68 - Durchbruch
Müde und durchgefroren, aber sehr vergnügt und zufrieden trudeln wir wieder in der Wohnung in Charlottenburg ein. Die frische Luft, die vielen Eindrücke und die gute Stimmung in der Stadt haben echt gut getan.
Zu Hause angekommen setzen wir uns aber doch gleich wieder an die neuesten Hiobsbotschaften aus Seoul. So-Ra checkt die vielen Nachrichten von den Jungs, von ihren Eltern und Co. Ich dagegen habe einen Anruf von Namjoon auf meinem Festnetztelefon verpasst und habe schlagartig einen Knoten im Bauch.
Ob das was Schlimmes heißt?
Ich wähle sofort den Rückruf. Zum Glück drückt er mich heute nicht weg. In dem Moment, wo er rangeht, sagen wir gleichzeitig: "Hallo, Liebes. Wie geht es dir?" Und: "Hallo, Schatz. Wie geht es dir?" Anschließend sagen wir genauso synchron: "Du zuerst." Während ich vor Sehnsucht und Glück dahinschmelze und bittebittejetztsofort eine große Umarmung von Joon haben möchte, lacht der sich am anderen Ende kaputt. Ich schwanke hin und her zwischen mitlachen, Rachepläne schmieden oder losmeckern. Mitlachen macht aber definitiv am meisten Spaß.
"Joonie, ich möchte bitte erst einen aktuellen Stand aus Seoul und wissen, wie es dir mit dem ganzen geht. Dann kann ich daran im Kopf einen Haken machen. Die Stimmung hier ist sooo anders, das passt andersrum einfach nicht."
"Hast gewonnen, meine Liebe. Ich gehe auch lieber mit den guten Nachrichten ins Bett als mit der Hexenjagd hier."
"So schlimm?"
"Nein, keine Sorge, das war übertrieben. Wir haben nach der Sendung noch Backstage zu tun gehabt. Und wir hatten Kino. Der Moderator hat seiner Kollegin das Script um die Ohren gehauen und sie so richtig zusammengefaltet. Was sie da geboten hat, schadet nämlich nicht nur mir und damit der Stiftung sondern auch der Sendung und damit dem Sender. Auf dem Weg nach draußen habe ich dir die Nachricht aufgesprochen. Und als ich mich dem Ausgang genähert habe, brach draußen die Hölle los. Ich bin also zurück, dann hat Yoongi mich erreicht. Schlussendlich hat mich ein völlig unscheinbarer Kameramann in seinem Auto versteckt und zum Treffpunkt mit Yoongi gebracht. Der hatte das meiste von meinem und auch einiges von seinem Kram dabei und wohnt jetzt mit mir hier. Die Wohnung steht natürlich unter Beobachtung, aber der einzige, der fröhlich rein- und rausspaziert, ist er. Ich bin zum Missfallen der Paparazzi wie vom Erdboden verschluckt."
Ich atme etwas auf.
"Geht es dir damit gut?"
"Sagen wir mal so. Yoongi hat bereits jetzt erste Anzeichen von Hospitalismus bei mir entdeckt. Ich bin natürlich angespannt. Aber vor allem will ich eigentlich da raus und den Idioten eine Nase drehen.
Wir haben vorhin noch eine Pressekonferenz abgehalten, in der Villa, mit namentlich angemeldeten Journalisten und ohne Filmkameras, nur Fotos waren erlaubt. Diesmal war ich online mit dabei. Mein Bewährungshelfer war im Saal und ziemlich auf Zack. Und außerdem - halt dich fest - ein Sprecher vom Innenministerium. Er hat - mit schönen Grüßen von ganz oben - sehr deutlich klar gemacht, dass alle Daten über mich, meinen Prozess, die von mir damals geschädigten Personen, die Bewährungsauflagen, blablabla vollständig dem Datenschutz unterliegen, weil sie NICHTS mit meinem heutigen Image oder der Stiftung zu tun haben, und dass die 'Freunde' lieber nicht danach suchen sollten, weil sich sonst nämlich Papa Staat auf sehr unangenehme Weise einmischen wird."
"Puh - das wird eine Gründungsversammlung mit Pauken und Trompeten, wenn sich jetzt schon 'so weit oben' mit einmischt."
"Naja, ich denke, dass die Leidtragenden von damals heilfroh waren, dass es gelungen war, ihre Namen unterm Deckel zu halten. Und das möchten die ganz, ganz sicher jetzt nicht noch geändert haben. Da gibt es im Hintergrund bestimmt jede Menge hektische Aktivitäten.
Mich kotzt das so an! Mir geht es gar nicht um mich. Aber weder meine Opfer von damals noch die Stiftung noch die Jungs heute können IRGENDWAS dafür, was ich vor ein paar Jahren getan oder gelassen habe."
"Die Firma Naver - und ihren Ruf - gäbe es nicht, wenn ihnen dieser Schmuddelkram nicht aus den Händen gerissen würde."
"Normalerweise ja. Aber diesmal haben sie sich wohl verrechnet. Der Applaus in der Show, direkt nach der verbalen Attacke, ist in aller Munde. Es sieht im Moment so aus, dass der Schuss für Naver nach hinten losgeht, weil die öffentlichen und privaten Stimmen mehrheitlich für mehr Sachlichkeit in der Diskussion plädieren und sich demonstrativ viel mehr als erwartet für die Möglichkeiten der Stiftung interessieren. So schlecht sieht meine, unsere Lage also gar nicht aus."
"Na, hoffentlich!"
"Die verrückteste Situation bei der Pressekonferenz war übrigens ein echter Lacher. Da hat mich doch tatsächlich einer in vollem Ernst gefragt:'Wo halten Sie sich zur Zeit auf?"
"Autsch."
"Ich musste mir echt das Lachen verkneifen. Dann hab ich geantwortet:'In Paris. Paris? Ja, das passt. Die Stadt ist groß genug, dass Sie eine Weile suchen müssen. Also: ich bin in Paris.' Ich hab dann höflich gelächelt und ..."
Ich rolle fast vom Stuhl vor Lachen.
"Und das hat dir der Vollidiot abgekauft?"
"Nur der eine? Noch bevor ich fertig geantwortet hatte, tauchte bei mindestens jedem zweiten Reporter das Handy auf. Und auch nach meiner Antwort haben nicht alle sofort geschaltet."
So-Ra stellt Kaffee und Kekse auf den Tisch und beäugt mich neugierig. Immer noch lachend erzähle ich ihr den Grund meiner Heiterkeit. Auch sie bricht kopfschüttelnd in Gelächter aus.
"Also manchmal ... zweifele ich am Fortbestand der Menschheit. Für die Umwelt wärs ja gut. Aber dann wärs echt langweilig hier auf der Erde."
Meine ganze Anspannung ist verflogen.
"Es tut so gut, von Herzen mit euch beiden zu lachen!"
S
o gut! Da fühlt sich das Leben ja fast wieder normal an.
"Ganz kurz - wie geht es den Jungs?"
"Yoongi, Hobi, Tae und Guk kotzen vor Wut im Strahl über diesen Affenzirkus, gehen aber ihrem normalen Alltag nach. Jimin arbeitet hinten am neuen Zaun mit, Jin bestellt Berge von Lebensmitteln in die Villa, schwingt den Kochlöffel und taut dreimal am Tag die durchgefrorenen Handwerker mit Essen und Tee wieder auf. Die beiden belastet das ziemlich, aber so sind sie beschäftigt."
"Das klingt ja fast sowas wie gut."
"Warum so pessimistisch?"
"Gegenfrage: wo nimmst du deinen Optimismus her?"
Auf einmal merke ich, wie ich die Luft anhalte. Die nächste Antwort hat ein tonnenschweres Gewicht, und ich halte die kurze Stille kaum aus.
"
Ich ... weiß es gar nicht so genau. Ich weiß nur: mein Optimismus, meine gute Laune sind echt. Ich ... oh! - Ach, Liebes! Nein, ich tue nicht nur so, als ob, um dich zu beruhigen. Ich gehe tatsächlich davon aus, dass uns, dir, mir jetzt nichts Schlimmes mehr passieren kann. Glaub mir. Ich liebe dich, und ich habe mir geschworen, immer ehrlich zu sein. Denn Schweigen ist tödlich."
Ich atme wieder aus, die Last fällt von mir ab. Das wars wohl, was sich eben so falsch angefühlt hat. Aber dieser Optimismus, der ist echt. Es tut irre gut, das zu verstehen und loszulassen.
"
Danke, Joonie. Du bist der Beste!"
"So. Und wenn alle deine Besorgnisse vertrieben sind, dann möchte ich jetzt gerne wissen, wie es dir geht und ob du schöne Entdeckungen gemacht hast. Hast du weiter in dem Tagebuch gestöbert?"
"Ja, hab ich. Und es wird jeden Tag schöner. Die schweren Themen packe ich noch nicht an. Aber dazwischen sind so viele spannende, lustige, nachdenkliche und schöne Erinnerungen versteckt. So-Ra und ich schauen immer erst das Bild an, dann lese und übersetze ich den Text, und anschließend reden wir darüber. Was wir sehen und zwischen den Zeilen hören, was ich fühle, wer Harry und ich waren. Es tut unglaublich gut."
"Ich freue mich riesig für dich, Liebes. Du klingst so positiv. Was für eine Erleichterung!"
"Danke! Ich bin auch sehr erleichtert. Aber weißt du, was das größte Geschenk ist? Seit dem letzten Aussetzer beim Besuch des Anwalts hatte ich kein Flashback mehr. Ich vers..."
"DAS ist wirklich eine großartige Nachricht. Ich bin so froh für dich!"
"Naja - ich versinke angesichts der Bilder immer noch tief in Gedanken. Aber ich bin nicht mehr weggetreten. Ich habe eine Frage, So-Ra sucht ein passendes Bild - und dann gleite ich durch Erinnerungen, Antworten, Gedanken, Bilder, neue Fragen. Aber ich kriege dabei so ziemlich alles mit. Ich kann mit So-Ra reden. Oder schweigen. Kuscheln oder allein sein. Weinen und lachen. Es wirft mich Gott sei Dank nicht mehr aus der Bahn."
Namjoon atmet tief durch.
"Weißt du eigentlich, WIE stark du bist, Liebes? Deine wunderbare Seele ist wertvoller als der gesamte Inhalt von Fort Knox. Ich bin unglaublich glücklich, dass aus der unerwartet heftigen Qual nun so viel Freiheit, Verstehen, Mut und Liebe wachsen kann. Du klingst auch viel freier. Und wacher und ganz nah bei dir selbst."
"Naja ... ich weiß gar nicht, wie ich das erklären soll. Meine ... irgendwie so: seit wir das blaue Auto ausgegraben haben, nein, eigentlich, seit der Todesnachricht und dann seit dem Beginn der Sanierungsarbeiten hat mir meine Seele in immer schnellerer Folge die wichtigsten der verdrängten Momente wie Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ich konnte sie nicht mehr ignorieren, sie haben mich immer öfter zu Fall gebracht.
Also habe ich mich mit euch beiden und Rae-Jin auf die Suche begeben, obwohl diese Wochen wirklich furchtbar waren. Jetzt, wo ich auf meine Vergangenheit und meine Seele zugehe, muss sie nicht mehr dazwischenfunken. Meine Seele weiß scheinbar sehr gut, dass ich ihr nicht mehr ausweichen werde, und kann mir die Bilder darum jetzt sanfter, schonender schicken. ... Klingt das ... sinnvoll oder so?"
Zu meinem großen Erstaunen höre ich Namjoon am anderen Ende schniefen.
Weint er etwa?
Auch seine Stimme klingt so, als er schließlich ganz leise antwortet.
"
Ja, mein Liebes, mein Leben. Ja, das klingt sehr sinnvoll. Ich wünsche dir nichts mehr, als dass es von jetzt an so sanft und ohne Hetze immer weiter aufwärts geht. Du hast als Kind und im letzten Dreivierteljahr genug ausgestanden. Das soll ein Ende haben. Schau - tja ... irre! Das kommt genau richtig und pünktlich. Zwei Wochen vor der endgültigen Gründung der Stiftung. Wie froh bin ich, dass du an diesem Tag wirst strahlen und feiern können! Weil du nicht mehr fürchten musst, dass dir irgendwelche seelischen Attacken dazwischen kommen. Sei immer gut zu deiner Seele. Höre auf sie. Dann kannst du alles schaffen."
Jetzt weinen wir gemeinsam. Hier kommt So-Ra und nimmt mich in die Arme, dort höre ich Yoongis Stimme, der offenbar die veränderte Stimmung mitbekommen hat und sofort für Joon da ist. Erst nach einer ganzen Weile rappele ich mich wieder auf.
"Und jetzt, mein sehr geliebter Joonie, gehst du bitte ins Bett. Mir geht es so gut wie schon lange nicht mehr, bei dir ist es weit nach Mitternacht. Schlaf bitte. Die nächsten Tage und Wochen werden dir alles abverlangen."
"Ich liebe dich, Nelli!"
"Und ich dich erst! Gute Nacht!"
Hier in Berlin ist es erst 18.00 Uhr, darum überlegen wir, was wir mit dem noch jungen Abend anfangen können.
"Sag mal, Schnucki, hast du Lust, nochmal rauszugehen? Berlin bei Nacht sozusagen?"
"Hm. Ich hab aber keinen Bock auf Disco und Lärm und viele Leute und so. Draußen, aber Ruhe - das wäre meine Wahl."
"Ich kenn dich doch. Du willst Sterne kucken. Das könnte aber in so einer Großstadt schwierig werden. Zuviel Licht überall."
"Keine Ahnung. ... Weißt du was? Ich frage einfach mal Frau Blumenthal."
Kaum trete ich ins Treppenhaus, sehe ich meine Nachbarin die letzten knarzenden Stufen erklimmen. Sie ist ein bisschen außer Atem. Also nehme ich ihr ihre schweren Einkaufstaschen ab, damit sie ohne weitere Last ihre Wohnungstür aufschließen kann.
"Guten Abend, die Damen! Und vielen Dank, es wird allmählich doch mühsam. Was treibt sie denn ohne Jacke raus ins Treppenhaus?"
"Ich wollte zu Ihnen. Mit einer Frage."
"Da bin ich jetzt aber neugierig!"
Während sie ihren Mantel aufhängt, trage ich ihre Einkäufe in die Küche und stelle sie auf die Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank.
Das ist ganz schön viel für eine alleinstehende Dame.
"So. Dankeschön nochmal. Dann fragen Sie los!"
"Gerne. Wir wollen heute Abend nochmal raus, aber nicht ins Getümmel der Großstadt. Wo geht man in Berlin hin - im Dezember, spät abends, ins Dunkle, ungestört, und kann Sterne sehen?"
"Hm. Die großen Parks in der Stadt sind nie leer und still. Ah! Ich weiß. Wussten Sie, dass es in Kreuzberg tatsächlich einen 'Berg' gibt? Das ist die höchste natürliche Erhebung der Stadt. Auf und um diesen Hügel ist der Victoriapark angelegt. Zu Ehren irgendeiner englischen Prinzessin. Und deshalb wollten die da auch einen englischen Landschaftsgarten bauen. Also haben die Architekten an diesem Hang Bäume gepflanzt, ein künstliches Bachbett ausgehoben, Geröll reingeschmissen und am unteren Ende einen Wasserfall angelegt. Von da aus wird das Wasser unterirdisch wieder nach oben gepumpt."
"Das klingt ja toll. Ist das weit?"
"Ich glaube, von hier aus kommt man mit einer U-Bahn hin. Zu der Jahreszeit ist das Wasser natürlich abgestellt. Aber im Dunklen sind da bestimmt nicht viele Leute, und der Himmel ist klar heute Abend. Aber ziehen Sie sich bitte warm genug an. Versprochen?"
"Versprochen! Schönen Dank, Frau Blumenthal."
"Nichts zu danken, Mädchen. Ach ... und ... darf ich für morgen Abend eine Gegeneinladung aussprechen?"
"Oh, ja gerne! So gegen 19.00 Uhr?"
"So machen wirs. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!"
So-Ra steht neugierig in unserer Wohnungstür. Sie kann dem Gespräch zwar nicht folgen, merkt aber an meiner Stimme, dass ich wohl einen guten Tipp bekommen haben muss.
"Los! Spucks aus. Was hat sie gesagt?"
"Sie hat uns für morgen Abend zum Gegenbesuch eingeladen."
"Grrrr. Du weißt genau, was ich meine. Ich meine ... schön! Aber jetzt sag schon!"
Als erstes lache ich meine Besti tüchtig aus für dieses Durcheinander.
"Und für heute Abend ... Es gibt einen Park mit einem Hügel und einem künstlichen Wasserfall. Der ist bei Frost natürlich ausgeschaltet, aber sie vermutet, dass wir da ziemlich alleine sein werden."
Sie grinst.
"Klingt gut! Dann lass uns was essen, alles anziehen, was wir hier finden, heißen Tee mitnehmen und los."
Es klingelt an der Tür. Es ist Frau Blumenthal, mit den Armen voller Kleidung, der ich erstaunt öffne.
"Wissen Sie - wenn Sie noch Sachen von ihrem Onkel haben, dann passen Ihnen die sicher besser. Aber Ihre Freundin ist ja viel kleiner. Da dachte ich ... Hier. Mantel, Schals, Mützen, Handschuhe und meine Winterstiefel passen vielleicht ja auch."
Sie drückt mir einfach die Klamotten in die Arme, winkt noch einmal und verschwindet wieder in ihrer Wohnung.
"Ich mag sie!"
Hinter mir steht So-Ra und strahlt.
"Ich stürze mich in die Küche, du auf Harrys Kleiderschrank."
Weg ist sie. Ich dagegen stehe mit dem Arm voller Stoff und registriere erst nach und nach, dass ich jetzt - bei den Sachen von Harry, die ich im Frühjahr nicht weggegeben hatte - irgendwas Passendes für mich raussuchen soll.
Tja - so kann man sich selbst ein Bein stellen. Will ich das? ... Ich glaube, ich habe grade keine Wahl. Ich sollte definitiv weniger denken und mehr machen. Los!
Ich gebe mir einen Ruck, deponiere die Sachen für So-Ra auf dem Sofa und wende mich Harrys Schlafzimmer zu, bevor mir noch wieder irgendwelche idiotischen Einwände einfallen. Ich überhole mich selbst und meinen Sack voller Bedenken und gehe direkt in den Raum, den ich selbst im Frühjahr so wenig wie möglich betreten habe.
Es ist staubig hier, und ich muss erstmal die Glühbirne in der Deckenlampe austauschen. Zum Glück hatte Harry in der Besenkammer ein paar Ersatzbirnen auf Vorrat deponiert. Mit Licht gehe ich dann zum Schrank und versuche, mich zu erinnern, was ich alles gefunden, behalten oder entsorgt hatte.
Jacken und Mäntel hängen ja eher an einer Stange, und die war glaube ich links.
Meine Erinnerung trügt mich nicht. Ich finde eine dicke, große Daunenjacke, die ich locker über meine eigene drüberziehen kann. Aus einer Kiste fische ich mehrere Paar Handschuhe, eine Mütze und zwei Schals.
Wenn DAS nicht reicht ...
Einer spontanen Eingebung folgend suche ich noch mehrere lange Schlafanzughosen raus.
Zwiebellook hält besonders warm. Die ziehen wir einfach über die Jeans.
So-Ra hat zwei Thermobecher gefunden und mit Tee gefüllt. Außerdem stellt sie nun eine dicke Suppe mit Kartoffeln, Gemüse und ein paar Speckwürfeln auf den Tisch. Wir essen, finden eine brauchbare U-Bahnverbindung, machen kurz Modenschau und ziehen los. Die Jacken haben wir offen übereinander an und die Schlafanzughosen vorsichtshalber mit den Teebechern in einer Tasche versteckt, als wir um 21.00 aufbrechen. Es ist bitterkalt, die Geschäfte schließen grade alle, dick vermummte Gestalten eilen nach Hause ins Warme, auch alle typischen Nachtgestalten haben sich verkrochen.
Wir fahren zweimal U-Bahn und laufen dann mutterseelenallein zum Victoriapark. Jacken zu, jede mit zwei Überhosen, Schal vorm Gesicht, zwei paar Handschuhen. Wir sind neugierig, reden nicht viel, spüren die besondere Atmosphäre dieser Nacht.
Im Park ist es fast völlig dunkel. Alle Laternen sind aus, schemenhaft ragt der beachtliche Hügel neben uns auf. Nur der fast volle Mond erhellt etwas die Landschaft und wirft Schlaglichter zwischen den großen Bäumen. Ich greife nach So-Ras Hand. Alle Sorgen, Ängste und Nöte der letzten Monate bleiben am Parkeingang zurück. Nach wenigen Minuten weiten sich meine Sinne. Ich bin nur noch Auge und Ohr und Haut und Seele. Ich kann plötzlich den Geruch des gar nicht vorhandenen Wassers hören, im tiefsten Schatten den Wintermond sehen, das Leuchten der Sterne schmecken und wärmende Liebe in meinem Gesicht spüren. Der Moment ist magisch und hält uns beide still gefangen.
Wie auf Kommando wenden wir uns dem Fuß des Hügels zu und stehen bald vor dem Wasserfall, der gar nicht so karg ist, wie wir erwartet hatten. Denn über die Felsen schmiegen sich gefrorene Bänder in den bizarrsten Formen. Ich kann nur flüstern.
"Da haben sie dieses Jahr wohl zu spät das Wasser abgestellt. Es ist wie verzaubert."
Fast sieht es aus, als würden einzelne gefrorene Tropfen in der Luft verharren und auf den Frühling warten. An dem kleinen Stück Himmel zwischen den Bäumen können wir den Mond sehen, der seine Strahlen auf die Szenerie wirft und selbst kleinste Zweige im Frost schimmern lässt. So-Ra hält meine Hand noch fester, als sie darauf deutet.
"Sowas hab ich noch nie gesehen. Traumhaft."
Links vom Wasserfall kann man über eine Brücke und einen schmalen Weg den Hügel rauflaufen. Während wir den gewunden Pfad hochsteigen und das einzige Licht von der Reflexion des Mondes auf dem Schnee herrührt, sehen wir immer wieder zwischen den Bäumen das Geröll im Bachbett. Als wir an einer Biegung des Weges sehr nah ran kommen, verlässt So-Ra zielstrebig den Pfad und läuft zwischen die ersten Felsen, als hätte sie nur auf diese Gelegenheit gewartet.
Ach, Besti. Das ist mal wieder typisch. Aber ... du hast recht!
Kurz entschlossen stiefele ich ihr hinterher.
Schnell stellen wir fest, dass die Steine bei aller Lust zum Klettern ziemlich glitschig sind.
"Mist! Das könnte gefährlich werden."
"Echt Mist. Dabei habe ich grade sooo eine Lust auf was Verrücktes. Aber unsere Schuhe werden hier keinen Halt finden. ... Wobei ..."
Die Wollfäustlinge von Harry sind riesig. Darum haben wir sie einfach über unsere normalen Handschuhe drüber gezogen.
Wenn man ...
"Erinnerst du dich an den Winter, in dem ich immer zu spät zur Schule gekommen bin? Da war unser Berg so glatt, dass der Bus nicht fuhr und ich runter laufen musste. Damit ich überhaupt vorwärts gekommen bin, hatte ich mir ..."
"... Socken über die Stiefel gezogen. Genau! Sah ziemlich lustig aus. Aber was hat das ..."
Demonstrativ zupfe ich mir die riesigen Handschuhe von den Händen und schwenke sie vor ihrer Nase.
"Cool! Los!"
Tatsächlich passen die Fäustlinge ziemlich weit auf unsere Schuhe. Wir nehmen unsere Kletterstrecke fest ins Auge und testen die ersten Schritte. Es klappt!
Still und konzentriert arbeiten wir uns den Hang hoch, machen kleine, vorsichtige Schritte, bewundern immer wieder den sagenhaften Ausblick nach unten und vor allem nach oben. Ab und zu mache ich ein Foto und schicke es Namjoon.
Kurz nach 23.00 Uhr erreichen wir schließlich die "Quelle" des künstlichen Wildbaches am Fuße eines riesigen Denkmals. Wir hocken uns oben auf die Felsen und genießen schweigend das zauberhafte Licht auf dem Schnee. Ich halte die Kamera drauf und mache einen sehr langsamen Schwenk, um die Stimmung einzufangen. Namjoon dürfte inzwischen aufgestanden sein und schickt mir als Antwort ein großes lilanes Herz.
Um uns noch einmal von innen aufzuwärmen, bevor wir den Rückweg antreten, holen wir unsere Teebecher raus. Mein Blick wandert zum klaren Nachthimmel. Tausende Lichtpunkte funkeln zu uns herunter. Nur unser leises Schlürfen durchbricht die nächtliche Stille. Unser Atem gefriert im Mondlicht, und mein Herz ist ganz weit.
Inzwischen sind Monate lang non stop so viele Katastrophen, Entscheidungen, innere Kämpfe, plötzliche Veränderungen und Rückschläge passiert, dass ich zeitweilig das Gefühl dafür verloren habe, wie sich eigentlich 'normal' anfühlt. Dieser permanente Ausnahmezustand war so kräftezehrend, dass ich mich kaum noch getraut habe, loszulassen und mich einfach wohl zu fühlen. Wann wenn nicht in so einem verzauberten Moment kann ich wieder Vertrauen ins Leben fassen? Dieser stille Ort ist ein großartiges Geschenk!
Irgendwann reißen wir uns los von diesem wundervollen Anblick und spazieren auf der anderen Seite des Wildbaches den Weg hinunter. Die nun etwas zerrissenen Fäustlinge tragen wir wieder als zweite Schicht an den Händen. In den U-Bahnen nach Hause sind wir alleine und sitzen träumend nebeneinander gleich hinterm Fahrer. Wir schleichen uns durchs Treppenhaus in die warme Wohnung, duschen heiß und kuscheln uns in die warmen Decken. In Windeseile sind wir eingeschlafen.
........................
9.6.2023 - 27.3.2024
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