91 - Das Netzwerk der Hoffnung e.V.
Hab ich geschlafen heute Nacht? Keine Ahnung. Hab ich genug geschlafen heute Nacht? Keine Ahnung. Bin ich - ganz ohne Wecker - rechtzeitig aufgewacht? Sowas von! Es ist noch stockdunkel draußen, als ich mit einem ersten Kaffee meine Lebensgeister wecke.
Heute! Heute ist der Tag, auf den ich fast neun Monate lang hingearbeitet habe. 'Finde einen wohltätigen Zweck deiner Wahl'. Wie viel Kopfzerbrechen, zaudern, stolpern, in die Irre gehen, scheitern hat diese Frage verursacht. Und doch: es war ein Weg, der zum Ziel geführt hat. Es war MEIN Weg. Es IST MEIN Weg.
Das war ein seltsamer Moment gestern, als ich traurig wurde, dass Harry heute nicht dabei sein kann - und mir dann plötzlich die Beine weggesackt sind. War das ein letztes Aufbäumen meines schlechten Gewissens? ... ... ein 'letztes' ... Ja, sowas! Heißt das ... das heißt ..., ... dass ich tatsächlich über das schlechte Gewissen hinweggewachsen bin. Sonst hätte ich das grade nicht so denken können! Ich habe meine Eltern nicht getötet. Harry hat selbst entschieden, zurück nach Deutschland zu ziehen, seine Krankheit vor mir zu verbergen, mir all die Informationen über mein Leben nur häppchenweise zukommen zu lassen.
Mal wieder begreife ich, dass ich 'Sarang Namja' und genau richtig so bin. Spontan reiße ich die Tür zu meinem kleinen Balkon auf und fange sofort an zu zittern. Ich ignoriere das - Lebensfreude und Selbstannahme wärmen von innen. Ich atme tief die frische Winterluft ein, höre die wohltuende Stille, sehe den allerersten winzigen Streifen Morgendämmerung im Osten auftauchen, spüre die Freiheit und das Glück in meinem Leben.
Mein Telefon ruft mich wieder ins Warme. Namjoon und die anderen Jungs sind grade aufgestanden, werden gleich frühstücken, tief Luft holen und sich dann in diesen besonderen Tag stürzen. Hobi und seine Tante werden heute Abend doch in der Stadt bleiben, weil der Vater wohl zurückgerudert ist. Und Jin hat eben wider alles Erwarten seine Eltern in die Pförtnerei zum Abendessen eingeladen, mit der Bitte zu respektieren, wenn er wieder allein sein möchte. Sie haben zugestimmt.
Hoffentlich kann aus dieser Begegnung Respekt erwachsen.
Ich mache mein Handy ganz aus und tauche mit großer Achtsamkeit ab in meine angenehme Morgenroutine. Ich lasse mir Zeit. Ich möchte jeden Moment dieses besonderen Tages sehr bewusst erleben.
Nach dem Frühstück habe ich noch etwas Zeit, bevor ich los muss. Ich denke nach über meine Rede, wie ich Harry ins rechte Licht rücken kann. Ich habe ein sehr gutes, etwas älteres Foto zur Verfügung gestellt, das ab morgen in der Eingangshalle hängen wird. Aber jetzt wird mir auf einmal klar, dass ich die perfekte Möglichkeit habe, Harry ganz persönlich vorzustellen. Ich greife mir die Bildermappe und suche gezielt nach ein paar seiner Bilder. Die werde ich während meiner Rede zeigen. Das wirkt bestimmt gut. Ich muss sie ja nicht aus der Hand geben. Dann kann auch keiner lesen, was hinten drauf steht. Ich überfliege am Computer meine Rede, passe sie an die gewählten Bilder an, drucke sie noch mal aus und packe diese Seiten zusammen mit der Bildermappe ein.
Dabei fällt ein Bild aus der Mappe, das ich bisher noch nicht gesehen hatte. Zum Glück ist es harmlos, gemalt wie die anderen - und doch ist etwas völlig anders. Es zeigt mich in der Bibliothek vor der großen Bücherwand, offensichtlich fasziniert von den Büchern und der darin verborgenen Welt. Aber es zeigt mich viermal, in unterschiedlichem Alter. Mal im Nachthemd, ganz vertieft. Mal bei einem waghalsigen Balanceakt. Mal strecke ich mich gradezu aus nach Wissen und Weisheit. Ich bin fasziniert. Ich muss den Brief hinterdrauf gar nicht lesen, das Bild selbst ist wie ein Brief. Allerdings fällt mir auf, dass vier verschiedene Daten auf der Rückseite stehen.
Das muss ich unbedingt auch zeigen!
Noch nie - selbst gestern nicht - war ich bei der Fahrt zum Bukhansan so aufgeregt wie heute. Der Weg zieht sich endlos und rast gleichzeitig blitzschnell vorbei. Da die Villa das letzte Haus an der Straße ist, war es kein Problem, alles absperren zu lassen. So können die Gründungsmitglieder den Weg rauf, zum Portal gefahren werden, eigens angestellte 'Jungs für alles' fahren dann die Wagen wieder runter und reihen die schicken Karossen an der Straße auf. Wer kein geladener Gast mit schriftlicher Bestätigung ist, kommt fünfzig Meter vor der Villa gar nicht mehr weiter.
Als ich ankomme, ist jedoch noch alles ruhig. Also fahre ich hoch, lasse den Schlüssel im Zündschloss stecken und steige die Stufen zum Portal hinauf.
Seltsam, was in diesen acht Monaten alles passiert ist! Aber es hat sich wunderbar gefügt. Wir haben ein klares Ziel vor Augen, alle Weichen sind gestellt - und darum kann ich heute Harrys testamentarischen Wunsch erfüllen. Ich bin auf diesem Wege eine andere geworden, habe andere Menschen um mich geschart, andere Prioritäten gesetzt, einen neuen Blick auf mich und die Welt gewonnen. Aber das hier ist kein Abschied. Das ist ein Wechsel, ein Übergang, ein Neuanfang.
Harry, bist du heute an meiner Seite? Ich liebe dich!
Kaum bin ich in der hellen Halle, sieht es ganz anders aus. Links wuseln zwei Damen im Garderobenbereich, rechts in der Küche wirbelt Jin mit drei Hilfsköchen, gradeaus im Saal stehen Yoongi und ein Schrank von Securitymann und instruieren fünfzehn weitere Securitys, wann sie auf was und wen zu achten haben, wer was darf oder auch nicht, wie sie mit Presse und Schaulustigen umzugehen haben, wo und wie viel Pause sie machen können, und, und, und, ... Anschließend brechen sie auf zu einer Haus- und Geländeführung. Ich lege derweil Harrys Bildermappe und meine Rede zum Rednerpult.
Ich laufe in den zweiten Stock und finde Namjoon hinter seinem Schreibtisch. Er bestückt einige edle Ledermappen mit diversen Papieren und pfeift dabei vor sich hin.
"Guten Morgen, Schatz! Du bist schon wieder fleißig."
Mit einem breiten Lächeln steht er auf, kommt zu mir und nimmt mich in die Arme.
"Wie schön, dass wir einen Moment für uns haben, Liebes. Aufgeregt? Kann ich dir etwas anbieten?"
"Es verblüfft mich immer noch, WIE flüssig dir die ausgesuchtesten Höflichkeiten von der Hand und über die Lippen kommen. Es ... es wirkt überhaupt nicht gekünstelt. Du bist einfach so. Danke, im Moment bin ich wunschlos glücklich.
Und - ja, natürlich bin ich aufgeregt. Heute werden zweiunddreißig Menschen, Familien und Firmen Gründungsmitglieder der Stiftung, die wir ins Leben rufen. Heute erfülle ich Harrys letzten Willen. Heute reduziert sich offiziell mein Vermögen auf ein Viertel, heute bin ich genau deshalb die glücklichste Frau der Welt, heute ..."
"... redest du ziemlich viel Unsinn. Kuss?"
Grübchenalarm!
Sein verschmitztes Grinsen ist unwiderstehlich. So richtig ausgiebig wird das Vergnügen aber nicht, denn Namjoons Handy wandert brummend über die ausgebreiteten Mappen auf seinem Schreibtisch. Schnell geht er ran.
"Kim. ... Lass dir nicht die Butter vom Brot nehmen. Die Positionen der Kameras sind genau abgesprochen und korrekt markiert. ... Soll ich runterkommen? ... Okay. Sag Bescheid, falls du mich doch brauchst."
Joon seufzt.
"Und das wird jetzt den ganzen Tag so weiter gehen. Lass uns die Mappen fertig bestücken und runtergehen."
Zügig sortieren wir die restlichen Papiere ein, trennen die Unterlagen für Mitglieder von den Unterlagen für Juristen, Amtsgericht und Co. und machen uns mit den beiden Stapeln auf den Armen auf den Weg nach unten.
Unten steppt der Bär. In der Küche wirbeln inzwischen sechs Leute. Im Saal führt Yoongi das Zepter, ab und zu sieht man an den Grenzen des Grundstücks einen der sechs Sicherheitsleute patrouillieren, die dort stationiert sind. Auf der Straße ist inzwischen eine Schleuse aus Absperrungen entstanden. Und vor dem Haus tobt eine Schlacht von zwei Fernsehteams, die sich wie die Geier ums Aas um die vier vorgegebenen Kameraplätze zanken. Kilometerweise Kabel liegen durcheinander, beide Funkwagen stehen total im Weg - und in einer dreiviertel Stunde werden die schicken Wagen anrollen. Mittendrin versucht Hoseok, die zwei Oberstreithähne auseinander zu halten. Grade zückt er sein Handy, da fällt sein Blick auf Namjoon, und er steckt das Gerät wieder weg.
Joon verliert keine Zeit.
"So, meine Herren. In Anbetracht der Uhrzeit habe ich nur eine Frage: sind Sie in der Lage, in einem Satz das entscheidende Problem darzustellen und mir zu beweisen, dass das irgendeine Relevanz hat?"
Die beiden Männer verstummen und starren ihn verdattert an. Sie haben offensichtlich ihren Meister gefunden.
"Nicht? Das dachte ich mir. Dann seien Sie so gut und nehmen Sie die Plätze ein, die Ihnen zugewiesen wurden. Ich erwarte, dass hier in einer halben Stunde kein Kabel mehr liegt, kein Auto mehr steht und kein Mensch mehr keift. Ansonsten werden Ihre Sender nie wieder dieses Gelände betreten."
"Eine hal...!"
"... be Stunde und keine Sekunde länger. Sie hatten seit heute Morgen 6.00 Uhr Zeit zum Aufbauen. Was auch immer Sie seitdem getrieben haben - das ist nicht mein Problem. Diese Veranstaltung wird im exakten Timing und ungestört über die Bühne gehen, egal, ob Ihre Geräte bis dahin irgendwas tun oder nicht.
Und vergessen Sie nicht die Vertragsbedingungen. Sie dürfen filmen, und Sie haben drinnen in der Bibliothek jeder einen Interview-Spot. Wenn irgendwo anders irgendjemand ein Mikrofon unter die Nase gehalten wird, sind Sie schneller draußen, als Sie 'Piep' sagen können. Los jetzt!"
Wie gemaßregelte Kinder spritzen die Männer auseinander, brüllen Befehle, raffen Kabel und stellen in Rekordzeit je zwei funktionstaugliche Kameras für unterschiedliche Blickwinkel mit allem nötigen Schnickschnack auf. Taehyung und Jeongguk tauchen auf und sorgen dafür, dass dabei keine Deko entfernt wird, dass die Kabel hinter Büschen oder Schneehaufen verschwinden, dass die Auffahrt und der Rondellplatz am Ende tatsächlich noch schön, sprich fotogen aussehen.
Hoseok atmet einmal tief durch.
"Danke, Joon. Sinnvolle Argumente haben nicht geholfen, und ich bin einfach nicht der Typ 'Basta!'."
Namjoon lächelt gequält.
"Mir wärs ohne auch lieber gewesen. Aber wir müssen sehr gut mit unseren eigenen Kräften haushalten. Solcher Pipifax fällt nicht in diese Kategorie."
Einen Moment lang denkt er nach und holt dann eine Liste aus seinem Jacket.
"So. Wo hab ich die Anwesenheitsliste? Hier! Lass uns in den Saal gehen."
Wir wenden uns nach drinnen, wo Hoseok zur Bibliothek abbiegt. Wir betreten den sehr funktional eingerichteten Saal. Am einen Ende ist eine flache Bühne mit Rednerpult, Beamer, großer Leinwand und einer schlichten Staffelei, auf der das Portrait von Harry steht. Vor der Bühne steht ein großes Konferenztisch-Hufeisen für die Offiziellen. Auf Höhe der Saaltüren stehen Stühle in Reihen für die Gründungsmitglieder und dahinter für weitere Gäste. Und am anderen Ende der Zimmerflucht stehen das Buffet und einige kleine Tische für den Festschmaus.
Ich lasse meinen Blick langsam durch den großen Raum gleiten. Nicht zu übertriebenes Barock, große Spiegel, weite Blicke in den verschneiten Park.
Herzklopfen, Vorfreude, Zufriedenheit - ich bin angekommen. Ob Harry das vorhergesehen hat? Oder hat ihm etwas ganz anderes vorgeschwebt? Egal, was - das alte Haus lebt wieder, mein Herz schlägt freier, Menschen schöpfen Hoffnung. Ich habe mein Bestes gegeben, und das ist genug.
Namjoon studiert weiter seine Liste.
"Also. Bisher keine Absagen für heute. Anwesend sein werden
dein Anwalt,
der Anwalt der Stiftung,
der Notar,
deine Hauptbank,
die Bank der Stiftung,
du natürlich,
ich,
jemand vom Amtsgericht, damit es sofort losgehen kann.
Fürs Organisatorische oder als Angestellte
unsere beiden Bürodamen,
die Garderobenmädels,
fünf oder sechs Jungs, Jimin entscheidet spontan,
unsere Sozialpädagogen.
Als weitere Gründungsmitglieder
So-Ra mit Eltern,
der Mann von der Bank,
Jimins Chef,
die Lee's."
"Echt? Wie cool!"
Ich freue mich riesig. Namjoon lächelt.
"Sie hat es so begründet: 'Wir waren von der ersten Stunde an mit dabei, wir haben nicht nur Fachwissen sondern auch Herzblut investiert, und wir sind sehr überzeugt von der Bedeutung dieser Stiftung. Warum also nicht?'
Außerdem sind da noch einige weitere, die Mitgliedsanträge gestellt haben, alles finanziell schwere Jungs und Mädels.
Dazu kommen ausgesuchte Gäste wie
ein Vertreter von Hyundai,
ein Vertreter vom Sozialdezernat von gesamt Seoul,
Hobis Tante,
Taes Familie,
Yoongis Familie,
mein Bruder,
Guks Bruder,
Hobis Partner,
Guks Chef,
Abgesandte von drei großen Wohltätigkeitsorganisationen,
ein paar geprüfte Pressevertreter,
und, und, und ...
Du siehst - die Hütte wird voll."
"Lass uns einen letzten Rundgang machen, bevor es richtig losgeht."
Wir besuchen Jin in der Küche und loben die herrlichen Gerüche, werfen einen Blick in die noch ruhige Bibliothek zu den Interview-Spots, statten der Garderobe einen Besuch ab, lassen uns unsere Mäntel geben und bedanken uns bei den Damen schon mal für ihren Einsatz heute.
Dann gehen wir in die Eingangshalle. Mein Auto ist längst verschwunden, nichts erinnert mehr an Chaos und Streit von eben. An der Straßensperre fahren die ersten drei Wagen vor, die Fahrer weisen sich aus und werden hineingelassen. Langsam rollen sie zum großen Tor und die Auffahrt entlang, halten nacheinander vor der Freitreppe, spucken ihre Fahrgäste aus und werden weggefahren.
Wir beide stehen oben an der Treppe, begrüßen die Gäste, werden mit ihnen fotografiert und übergeben sie an Hoseok, der sie ins Haus geleitet. Eine halbe Stunde lang währt dieser Reigen, bis schließlich alle Offiziellen und Gäste da sind.
Kurz sehen wir uns an.
"Jetzt gehts los. Wie dankbar ich bin, dass du an meiner Seite bist."
Namjoon antwortet nicht, drückt nur kurz meine Hand, aber er strahlt.
Wir begeben uns in den Saal, wo sofort das Gesumm verstummt. Hoseok, Taehyung und Jeongguk weisen den Gästen ihren Platz an. Am Tisch breiten die Offiziellen konzentriert ihre Unterlagen aus. Namjoon tritt ans Rednerpult und wartet ab, bis sich die Unruhe gelegt hat.
Er begrüßt alle Anwesenden, stellt einige vor, gibt einen Überblick, was in den nächsten zwei Stunden hier passieren wird, und lässt dann den Notar ran.
Der spult unter den wachsamen Augen des Amtsrichters das juristisch vorgesehene Procedere für eine Stiftungsgründung ab. Wir stimmen ab, unterschreiben Papiere, wählen geheim, zählen aus, bestätigen Gewählte, zwischendurch werden ellenlange Passagen aus den Vertragswerken vorgelesen.
Die Satzung wird verabschiedet, die Geschäftsordnung ergänzt, Mitgliedsanträge werden bestätigt, Unterschriften beglaubigt, Mitgliedsnummern vergeben, Einzugsermächtigungen entgegengenommen, überdimensionale Spendenschecks werden von den Fernsehteams für die Nachwelt festgehalten, viele dankbare Bücklinge und geklopfte Schultern unterstreichen die Bedeutung des Tages.
An mir rauscht das alles vorbei wie ein Film, als stünde ich in einer Parallelwelt vor einem Fenster und schaute von außen zu. Ich werde Mitglied. Ich werde in den Vorstand gewählt, ich bestätige für alle Angestellten die nun von der Stiftung getragenen Arbeitsverträge. Namjoon unterschreibt mit mir den Mietvertrag für Villa und Gelände, ohne den Streifen der Pförtnerei und den alten Spielplatz natürlich. Ich spende für fünf Jahre die Mietkosten der Stiftung.
Strom, Gas, Wasser, Warmwasser, Abwasser, Heizung, Straßenreinigung, Telefon und alle anderen Versorgungsverträge gehen offiziell von mir auf die Stiftung über. Berge von Papier rascheln an mir vorbei. Das Ganze ist unbeschreiblich zäh, trocken - und rechtlich notwendig.
Dann ist es endlich vorbei. Es gibt eine Pause mit Häppchen, Jin hat sich selbst übertroffen. Wir stoßen mit Sekt an. Umarmungen, Gratulationen, Applaus, lächeln, lächeln, lächeln. Namjoon tritt hinter mir zurück, lässt mich scheinen, gibt mir die Ehre. Mir ist schwindelig.
Himmel, so mühsam habe ich mir das nicht vorgestellt. Und irgendwann gleich muss ich mich sammeln und selbst noch in die Bütt.
Ich bin fix und foxi und wende meinen Blick hilfesuchend zu Namjoon. Aber So-Ra schaltet noch schneller. Plötzlich steht sie vor mir, schüttelt den Kopf, legt mir den Arm um die Schultern und führt mich an allen anderen vorbei zum Aufzug.
Wir fahren nach oben, sie drückt mich in Namjoons Büro auf den nächsten Stuhl, hält mir ein Glas Wasser hin und hält einfach die Klappe. Sie füllt mein Glas nach und hält die Klappe. Nach dem dritten Glas schaut sie mich warm an.
"Gehts wieder?"
Ich schüttele meine Trägheit ab und grinse.
"Mein Gott, ist DAS langweilig. Es ist schön, ich bin stolz, alles klappt, jeder ist glücklich. Und ich bin zu Tode gelangweilt. Ich konnte am Schluss einfach nichts mehr aufnehmen, keine Gesichter mehr unterscheiden, meinen Namen nicht mehr schreiben."
"Ich habs gemerkt. Aber bald ist es geschafft. Du darfst jetzt noch eine Rede schwingen, die Medien toben sich grade schon unten aus, für einige Fotos wirst du noch herhalten müssen. Dann ist es vorbei."
"Okay. Lass uns runtergehen, damit mein Fehlen nicht komisch wirkt."
Ich gehe noch schnell auf Toilette, dann steigen wir gemächlich und plaudernd die Treppen runter.
Entschleunigen, atmen nicht vergessen, genießen.
Am Fuße der Treppe kommt mir Namjoon entgegen.
"Alles in Ordnung?"
Ich kann wieder lächeln.
"Ja klar. Ich brauchte nur eine Sekunde Ruhe. Weißt du, was ich jetzt gern machen würde?"
"Interviews geben?"
"Nö. Wenn wir schon hier stehen - ich hätte so gerne Fotos mit euch sieben. Denn ihr ward der Anfang von allem."
Namjoon lächelt.
"Verstehe. Gute Idee. Aber warum nicht nachher?"
"Weil ... Weil."
"Aha. Na dann ... Könntest du erst noch die Interviews hinter dich bringen, und wir trommeln währenddessen alle zusammen? Dann bauen wir uns anschließend hier auf der Treppe auf und läuten mit einem Fotoshooting den zweiten Teil ein."
"Gebongt."
Ich habe zurück in meine Ruhe gefunden und kann wieder ehrlich lächeln. Entsprechend bringe ich auch die Interviews schnell hinter mich. Alle wissen, dass ich noch eine Rede halten werde, also gehen die Fragen auch nicht zu sehr in die Tiefe.
In der großen Eingangshalle hat sich inzwischen einiges getan. Die Halle und die Treppe bis zum ersten Absatz sind professionell ausgeleuchtet, dort steht nun auch die Staffelei mit Harrys Bild. Erst werde nur ich geknipst, dann mit den ganzen Anwälten und Banken. Als nächstes mit allen offiziellen, angestellten Mitarbeitern. Mit Namjoon alleine, mit den Hauptsponsoren und ihren großen Schecks, mit allen Gründungsmitgliedern, die sich auf die Treppenstufen sortieren. Die Kameras senken sich schon, die meisten scheinen zufrieden zu sein. Da bitte ich alle Anwesenden, ein wenig zurückzutreten und vor der Treppe Platz zu schaffen.
Nacheinander nicke ich Jin zu, dann Hoseok. Jeongguk kommt von allein, ich sehe Yoongi an. Taehyung folgt ihm die Stufen hoch. Mit einem Lächeln lade ich Namjoon ein. Und zu meinem großen Erstaunen huscht dann auch Jimin vom Portal her zu uns hoch.
Wie schön, dass er sich traut!
Sofort schalten einige, und wildes Blitzlichtgewitter bricht aus. Vielen ist klar, dass da jetzt auch die beiden bisher verborgenen jungen Männer dabei sind. Schlagartig begreife ich, dass wir DIESES Bild vielleicht doch besser hinterher alleine hätten machen sollen. Aber dafür ist es jetzt zu spät.
Ich bitte alle Anwesenden zurück in den Saal und auf ihre Plätze. Das Hufeisen aus Tischen wurde in der Zwischenzeit zu Tischinseln umgebaut, die Reihen etwas aufgelockert. Alle setzen sich, Namjoon geht ans Pult, das Gemurmel erstirbt. Ich schaue mich schnell um. Guk ist ganz im Hintergrund, Jimin wie vom Erdboden verschluckt.
Besser so.
Aber jetzt zieht Namjoon die Aufmerksamkeit auf sich.
"Sehr verehrte Damen und Herren! ...
Was für ein Fest! So viel Aufbruchsstimmung. So viel Hoffnung. So viele Pläne. So eine herausfordernde Vision für die Zukunft unserer Stadt. So ein bewegender Moment. Getragen von so vielen Schultern.
Mein, unser Dank gilt heute all jenen brillianten Fachleuten, die nun über Monate hinweg geduldig die Sanierung der Villa, das Entwickeln der Ziele und den Prozess der Gründung begleitet haben. Geld ist nicht alles. Ohne Sie wären wir heute nicht hier. Wir stehen tief in Ihrer aller Schuld. ...
Ich kann es noch gar nicht ganz erfassen. Ich spreche hier nun zum ersten Mal ganz offiziell als Geschäftsführer im Namen der Stiftung 'Netzwerk der Hoffnung e.V.' zu Ihnen. Noch nie in meinem Leben hat sich etwas so richtig angefühlt. Noch nie in meinem Leben habe ich so aufrecht gestanden und reinen Gewissens sagen können: das ist wichtig und gut - ich will ein Teil davon sein. Noch nie habe ich so offen gelebt, noch nie wurde mir so viel Vertrauen entgegengebracht. Und sicher noch nie wurde einem Ex-Knacki, der immer noch nur auf Bewährung auf freiem Fuß ist, so viel Verantwortung übertragen. Das macht mich sprachlos und demütig.
Hier sitzen Menschen im Saal, die mir, die uns ungeheure Werte anvertrauen. Und wofür? NICHT für Profit und einen guten Platz an der Börse, NICHT für Effizienz und Wettbewerb, NICHT fürs Prestige. Wir wollen da sein für die Unsichtbaren, die Ungewollten, die Unbequemen, die Ungeschützten, die Ungeliebten. Wir wollen investieren nicht in gewinnbringend verkäufliche Dinge sondern in Menschen. Nicht in Bilanzen sondern in Seelen. Nicht in Siege sondern in Würde für die, denen niemand mehr Würde zugesteht.
Ich empfinde unaussprechliche Hochachtung und Dankbarkeit für jede und jeden hier, für alle, die ihren guten Namen, ihre Ehre, ihre Glaubwürdigkeit und ihr hart erarbeitetes Kapital in die Waagschale legen, damit diese vernachlässigten 'Un-Menschen' endlich Menschen mit einer Chance auf ein erfülltes Leben sein können.
Ich verspreche Ihnen heute öffentlich, dass ich all mein Wissen und Können, all mein Sehnen und Hoffen in den Dienst dieser Aufgabe stellen will. Ich will offen, ehrlich und vertrauenswürdig dieses Netzwerk wachsen lassen und diese Hoffnung hinaus in diese Stadt tragen. Ich bin ein Mensch und also bestimmt nicht unfehlbar. Aber mit Ihnen an der Seite wird mir das sicher zum Wohle aller gelingen."
Ich habe es nicht kommen sehen. Ich wusste nicht, dass auch Namjoon länger reden, und dass er sich dabei so schutzlos präsentieren würde bei laufender Kamera. Denn jedes seiner Worte hat vor dem Hintergrund seiner persönlichen Geschichte ein großes, besonderes Gewicht. Aber ich nehme ihm wirklich jedes Wort ab. Mir jagt eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken, während er spricht. Seine Haltung, seine Stimme, sein offener Blick sind so glaubwürdig! Ich bin unglaublich stolz auf diesen wunderbaren Mann an meiner Seite.
Nachdem der verdiente Applaus abgeebbt ist, sieht Namjoon noch einmal durch die Reihen und sagt ein letztes Wort.
"Danke!"
Dann tritt er ab, setzt sich neben mich und strahlt von innen heraus. Kurz greift er meine Hand, deutet aufs Rednerpult und lächelt.
Na, dann bin ja wohl ich dran.
........................
4.1.2024 - 28.3.2024
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