz viel Wohlwollen, und ich war einfach mittendrin. Die haben mich auch nicht ausgefragt oder so. Ich hab dann spontan da übernachtet, weil es auf einmal so spät war."
"Das klingt doch richtig nett. Freut mich für dich!"
"Und morgen kommt mein Bruder. Darauf freu ich mich auch."
Namjoon hat Jin beobachtet und spricht ihn nun an.
"Magst du uns erzählen, wie es dir geht und wie du den Abend verbracht hast? Oder willst du das lieber noch im Stillen beackern und dann mit deinem Therapeuten durchsprechen?"
Jin war tatsächlich tief in Gedanken und ist kurz zusammengezuckt. Aber jetzt lächelt er.
"Mit dem hab ich heute Morgen schon ausführlich telefoniert. - Sagen wir so: meine Antwort auf Mamas Brief war freundlich, aber sehr klar. Das war wohl gelungen und ein echtes 'Hallo, wach!' Dass ich sie trotzdem für gestern eingeladen habe, war dann der Türöffner.
Wir waren alle sehr in Habachtstellung, aber wir hatten einen schönen Abend miteinander. Und nach zwei Stunden sind sie wieder nach Hause gefahren. Dass wir es hier am Freitag gemeinsam so schön weihnachtlich gemacht haben, hat mir geholfen, weil ich so irgendwie nicht alleine war hinterher. Ihr wart bei mir.
Ein bisschen stelle ich mir so Taehyungs erstes Wiedersehen vor. Vorsichtig vorantastend, aber hoffnungsvoll. Und damit kann ich gut leben."
Wir atmen auf.
"Das klingt doch wirklich wie ein guter Anfang. Das freut mich sehr für dich."
Taehyung und Jimin haben am Wohnzimmertisch Karten gespielt. Jetzt räumen sie die Karten weg und setzen sich zu uns. Jimin lächelt mich an. Und da macht es Klick. Die Augen! Wenn Jimin lächelt oder lacht, verengen sich seine Augen immer. Deshalb sehen sie jetzt für einen Augenblick genau so aus wie die von dem Mann unten an der Straße, der sie wahrscheinlich ein wenig zugekniffen hatte, um besser sehen zu können.
Was mache ich denn jetzt? Scheiße! Oder bilde ich mir das nur ein? Aber wenn ... alle Indizien deuten darauf hin, dass Jimin ein extrem gestörtes, traumatisierendes Verhältnis zu seinem Vater hat. Wo kommt der denn auf einmal her? Und wie werden wir den wieder los? Jimin darf das nicht mitkriegen!
Andererseits - wie auch immer er das rausgefunden hat - den werden wir jetzt sowieso nicht mehr los. Und dann ist Jimin in seinem Bus gradezu auf dem Präsentierteller für den Kerl.
Einem Impuls gehorchend stehe ich auf.
"Tae, hast du einen Moment Zeit? Ich habe eine Frage an dich."
"Klar, was gibts?"
Ich drücke Namjoon kurz die Schulter und gehe raus. Taehyung folgt mir und schließt die Tür zum Flur hinter sich.
"Warum so geheimnisvoll?"
"Zieh dich warm an, wir gehen kurz raus."
Wenige Minuten später gehen wir hinter dem Bus entlang runter zur Straße, versuchen dabei, keinen Bewegungsmelder auszulösen und immer in einer Deckung zu sein. Ich will wissen, ob der Typ noch da ist.
Am Zaun angekommen, spähe ich vorsichtig um das Ende der Hecke.
"Mist! Er ist weg."
"Wer denn? Kannst du mir bitte erklären, was das soll?"
Ich drehe mich zu ihm um und seufze. Der Kerl kann jetzt überall sein. Auch im Park, denn wir haben das große Tor nicht geschlossen. Dann ist Jimin nicht mehr sicher.
"Kommst du irgendwie in den Bus rein? Da ist es nicht so kalt."
"Na, du machst es ja spannend."
Mit einem geübten Handgriff öffnet Tae die hintere Bustür und schließt sie wieder, sobald wir drin sind. Wir machen kein Licht an.
"So, jetzt sag endlich!"
"Pass auf. Wir alle kennen Jimin als scheuen, traumatisierten Menschen, der von tausend Ängsten beherrscht und im Grunde immer auf der Flucht ist. Aus verschiedenen Andeutungen und Ausrutschern habe ich den Schluss gezogen, dass Jimins Vater das Problem sein dürfte.
Als Joon und ich vorhin hier ankamen, stand ein Mann da auf der anderen Seite der Straße und hat zur Villa hochgeschaut. Trotz seines verwahrlosten Zustands kam er mir irgendwie bekannt vor. Als Jimin mich eben angelächelt hat, wusste ich, warum. Es sind die Augen. Der Schnitt vom Gesicht. Ich weiß es natürlich nicht, aber ich gehe davon aus, dass - wie auch immer - Jimins Vater eben da war oder noch ist. Und ich bin absolut ratlos, was ich als nächstes tun soll."
Taehyung ist immer unruhiger geworden. Jetzt rauft er sich die Haare.
"Scheiße! Das Gruppenfoto gestern. Hast du heute schon die Presse gecheckt? Wenn das wirklich sein Vater ist, ...
Ich weiß auch nicht mehr als du. Jimin kannte ja meine Familienmitglieder schon. Aber gestern ... er wirkte wie ein kleines Kind, das eine neue Welt entdeckt und aus dem Staunen nicht mehr rauskommt. Er gehörte einfach mit dazu - und konnte das überhaupt nicht einsortieren. 'Familie' im positiven Sinne ist ein Konstrukt, dass er offensichtlich nicht kennt."
Mir entfährt ein frustriertes Knurren.
"Und so lange Jimin uns nichts erzählt, haben wir nichts in der Hand, das uns helfen könnte, seinen Vater von ihm fernzuhalten. Im Grunde müsste der Mann ein Verbrechen begangen haben und sitzen, damit Jimin wirklich Ruhe hat. Was wir andererseits natürlich Jimin nicht wünschen."
"Dass der Vater sitzt?"
"Nein, dass der Vater damals an Jimin Verbrechen begangen hat, die ihn heute in den Knast bringen würden."
"Auch wieder wahr."
Schweigend scrollen wir uns durch diverse Online-Zeitungen von heute und finden tatsächlich, zum Teil auf dem Titelblatt, Bilder von der Villa, dem Stiftungslogo, Namjoon, mir - und das Gruppenfoto, auf dem Jimin sehr gut zu erkennen ist. Taehyung flucht.
"Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole - scheiße!"
"Du wiederholst dich."
Die Situation ist zu ernst, um zu lachen.
"Lass uns zurückgehen und das Thema ansprechen. Du konzentrierst dich bitte ganz auf Jimin. Ich werde versuchen, zu ihm durchzudringen. Irgendwas muss da zu finden sein, womit wir den Mann aus dem Verkehr ziehen und Jimin Ruhe verschaffen können."
Taehyung runzelt skeptisch die Stirn, hat aber auch keine bessere Idee.
"Dann los. ... Das wird furchtbar."
So leise wie möglich verlassen wir wieder den Bus und laufen im Schatten der Hecke zurück zum Pförtnerhaus. Aber wir kommen zu spät. Vor dem großen Fenster des Gemeinschaftsraumes steht der seltsame Mann, das Gesicht nah an der Scheibe, und starrt hinein. Wir erstarren und flüstern.
"Tae, rein mit dir. Beim Garagentor!"
"Ich kann dich mit dem nicht alleine lassen."
"Musst du. Jin muss die Polizei rufen. Und Jimin braucht dich."
Im nächsten Moment ertönt von drinnen ein markerschütternder Schrei, etwas poltert laut und Hyebit bellt hysterisch. Tae zögert nicht mehr und huscht zum linken Eingang. Drinnen sprintet er los, wirft unterwegs seine Jacke weg und verschwindet hinter der Glastür.
Ich bleibe im Schatten und beobachte weiter den Eindringling. Er steht noch immer vor dem Fenster. Sein Gesicht wird von drinnen beleuchtet. Er grinst.
Sadist! Was hast du deinem Sohn angetan? Was tust du ihm jetzt schon wieder an!
Der Widerling lacht sich schlapp hier draußen. Ich sehe ja nicht, was drinnen passiert, aber Jimin muss in furchtbare Panik verfallen sein.
Lautlos ziehe ich mich an der Hecke entlang zurück bis zur Straße und warte ab. Ein paar Minuten lang passiert gar nichts. Dann sehe ich zwei Streifenwagen die Straße heraufkommen, laufe ihnen entgegen und informiere die fünf Beamten über den Eindringling. Sie teilen sich auf und gehen auf verschiedenen Wegen den Hang hoch. Ich selbst laufe mit zweien wieder am Bus entlang.
Auf einmal höre ich Namjoons Stimme. Er ist wohl rausgekommen und spricht den Fremden laut an. Scharf, und kalt. Dann kann ich ihn auch sehen. Er geht auf den Eindringling zu, packt ihn am Arm. Der wehrt sich, und im nächsten Moment macht Namjoon eine schnelle Ausweichbewegung und dreht gleich darauf dem Kerl den Arm auf den Rücken. Etwas Metallenes fällt klirrend zu Boden.
Mir stockt der Atem.
Der Kerl scheint bewaffnet zu sein! Pass auf dich auf, Joonie!
Dann geht alles ganz schnell. Mit wenigen Schritten haben die Beamten die beiden erreicht und erlösen Namjoon aus der gefährlichen Lage. Einer der Beamten bückt sich, hebt etwas auf und zeigt es seinen Kollegen. Eine Minute später klicken Handschellen an den Armen des Eindringlings.
Namjoon hingegen kommt auf die Hecke zu gerannt.
"Nelli? Bist du okay?"
Ich trete aus dem Schatten.
"Ich bin hier. Lass uns reingehen zu den anderen."
Erst müssen wir noch den Polizisten ein paar Fragen beantworten. Ich äußere dabei die Bitte, dass der Mann für 24 Stunden festgehalten wird, weil wir den Verdacht haben, dass er noch viel mehr auf dem Kerbholz hat als dieses Eindringen auf fremdes Gelände und diese Messerattacke.
Ein etwas Älterer von den Polizisten wendet sich mit Staunen in der Stimme an Namjoon.
"Sind Sie unverletzt? Ich habe den Angriff kommen sehen, aber ich war noch zu weit weg. Ihre Reaktion war beeindruckend. Sie sind ein großes Risiko eingegangen."
Namjoon schüttelt sich, als wollte er Erinnerungen loswerden.
"Mir geht es gut, danke. Nichts passiert, er ist sturzbetrunken und kann seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren. Das hat es mir leicht gemacht.
Ich ... wusste, worauf ich mich einlasse. ... Wir waren gleichzeitig in Hongsung."
"Sie ... verstehe. Verzeihen Sie. Und ... passen Sie gut auf den Jungen auf. Durch die Vorbestrafung können wir den Alten bis zu 48 Stunden festhalten. Aber der Sohn muss endlich nochmal reden, sonst wird der Vater immer wieder auftauchen. Jimin ist jetzt erwachsen. Er hat eine ganz andere Position als damals. Aber er muss den Mund aufmachen."
Jetzt staune ich.
"Sie kennen diese Familie?"
"Jimin war zwölf, als er das erste Mal versucht hat, seinem Vater zu entkommen. Er ist gradewegs zu mir auf die Wache gerannt. Ich habe ihm auch alles geglaubt, aber der Haftrichter leider nicht. Er musste zurück in die Hölle. Mit fünfzehn, kurz nach seinem Schulabschluss, ist der Junge dann spurlos verschwunden. Vor ein paar Monaten ist er plötzlich auf einer Wache aufgetaucht, um in einem Fall von Brandstiftung auszusagen. Aber bis ich davon erfahren habe, hatte er sich schon wieder in Luft aufgelöst. Hoffentlich ist er nicht völlig alleine. ... Oder ist er bei Ihnen da drinnen?"
Ich zögere mit der Antwort, denn der Vater soll natürlich so wenig wie möglich wissen. Jimins Vater hat sich erst gewehrt. Inzwischen hält er still, schweigt mit grimmigem Gesicht und hört genau zu. Eine unbeschreiblich widerlich stinkende Fahne umweht ihn.
"Bringt ihn weg."
Er wird abgeführt.
Dann kann ich antworten.
"Ja, Jimin ist bei uns. Er hatte für einen dieser jungen Männer ausgesagt und ihn dadurch vom Verdacht der Brandstiftung befreit. Taehyung hat sich seitdem intensiv um ihn bemüht und konnte sein Vertrauen erringen. Aber erzählt hat Jimin uns noch nichts."
"Wie gesagt - passen Sie gut auf ihn auf. Unsere erste Begegnung habe ich nie vergessen. Ich konnte ihm damals nicht helfen. Aber er hat es verdient, dass Menschen für ihn da sind. ... Hier, meine Karte. Falls Sie mich brauchen."
Mit einem letzten Gruß dreht der Beamte sich um und folgt seinen Kollegen. Endlich ist der Spuk vorbei. Hier draußen. Aber sicher nicht drinnen.
Wir eilen in den Gemeinschaftsraum, wo sich uns ein trauriges Bild bietet. Jin und Guk kommen grade aus der Küche zurück, wohin sie wohl geflohen waren. Jimin hockt zusammengekugelt auf dem Boden hinter dem umgekippten Sofa, bringt keinen Laut hervor, zittert wie Espenlaub. Tae zieht grade eine Kuscheldecke vom Sofa und wickelt Jimin liebevoll ein. Hyebit drängt sich auch an Jimin, allerdings mehr verwirrt als beschützerisch.
Namjoon geht nochmal raus und schließt die Fensterläden. Drinnen macht er die Tür zu, schiebt Jin und Guk zurück in die Küche und schließt auch diese Tür von innen. Tae, Jimin und ich bleiben allein. Ich sehe Tae an, er sieht mich an. Er hat Tränen in den Augen, zuckt hilflos mit den Schultern. Auch mir steht das Wasser bis zum Rand.
Im Grunde müssten wir ihm nur sagen, dass die Gefahr vorbei ist, und dass seine Aussage ihm seinen Vater ein für alle mal vom Hals schaffen kann. Aber das ist logisch. Jimin ist grade nicht logisch, er ist panisch. Wie sollen wir da zu ihm durchdringen?
Es dauert einige Minuten, bis der Junge sich rührt, sich an Taehyung klammert, den Blick hebt. All seine über Jahre angestaute Angst bricht aus ihm heraus.
"Ist ... ist er weg? Ist er wirklich ganz weg? Ich muss verschwinden. Sofort! Der ... der bringt mich um, wenn er mich erwischt. Der darf mich nie berühren. Das überleb ich nicht. Tae, du musst mich hier wegbringen."
Jimin schluchzt. Er bekommt kaum Luft bei seinem Redeschwall.
"Dieses Grinsen. Der weiß jetzt schon, was er mit mir macht, wenn er mich erwischt. Seine Stimme. Ich höre seine Stimme."
Jimin kugelt sich wieder ein und hält sich die Ohren zu. Er selbst wird immer lauter und immer verzweifelter.
"Die Stimme ... ist wie ein Messer, mit dem er mich in Stücke schneidet. Er schneidet mich. Er prügelt mich. Er verbrennt mich. Der bringt mich um! Ich muss hier weg. Er darf mich nicht finden. Sonst ersäuft er mich im Han. Halt mich fest. Er bringt mich um!"
Ich bin entsetzt, sprachlos, wie gelähmt. Ich habe sowas geahnt, aber solche Grausamkeiten kann ich mir einfach nicht ausdenken!
Eigentlich rechne ich jeden Moment damit, dass Jimin aufspringt und in die kalte Dunkelheit flüchtet. Ich könnte ihn nicht halten. Aber seltsamerweise passiert das nicht. Überschwemmt von Panik klammert er sich an Taehyung, der ihn einfach nur festhält. Unser einziger Hoffnungsschimmer. Das Band zwischen den beiden ist inzwischen so stark, dass Taes Anwesenheit anscheinend trotzdem durch seine Panik dringt. Er ist vollkommen hilflos seinen Ängsten und Horrorvisionen ausgesetzt, aber er weiß immer noch, dass Tae da ist.
Und Tae findet endlich Worte für Jimin.
"Ich bin bei dir, Jimin. Du bist nicht alleine. Und du sollst auch nie wieder alleine sein mit ihm. Halt dich an mir fest. ... Ja, genau. Komm her, halt dich an mir fest. Egal, was er dir jemals angetan hat - er soll dich nie wieder quälen dürfen."
Schluchzend und stammelnd klammert sich Jimin an seinen Freund.
"Ich verstehe deine Angst. So bedroht habe ich mich auf der Wache gefühlt - bis du gekommen bist. Du hast mich gerettet, Jimin. Und jetzt passe ich auf dich auf."
Jimin nickt und kriecht noch mehr in Taehyungs Arme.
Ich mache Tae ein Zeichen, dass ich mit seinem Schützling reden will. Er versteht.
"Jiminie, Nelli ist hier. Sie möchte mit dir reden. Schaffst du das?"
Erst kommt keine Antwort, aber dann richtet er sich doch ein wenig auf und schaut mich fragend an. Ich versuche mein Glück.
"Ich bin wirklich froh, dass du hier bei uns bist. Und dass du Taehyung so sehr vertraust. Wir wollen alles tun, damit du nie wieder Angst haben musst. War ... ist das ... dein Vater?"
Er nickt nur.
"Der Polizist, der ihn eben verhaftet hat, kennt ihn. Und dich. Er hat erzählt, dass du ihn mal um Hilfe gebeten hast, er dir aber n..."
Jimin hebt abwehrend die Hände, ich halte sofort meinen Mund.
"E... E.Er hat mir geglaubt. Aber der Richter nicht. Ich bin immer zu ihm gelaufen, aber er konnte nichts tun. Darum hab ich so A.Angst vor der Polizei. I.ist er ... noch da?"
"Er musste mit zurück zur Wache. Aber er hat uns gebeten, dass wir immer gut auf dich aufpassen. Er hat gesagt, dass du was besseres verdient hast. Und er hat mir seine Karte gegeben. Falls wir ihn brauchen."
Erschöpft sinkt Jimin wieder an Taes Schulter, schließt die Augen. Zittert.
"Der Beamte hat uns gesagt, dass du es noch einmal versuchen sollst. Auspacken sollst. E..."
Ein gellender Schrei unterbricht mich. Jimin krümmt sich zusammen. Hilflos sehen wir zu, wie seine mühsam zurück erlangte Ruhe erneut zerbröselt. Ich bin ratlos. Taehyung schüttelt den Kopf und nimmt Jimin ganz fest in den Arm. Leise versucht er, seinen Freund wieder zu beruhigen.
"Pass auf, Jimin. Wir hören jetzt auf. Wir essen was, dann kommst du mit mir ins Bett. Oder ich mit dir in den Bus. Du versuchst zu schlafen, ich passe auf dich auf. Und morgen reden wir weiter. Jetzt bist du einfach zu erschöpft dafür."
"Der Beamte hat gesagt, dass er den Kerl ein bis zwei Tage lang festhalten kann. Du kannst dich also erst wirklich ausruhen. Du bist hier in Sicherheit."
Plötzlich kommt mir ein Gedanke.
Bloß nicht!
"Jimin, kannst du mir was versprechen?"
Scheu blickt er zu mir auf.
"Bitte, bittebitte lauf nicht weg. Du bist hier in Sicherheit. Da draußen nicht. Bitte lauf nicht weg."
Stille. Er rührt sich nicht. Es arbeitet in ihm. Dann schließlich nickt er.
Die drei aus der Küche sind schon seit einer Weile wieder hier, haben sich aber zurückgehalten. Jetzt kommen sie auf uns zu, Namjoon und Jeongguk stellen das Sofa wieder richtig hin. Taehyung zieht Jimin hoch, nimmt ihn sofort wieder in die Arme. Jin fragt leise nach.
"Hast du Hunger? Möchtest du was essen? Und wenn ja, was?"
Jimin flüstert vor Erschöpfung.
"Was schnelles. ... Ich weiß nicht, ob ich überhaupt schlafen kann."
Alle machen sich an die Arbeit, und bis Jimin es schafft, sich an den Tisch zu setzen, steht dort schon Essen für uns alle bereit.
Jeongguk schweigt und grübelt. Und macht dann einen Vorschlag.
"Wir können alle hier mit dir im Wohnzimmer schlafen. Wir holen unsere Matratzen und sind ganz nah bei dir."
Kurz darauf rollen sich Tae, Guk und Jimin auf zwei Matratzen vorm Ofen zusammen. Jin lässt uns beide raus, schließt sorgfältig alles ab und geht dann sicherlich in sein eigenes Bett. Namjoon und ich laufen zum Auto. Ich sehe keine Sterne, ich höre nicht das Knirschen von Schnee unter meinen Füßen, ich fühle die kalte Nacht nicht. Mir ist innendrin furchtbar kalt.
"Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist!"
"Der hatte ja sein Gesicht so nah an der Scheibe, deshalb hab ich ihn erkannt. Mir war klar, dass er eine Bedrohung für uns alle ist, so lange er frei rumläuft. Zum Glück hat er sich schon so viel Hirn weggesoffen, dass ich ihn sehr gut einschätzen kann. Ich war sofort im Knast-Überlebens-Modus. Deshalb war ich mir sicher, dass ich das hinkriege. ... Aber die Erinnerungen schütteln grade auch mich ziemlich durch."
Zu Hause gehen auch wir bald ins Bett. Namjoon hält mich ganz fest, während wir uns beide in den Schlaf weinen.
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21.1.2024 - 28.3.2024
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