77 - Sarang Namja
Ich habe gut und tief geschlafen. Aber ich fühle, dass mein Kopfkissen klamm ist. Namjoon sagt, ich hätte die ganze Nacht geweint. Und dass mir auch jetzt Wasser aus den Augen läuft. Mein lieber, besorgter Freund streicht mir eine wirre Haarsträhne hinters Ohr und schaut mich weich an.
"Guten Morgen, Liebes! Wenn ich nur wüsste, was los ist! Du hörst ja gar nicht mehr auf zu weinen."
"Mach dir keine Sorgen, Schatz. Ich habe gut geschlafen. Da will einfach was raus. Es fühlt sich richtig an, also lasse ich es laufen. Hab ich dich damit wachgehalten?"
Joon nickt erschöpft.
"Ich mach mir aber Sorgen. Das ist doch keine natürliche Reaktion auf so einen Befreiungsschlag. ... Oder? Ich mein' ... Soll ich dich zu dem Arzt fahren? Oder zu Jins Therapeuten? So kann ich dich doch heute gar nicht allein lassen!"
"Doch, kannst du. ... Stop! Keine Widerrede! Du fährst zur Arbeit, ich bleibe hier und versuche, einen von den beiden telefonisch zu erreichen. Ich werde viel trinken, Tagebuch schreiben und die Plätzchentüten packen."
"Aber nur, wenn du mir ganz fest versprichst, dass du mich herrufst, wenn du mich brauchst!"
"Du wundervoller Freund! Das verspreche ich gerne. Aber ich fühle mich gut. Es ist fast ... als ob eine Quelle in mir sprudelt. Es ist okay."
Namjoon sieht noch immer zweifelnd aus.
"Dann ... geh ich mal ins Bad und schmeiß Yoongi vom Sofa."
Er greift sich Kleidung und geht nach nebenan. Durch die offene Tür höre ich Yoongis fröhlichen Morgengruß.
"Hallo Schlafmütze. Bad ist frei. Ich mach Frühstück."
Mein schadenfrohes Gelächter verfolgt Joon bis ins Bad. Und beim Lachen laufen weiter die Tränen.
Beim Frühstück schaut mich dann auch Yoongi irritiert an.
"Bist du in Ordnung, Nelli? Du weinst die ganze Zeit. Joon - was hast du angestellt?"
Wie aus einem Mund, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, antworten wir:"Nichts!"
"Okaaayyyyy?"
Schnell versuche ich zu erklären.
"Du kennst doch meinen vollen Namen - Cho Cornelia Sarang Namja. Ich habe mich aber immer nur Cornelia oder Nelli nennen lassen, weil ich den koreanischen Namen nicht mochte. Zu lang, zu umständlich, zu komisch.
Gestern Abend habe ich Namjoon ein paar der Bilder gezeigt, die ich schon in Berlin angesehen hatte. Er hat ganz andere Fragen gestellt als So-Ra. Oder ich selbst. Und plötzlich habe ich gesagt:'Heute weiß ich, was ich will. Ich will Sarang Namja sein.'
Seitdem geht es mir wunderbar, ich habe herrlich geschlafen, ich fühle mich leicht und klar und glücklich. Nur läuft mir seit dem Augenblick dauernd Wasser aus den Augen."
Yoongi hat aufmerksam zugehört. Jetzt lächelt er.
"Dann mach dir keine Sorgen. Sieh es wie dieses Bild: da ist ein Staudamm gebrochen. Da will was raus, und das ist gut so."
"Ich mach mir ja keine Sorgen. Aber Namjoon ... er hat wohl die ganze Nacht nicht geschlafen vor lauter Sorge."
"Ach, deshalb hängst du auf deinem Stuhl wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Also - noch mal extra für dich: mach dir keine Sorgen, mein Freund. Nelli geht es prächtig. Sie hat einen großartigen Schritt nach vorne getan, sie hat diese lange schwere Zeit mit ganz viel innerer Kraft durchgestanden und einen Weg in die Freiheit und Freude gefunden. Und dich dazu. Viel besser kanns für euch beide nicht mehr werden."
"Aber warum weint sie dann die ganze Zeit?"
"Wenn sie ihren Namen immer abgelehnt hat, dann hat sie ihn im Grunde so in sich vergraben wie das Auto im Sandkasten. Das will jetzt alles raus. Aber es ist nicht schlimm. Es ist gut, weil es Heilung mit sich bringt."
Namjon greift nach meiner Hand.
"Hoffentlich hört das bald wieder auf. Du sollst doch bei der Gründung lachen und strahlen - und nicht weinen."
"Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, dass ich an dem Tag auch ohne dieses Ahaerlebnis geweint hätte. Es gehört dazu. Ich darf glücklich sein, dass es nun los geht, und gleichzeitig traurig, dass Harry nicht dabei sein kann. ...
Wobei mir da was auffällt: morgen bei der Pressekonferenz sollte ich vielleicht nicht heulen."
Yoongi winkt ab.
"Deine Seele weiß inzwischen so gut für sich zu sorgen. Ich würde mich nicht wundern, wenn du in genau den zwei Stunden nicht weinst. Weil es da um was anderes geht."
"Meinst du?"
"Warum nicht?"
Namjoon seufzt.
"So richtig beruhigt bin ich nicht, aber ihr habt mich überstimmt. Oder so. Dann lass uns auf den Berg fahren."
Kurz darauf sind die beiden auf dem Weg zur Arbeit, die obligatorischen Limousinen hinterher, ich räume das Frühstück weg - und lande an meiner Balkontür. Mein Quadratmeter "Geborgenheit" ist mit ein paar lustigen Schneewirbeln verziert, die paar Blumentöpfe sind abgedeckt, die kahlen Baumwipfel gegenüber träumen vom Frühling.
Kann ich mich von all dem trennen? Ich denke schon. Warum nicht? Die Zeiten, in denen ich alles Schmerzhafte verdrängt, versteckt oder vergessen habe, dürfen ein Ende haben. Ich darf meinen Bergfried verlassen, mit offenen Augen und weitem Herzen loslaufen und ein neues Lebensgefühl entdecken.
Entschlossen wende ich mich meinem Schreibtisch zu und kritzele eine schnelle Liste, was ich jetzt alles erledigen will. Die eben versprochenen Telefonate schiebe ich gleich weg - Yoongi hat mir eben die Antwort geliefert. Dann greife ich mir mein aktuelles Notizbuch und schreibe alles Erlebte und Erkannte seit Sonntag Mittag auf. Ich habe noch nie mit so viel Freude, Herzklopfen und Zufriedenheit meinen koreanischen Namen geschrieben. Sogar dieses simple Aufschreiben macht mich glücklich. Daneben laufen immer wieder Tränen und tropfen aufs Papier.
Als nächstes suche ich im Internet nach Glassternen und finde fertige, sternförmige kleine Anhänger. Davon bestelle ich einen ganzen Haufen.
Wer auch immer die so schnell basteln muss. Hauptsache, ich hab sie für die Feste parat.
Hm. Ist eigentlich die Tombola für die Gala schon ausreichend bestückt?
Ich beginne neue Listen, was ich die Jungs heute Abend alles fragen muss, damit ich allmählich wieder reinfinde. Ich war in den letzten Wochen so viel weg oder zumindest ziemlich weggetreten, dass ich jetzt richtig Nachholbedarf habe.
Namjoon wollte mir doch ...
Ich stöbere in den verschiedenen Papierstapeln auf meinem Schreibtisch, auf der Suche nach Unterlagen zu den beiden Festen. Stattdessen fällt mir aber etwas anderes in die Finger, das mich sofort ablenkt.
Das Portfolio zu den 'drei kleinen Häuschen'. Okay - Themenwechsel. Das hat Namjoon aber echt schnell organisiert. War das nicht erst Donnerstag?
Mit der reich bebilderten Akte, meiner Teetasse und einer Kuscheldecke verziehe ich mich aufs Sofa und fange an zu blättern. Zu meiner großen Freude gibt es gleich am Anfang einen kurzen Abriss über die Geschichte dieses versteckten Winkels. Neugierig vertiefe ich mich in die Seiten. Ab und zu tropfen Tränen herab.
Der Bergrücken war völlig mit Wald bewachsen, bis - noch zu Zeiten der Diktatur - eine Gruppe Aussteiger in diesem Wald aus Ruinen dieses traditionelle Dorf wieder aufbaute. Hier lebten sie weitgehend auf sich gestellt als Selbstversorger, benahmen sich dabei unauffällig und regelkonform und wurden darum in Ruhe gelassen. Die ausnahmslos mit Mauern gesicherten Anwesen zeugen jedoch davon, dass ihre Erbauer durchaus realistisch mit Spitzeln und anderen Bedrohungen gerechnet haben.
Die Aussteiger haben die alte Struktur mit einer Art Dorfmitte wiederbelebt, von der ein paar Straßen und Gassen abgehen. Daran liegen die Grundstücke, auf denen traditionelle Kleinbauernanlagen aneinandergereiht wurden. Stabile Mauern drumrum, Holzwohnhäuser, Am anderen Ende ein Stall für Kleinvieh, ein Schuppen. Dazwischen Gemüsebeete zur Versorgung. Das alles wurde dem hügeligen Gelände angepasst. Auf einer historischen Karte, die mit kopiert wurde, sieht man, dass auf Terrassenfeldern zwischen diesen Anwesen Reis angebaut und größeres Vieh gehalten wurde. Sehr beeindruckend ist eine Luftaufnahme, auf der man diese alten Strukturen noch erkennen kann, obwohl das Gelände inzwischen teilweise anders genutzt wird. Jedenfalls haben die Aussteiger ihr kleines Paradies so geliebt, dass sie damals einvernehmlich festgesetzt haben, dass es zwischen den Grundstücken keine weitere Wohnverdichtung und keine Gewerdeansiedlung geben darf. Dies garantiert allen, dass der dörfliche Charakter auch nach Besitzerwechseln erhalten bleiben wird.
Unsere drei kleinen Häuser ...
Jetzt sage ich schon 'unsere' !
Unsere drei Häuser waren ursprünglich drei einzelne Gehöfte. Zwei davon sind seit etwa fünfundzwanzig Jahren miteinander verbunden. Das war möglich, weil die beiden Häuser Rücken an Rücken an die Begrenzungsmauer gebaut worden waren. Diese Häuser sind im Innern zu einem verschmolzen, und die Mauer ist entlang der beiden Gärten weitgehend durchbrochen oder abgetragen worden. Zum dritten Gelände hin gibt es immerhin ein Tor in der Zwischenmauer.
Mit wachsendem Erstaunen und kribbeliger Vorfreude verschlinge ich diese Informationen wie einen spannenden Krimi. Ich muss aufpassen, dass nicht dauernd meine Tränen aufs Papier fallen.
Das klingt alles zu schön, um wahr zu sein! Was für eine Perle in der Anonymität der Großstadt. Und warum trennt man sich von so einem Paradies?
Auf der nächsten Seite wird auch diese Frage beantwortet. Eine Erbengemeinschaft aus sieben Parteien mit unterschiedlich großen Anteilen konnte sich nicht auf eine sinnvolle Verteilung einigen. Darum hat ein Gericht entschieden, dass das gesamte Ensemble verkauft werden soll, damit alle ausgezahlt werden können.
Na dann - danke, dass ihr euch streitet. Mein Glück. ... Unser Glück!
Es folgen die Grundrisse aller Gebäude. Sofort wird deutlich, dass es aufgrund der alten Holzbauweise innerhalb der stabilen Außenwände praktisch keine tragenden Bauteile gibt. Darum sind alle Abtrennungen im Innern variabel. Alle Räume können beliebig vergrößert, verkleinert oder verschoben werden - bis auf Küchen und Bäder, die schon vor ein paar Jahren gründlich modernisiert wurden.
Ui! Dann dürfte das gesamte Gebäude - bis auf die ursprünglich trennende Grundstücksmauer - auch ziemlich hellhörig sein. Schalldichte Räume: Fehlanzeige. Laute Nachbarn: Pech gehabt. Das wird spannend.
Ich studiere die Erläuterungen, verinnerliche die Grundrisse, betrachte die vielen Fotos und bekomme nichts Qanderes um mich herum mit. Ganz am Ende des Portfolios gibt es noch eine Anmerkung über die derzeitige Nachbarschaft. Es gibt noch wenige, ganz alte Erstbesitzer, einige Erben und ein paar Zugezogene. Trotz der hohen Mauern und Tore gibt es regen Austausch, nachbarschaftliche Hilfe, gemeinsame Feste und das einende Ziel, dass dieses kleine Dorf inmitten der großen Stadt seinen heimeligen Charakter behalten soll. Darum haben auch alle Anwohner bei Neuzugängen ein Mitspracherecht. Die Neuen müssen reinpassen.
Oh! Eine völlig unerwartete Hürde. Hoffentlich fallen wir in die Kategorie 'passend'! Wer weiß?
Am Dorfplatz gibt es eine Kneipe, eine Bäckerei mit Cafe, einen Tante Emma Laden und einen Gemeinschaftsraum, der auch von verschiedenen Religionsgemeinschaften genutzt wird. Es gibt kaum Autos, dafür inzwischen eine größere unterirdische Garage am östlichen Rand des Dorfes. Es führt nur eine Straße von Ost nach Supermarkt und die Denkmalpflege hat rechtzeitig dafür gesorgt, dass das moderne Seoul dem Ensemble nicht zu nahe rückt. Es ist also hier auch sehr ruhig. Ein kleiner öffentlicher Bus fährt regelmäßig hindurch. Und auf dieser Straße muss Jimin uns neulich entlang gelotst haben.
Für einen scheuen Radfahrer ist das natürlich der optimale Weg.
Langsam lasse ich die Seiten der Akte zugleiten, schließe die Augen und träume mich in dieses neue Leben. Dabei sind Raumaufteilung und Möbelrücken gar nicht wichtig. Ich stelle mir vor, dass ich im Garten Unkraut zwischen dem Gemüse zupfe. Dass Namjoon im Anzug aus der Terrassentür tritt und mich mit einem Kuss begrüßt, dass er kurz verschwindet, in Freizeitkleidung wiederkommt und mitarbeitet. Dabei grüße ich ihn von So-Ra und erzähle von meinem halben Tag im Büro, dann berichtet er von seiner Fortbildung für Ehrenamtliche über Sponsoring und Fundraising, die er grade in der Villa abhält. Das Gefühl von Heimat und Geborgenheit hüllt mich sanft ein.
Hier ist mein neuer Balkon. In diesen Häuschen, in diesem Garten, mit diesem Menschen an meiner Seite. Durch den Halbtagsjob bei der Versicherung bin ich sozial abgesichert, in diesem Zuhause kann ich Kraft tanken, und mit dieser inneren Kraft kann ich - Sarang Namja - durch die Stiftung vielen Menschen zu neuer Lebensqualität verhelfen.
Meine Tränen laufen. Mein Magen knurrt. Mein Handy brummt. Es klingelt an der Tür. Ich zwinge mich zurück in die Gegenwart und fühle mich von der akustischen Überschwemmung meines schönen Traums leicht überfordert.
Eins nach dem anderen!
Die Tränen kann ich eh nicht stoppen. Mein Magen muss warten. Auf dem Handy ist eine normale Nachricht von Joon. Also gehe ich als erstes zur Tür und schaue durch die Beobachtungskamera, wer geklingelt hat.
Presse. Vergesst es!
Ich öffne nicht sondern lese stattdessen die Nachricht, dass Yoongi und Joon erst gegen 19.00 Uhr, dafür aber mit Pizza, zurück sein werden.
Okay. Dann also zuerst was essen, danach die Kekse auf die Zellophantütchen verteilen.
Ich schreibe zurück, dass sie vorsichtig sein sollen wegen der Paparazzi, und dass ich mich auf sie freue.
Aus dem Radio dudelt fröhlich-belangloser KPop. Auf der Arbeitsfläche der Küche stelle ich ganz viele kleine Tüten auf. Oder so ... - denn in leerem Zustand kippen die ganz schnell wieder um, schließen sich von allein und feiern fröhlich den Dominoeffekt. Beim zweiten Versuch stecke ich in jede Tüte schon mal zwei Stück Spritzgebäck, und siehe da - sie bleiben stehen. Ab jetzt geht es ganz schnell. Sorte für Sorte stapeln sich bald die Plätzchen in den Tüten. Sobald sie voll sind, binde ich sie mit einer Paketschnur zu. Nur über ein Etikett habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Noch ein paar Reihen Tüten, einige Stapel Plätzchen, zubinden. Einige wenige Tüten kann ich in einem dritten Durchgang füllen, dann sind drei ♦Sorten aufgebraucht. Alle übrigen Kekse packe ich in Dosen und stelle sie beiseite. Zufrieden beobachte ich, wie der Schachtelberg immer kleiner wird und sich in Glitzerknistertüten verwandelt.
Ein Blick zur Uhr.
Ich sollte was essen. Mittag ist schon eine Weile her.
Mit einer schlichten Tütensuppe lasse ich mich in einen Sessel plumpsen. Während ich die heiße Suppe schlürfe, brummt wieder mein Handy. Diesmal schreibt mir Yoongi, dass er den völlig übermüdeten Namjoon - jeden Widerstand ignorierend - in der Pförtnerei für zwei Stunden ins Bett gesteckt hat. Ich muss schmunzeln.
Wie auch immer der relativ schmächtige Mann den langen Kerl da rüber bekommen hat. Recht hat er! Zu blöd, dass meine komischen Dauertränen Joon so Sorgen machen, dass er nicht schlafen kann.
Kurz überlege ich, wie ich für mich sinnvoll die nächsten Stunden füllen kann. Was kann ich denn jetzt anfangen mit diesem 'ich will Sarang Namja sein' und diesen Tränen?
Aber eigentlich ist die Antwort naheliegend. Ich schnappe mir Harrys Bildermappe. Er hat meinen koreanischen Namen so geliebt, hat ihn auch in seinem Abschiedsbrief an mich erwähnt.
Vielleicht hat er dazu auch gemalt?
Ich überfliege das Inhaltsverzeichnis.
Ach, kuck an! Sarang Namja. Oh - da nochmal. Wann war das?
Ich suche nach den Seiten und stelle fest, dass das zweite Bild nur wenige Tage nach dem 'Mädchen im Park' gemalt wurde.
Und das erste? Da war ich ... neun Jahre alt. Kein Zusammenhang zu einem der größeren Ereignisse vorher und nachher. Komisch. Jetzt bin ich aber neugierig!
Entschlossen ziehe ich beide Blätter aus dem Stapel und drehe sie um. Beide Situationen sagen mir überhaupt nichts, lösen nichts in mir aus. Das eine scheint irgendwie ein Engel zu sein.
Sie sind vollkommen unterschiedlich, und doch ist bei beiden Harrys Stil zu erkennen. Ich spüre, wie mir die Tränen schneller über die Wangen laufen.
Hm. Womit fange ich an? Am besten mit dem früheren Bild.
Keine Ahnung, wer das kleine Kind ist, aber ich hab mich offensichtlich mit dem beschäftigt. Oder hab ich mich nur für ein Foto so zur Seite gedreht? Aber dann hätte Harry das Kind vielleicht gar nicht gemalt. ... Ganz schön gefährlich für so einen kleinen Fratz ohne Schwimmflügel ...
Ich fange an zu lesen.
Liebe Jutta!
Heute hat unsere Sarang Namja etwas sehr erstaunliches, etwas sehr Reifes getan.
Es sind Ferien. Wir waren im Freibad. Unsere große Maus hat sehr lange im Wasser getobt, bis sie ganz blaue Lippen hatte. Trotzdem musste ich sie fast mit Gewalt da rausholen. Sie hat sich schnell umgezogen und in all unsere Handtücher gewickelt. Für solche Momente nehme ich immer warmen Saft mit, verrückt im Sommer, aber das vertreibt schnell die Kälte.
Während wir gegessen haben, haben wir uns das bunte Treiben um uns herum angeschaut. Plötzlich hat sie sich suchend umgesehen, sehr irritiert gewirkt und zum großen Becken gezeigt.
"Onkel Harry, das kleine Kind da ... das ist ganz alleine. Ich sehe keine Großen dabei. Wenn das ins Wasser fällt, ertrinkt das doch!"
Auch ich konnte niemand entdecken, der sich zuständig gefühlt hätte. Noch, bevor ich reagieren konnte, ist Sarang Namja aufgestanden und hat sich neben das Kleinkind an den Beckenrand gesetzt. Ziemlich bald kam es, wie es kommen musste. Dem Kleinen ist der Ball ins Wasser gefallen. Er hat sich vorgebeugt und wollte den Ball rausfischen. Sofort hat unser großartiges Mädchen ihn zurückgezogen und richtig hingesetzt. Dann hat sie den Ball aus dem Wasser geholt und mit dem Kleinen gespielt.
Ich war gleichzeitig stolz wie Oskar und entgeistert, dass immer noch kein Erwachsener sich gekümmert hat. Erst mehrere Minuten später kam eine junge Frau von den Toiletten her, sah die beiden und hat sofort losgekeift.
"Wie kommt mein Sohn ans Wasser? Bist du verrückt geworden? Er kann doch ertrinken! Was machst du da???"
Sarang Namja war erschrocken, denn immerhin hatte sie den Kleinen ja grade erst gerettet. Dann ist sie mit ziemlich viel Wut im Gesicht aufgestanden, hat sich so groß wie möglich gemacht und zurückgeschimpft.
"Was ich mache? Ihren Sohn vorm Ertrinken RETTEN, weil SIE nicht da waren. Der ist nämlich ganz alleine hier hergelaufen."
Ihre dunklen Augen haben böse gefunkelt vor Empörung. Die Frau hat ihr Kind an sich gerissen und schon wieder Luft geholt, da habe ich beschlossen einzuschreiten.
"Seien Sie doch bitte so gut und bedanken Sie sich bei meiner Nichte. Ihr Sohn ist tatsächlich unbeaufsichtigt am Wasser gewesen und hat seinen Ball hineinfallen lassen. Meine Sarang Namja hat ihn vom Beckenrand weggesetzt, ihm den Ball wieder rausgefischt und ihn beschäftigt, damit nicht doch noch ein Unglück geschieht. Ich denke, so viel Aufmerksamkeit und Fürsorge verdient keine so harten Worte."
Mit hochrotem Kopf und dem Kind auf dem Arm ist die Mutter davongerannt, hat ihre Sachen gepackt und das Gelände verlassen. Die Leute in der Umgebung waren inzwischen aufmerksam geworden und haben unser Mädchen sehr gelobt. Aber Deine wunderbare Tochter wollte das gar nicht hören. Sie ist zu mir gekommen, hat ihren Saft ausgetrunken und ihre Nase in einem Comic versenkt.
In solchen Momenten verstehe ich nicht, warum Cornelia ihren koreanischen Namen nicht mag. Er passt so sehr zu ihr! Wie oft schon hat sie einen Regenwurm aus einer Pfütze gerettet, ein weinendes Kind getröstet, einen Igel überwintert, die Hälfte von ihrem Eis an einen alten Mann verschenkt. Sie winkt einem ganzen Bus voller Leute zu, bringt einen Vogel mit gebrochenem Flügel zu einer Vogelwarte, verteidigt Kleinere auf dem Schulhof. Unablässig sucht ihr Herz nach dem Guten und tut es, ohne zu zögern. Aber sie kann das selbst gar nicht so sehen.
Denke ich da zu erwachsen? Oder ist das Onkelstolz? Sie ist kein Stück eingebildet dabei. Manchmal habe ich das Gefühl, sie merkt gar nicht, was sie grade tut. All das Gute, Freundliche kann und will nicht in ihr bleiben. Es ist ihr Wesen, Freude nach außen zu tragen und zu verschenken. Du kannst wirklich stolz auf Deine kleine Große sein!
Das Blatt sinkt mir aus den Händen, ich kann sowieso nichts mehr erkennen vor lauter Tränen. Aber ich fange an zu verstehen. Eigentlich ist nichts Besonderes daran. Jeder sollte so handeln. Uneigentlich spiegelt mein Verhalten im Gegensatz zu vielen anderen drumrum tatsächlich die Bedeutung meines Namens wider. Harry hatte recht - ich konnte gar nicht anders, als auf dieses Kind aufzupassen. Vage erinnere ich mich an diese keifende Frau. Bedankt hat sie sich nicht. Und ausgemacht hat mir das auch nichts. Hauptsache, dem Jungen ging es gut!
Versonnen blicke ich aus meiner Balkontür hinaus in die leise fallenden Schneeflocken.
Wann habe ich die Bedeutung dieses Namens verstanden? Wann und warum habe ich angefangen, ihn abzulehnen? Irgendwann konnte ich ihn ohne inneren Widerstand benutzen, wenn es korrekt und sinnvoll war. Aber er hatte dennoch nichts mit mir zu tun. Wollte ich nicht sein, was der Name über mich ausgesagt hat? Wenn das so war, habe ich mich aus irgendeinem bescheuerten Grund gegen mein eigenes Wesen gewendet und mich selbst unterdrückt.
Nun weine ich richtig. Mein ganzer Körper fühlt sich an wie eingequetscht in eine dunkle Kiste. Weggesperrt. Ich fange an, immer im Kreis ums Sofa zu laufen und sehr tief zu atmen, um das Engegefühl in meiner Lunge loszuwerden. Es dauert eine ganze Weile, bis ich dabei wieder in einen Rhythmus finde.
Was um Himmels Willen hat mich dazu gebracht, so sehr meine eigene Natur zu unterdrücken?
Mir schwirrt der Kopf. Ich beschließe, beim nächsten Bild nach einer Antwort zu suchen. Das ist drei Jahre später gemalt worden. Vielleicht find ich da was raus.
Leider komme ich nicht dazu, denn kaum sitze ich wieder auf dem Sofa und greife nach dem Bild, rappelt es an der Wohnungstür.
Namjoon und Yoongi. So spät schon?
Joon sieht mich tränenüberströmt da sitzen, lässt alles fallen und eilt mit großen Schritten zu mir.
"Mensch, Nelli, ich hab doch gesagt ... Entschuldige, Vorwürfe sind jetzt Blödsinn. - Was ist? Hat dich das Bild da so aufgewühlt? Lass mich bitte mitkucken, damit ich auf dich aufpassen kann."
Während er sich neben mich setzt und ich versuche, eine Stimme zu haben und zu antworten, höre ich ein Räuspern von der Tür. Yoongi ist in Ruhe angekommen und schüttelt in Namjoons Richtung den Kopf.
"Und ich hab dir gesagt, dass du dich wappnen und ruhig bleiben sollst, weil es sehr wahrscheinlich ist, dass sie immer noch weint. Es geht ihr gut, sonst hätte sie sich gemeldet. Die Jungs haben sich alle gefreut. Nur du drehst am Rad."
Namjoon macht einen kläglichen Versuch, sich zu rechtfertigen.
"Ich bin eben ..."
Aber Yoongi fällt ihm einfach ins Wort.
"... viel zu verliebt, um hier irgendwas objektiv betrachten zu können. Bitte - komm runter!"
Das gibt mir dann doch die Sprache wieder.
"Könntet ihr bitte beide runter kommen? Habt ihr schon was gegessen? Wie war euer Tag? Ist für morgen alles geregelt? Wenn das alles geklärt und erledigt ist, zeige ich euch gerne zwei Bilder."
Yoongis Grinsen wird immer breiter, während sich Joon verzweifelt die Haare rauft.
"Darf ich dabei sein, oder wollt ihr eure Ruhe haben?"
"Bleib bitte da. Du verstehst mehr davon und kannst ihr besser helfen."
Es ist zum Auswachsen!
"Ja, bleib gerne dabei. Er ist so aufgeregt, da wird er deinen Beistand brauchen."
Yoongi trollt sich unter hämischem Gekicher in die Küche, während Namjoon mit einem Aufstöhnen ins Schlafzimmer flüchtet. Es stellt sich heraus, dass sich die beiden an ihr Versprechen erinnert und Pizza mitgebracht haben. Eine halbe Stunde später sind wir alle feierabendgemütlich angezogen, satt und einigermaßen beruhigt.
"Also. Ich hatte doch gestern das Ahaerlebnis mit meinem Namen. Darum habe ich mir heute Nachmittag gedacht, ich will doch mal kucken, ob Harry zu dem Thema was gemalt hat. Ich habe zwei Bilder gefunden, die im Inhaltsverzeichnis direkt 'Sarang Namja' heißen. Die hab ich mir dann rausgesucht."
Ich zeige den Jungs das Freibadbild.
"Das erste ist das hier. Ich bin etwa neun Jahre alt. Zuerst konnte ich mich nicht an die Begebenheit erinnern. Aber Harry hat das alles erklärt."
Das Erlebnis ist schnell erzählt. Der Brief von Harry übersetzt.
"Da hab ich mich auf einmal gefragt, warum ich den Namen eigentlich nicht mochte. Seit wann. Mir ist klar geworden, dass ich mit dem Namen im Grunde einen Teil von mir selbst abgelehnt und unterdrückt habe. Und das tat echt weh."
Namjoon nimmt mich in den Arm und küsst meine Tränen weg.
"Wie gut, dass du diesen Teil von dir jetzt wieder zulassen kannst!"
Yoongi jedoch sieht irritiert aus.
"Wenn du da neun warst ... Irgendwie stimmt das Timing nicht. Du hast den Namen doch schon viel früher nicht gemocht. Ab wann? Ist da was passiert? Dass du hier mit neun Jahren trotzdem so gehandelt hast, zeigt, dass du gar nicht anders kannst. Und dass du hinterher das Lob nicht hören wolltest, passt wieder ins Bild. Aber insgesamt?"
Ich weiß keine Antwort. Yoongi überlegt. Er zeigt auf die Mappe.
"Darf ich?"
"Natürlich!"
Er setzt sich ein Stück weg und sieht Bild für Bild die gesamte Mappe durch. Vergleicht die Daten. Ordnet die beiden 'Sarang Namja'-Bilder wieder ein. Und stutzt.
"Nelli? Was ist das für ein Umschlag? Hast du da schon reingeschaut? Der steckt zwischen der Einschulung und ... hm. Und ... dem blauen Auto?"
Fragend sieht er mich an.
"Da steht Oh-Ryu drauf."
"Ach, der! Nö, hab ich noch nicht. So-Ra hat ihn mir in Berlin schon gezeigt. Aber irgendwie ... interessiert er mich nicht."
Einen Augenblick noch sieht Yoongi mich fragend an, dann sucht er die zwei 'Sarang Namja'-Bilder wieder raus und klappt die Mappe zu.
"Dann sollten wir den erst morgen unter die Lupe nehmen. Willst du das zweite Bild jetzt noch ansehen?"
Ich will grade antworten, da reißt Namjoon plötzlich mit lautem Gähnen seinen Mund ganz weit auf.
"Ich würde sagen, das hat auch bis morgen Zeit. Hier muss einer gaaanz dringend ins Bett, damit er morgen die nötige Geistesgegenwart für die Presse hat."
Da kommt mir eine Idee. Denn wenn Namjoon neben mir liegt, findet er wieder keinen Schlaf ...
"Yoongi, können wir Betten tauschen? Wenn ich diesmal auf dem Sofa penne, sind die Chancen größer, dass Joon wirklich schläft."
Namjoon passt das gar nicht, aber Yoongi versteht mich sofort.
"Nein!"
"Abgemacht. Das dürfte in der Tat helfen. Hör auf zu meckern, Joon. Wir wollen nur dein Bestes. Du musst morgen fit sein."
Mit diesen Worten zieht er Namjoon vom Sofa hoch und schiebt ihn zum Schlafzimmer. Schnell tauschen wir unser Bettzeug, und bald ist es still in der Wohnung.
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9.8.2023 - 27.3.2024
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