66 - die andere Seite von Harry
Gestern war für mich ein segensreicher Tag. Onkel Harrys Tagebuch ist harter Tobak, und es ist absolut richtig, das nur in kleinen, gut gewählten Häppchen zu genießen. Aber mir ist dabei bewusst geworden, dass meine Rückblenden mich nicht mehr dauernd ins Dunkel stürzen müssen. Sie werden von Mal zu Mal positiver. Das ist echt ein erleichterndes Gefühl!
Kaum klappe ich früh am nächsten Morgen die Augen auf, taste ich schon nach der Bildermappe.
Die muss doch ...
Schließlich finde ich die Mappe neben dem Bett. Sie wird mir im Schlaf aus den Händen gefallen sein.
Zum Glück ist nichts rausgerutscht, was ich vielleicht noch gar nicht sehen will. Oder sollte.
Schnell greife ich danach. Von meinem Geraschel wird So-Ra dann auch wach. Sie beobachtet mich, wie ich mit der Hand ganz zart über das alte, graue, abgegriffene Leder und die feine Prägung fahre.
Ich bin so glücklich, dass ich dich habe. Was hast du alles in deinem Leben schon gesehen? Wohin bist du schon gereist? Und was hältst du noch alles für mich bereit?
Meine Besti fängt an zu kichern.
"Na, das ist ja Liebe auf den ersten Blick!"
"Guten Morgen, du dumme Nuss! Lass mich halt. Es geht mir gut damit."
"Das ist der allerschönste Satz, den ich seit Wochen von dir gehört habe. Darauf lass uns mit Kaffee anstoßen! Und dann legen wir gleich los."
So-Ra fragt gar nicht, ob. Es ist vollkommen klar, dass ich mir weitere Bilder ansehen möchte. Also statten wir dem Kühlschrank einen Besuch ab und frühstücken ausgiebig im Bett. Neben mir lockt die graue Bildermappe. Ich muss mich danach richtig zwingen, erst das Tablett in die Küche und die restlichen Lebensmittel in den Kühlschrank zu stellen.
Wie ein kleines Kind an Weihnachten flitze ich zurück ins Bett. Wir kuscheln uns im Schneidersitz in unsere Decken und schnappen uns wieder die Bildersammlung.
"Möchtest du dir Bilder um das Verschwinden vom blauen Auto ansehen, oder ist di..."
"Ne, ich glaube, das geht noch nicht. ... Kannst ... könntest du nach der Zeit unserer Pubertät suchen? Was weiß ich - so zwischen zehn, elf und sechzehn, siebzehn? Also vor dem Schulabschluss."
"Hast du irgend ein Schema im Kopf? In der chronologischen Reihenfolge oder erst zu all deinen Flashbacks oder sowas?"
"Hm. ... Ich glaube, ich möchte mich von Bild zu Bild hangeln. Wir reden ja immer gleich darüber. Wenn daraus eine neue Frage oder Erkenntnis entsteht, möchte ich dazu eine passende Antwort suchen."
"Klar! Verstehe. Mal sehen ..."
"Hier. Dem Datum nach warst Du da etwa zwölf. Oh, und das ist vom ersten Abschlussball. Beides?"
"Mal sehen. Was hatte das erste für ein Datum?"
Schnell habe ich den Eintrag im Inhaltsverzeichnis gefunden.
"Zeichnung, Mädchen im Park. Passt das?"
"Das passt. Hier."
So-Ra legt vor mir die Mappe mit der Zeichnung auf die Decke.
Eine Weile sehe ich nur auf die fein beobachtete und ausgeführte Zeichnung. Ich bewundere bei jedem Bild, wie gut Harry malen konnte. Und je später nach dem Unfall meiner Eltern, desto ausgefeilter und eindrücklicher werden die Darstellungen. Er muss ab da wirklich viel gemalt und geübt haben.
Das könnte tatsächlich ich sein. Das Bild ist gut!
Schnell überfliege ich den Inhalt.
"Aber das bin gar nicht ich!"
So-Ra springt die Neugierde aus dem Gesicht.
"Fang an!"
Ich übersetze den Text und lese die Worte laut vor.
"Liebe Jutta!
Heute in der Mittagspause bin ich in den nahen Park geschlendert. Gedanken lüften. Dort saß dieses junge Mädchen - ganz lange, ganz still. Ich habe ihr Gesicht nicht gesehen, aber mit ihrer Haltung und ihrer stillen Präsenz hat sie mich an unsere Cornelia erinnert. Was dieses Mädchen in dem Moment wohl gedacht hat?
Es dürfte ja normal sein, dass Zwölfjährige nicht mehr alles mitteilen. So-Ra erzählt wohl zu Hause auch nicht mehr alles. Aber wenn Cornelia so in der Obstwiese sitzt und scheinbar ins Nichts starrt, würde ich schon gerne in ihren Kopf kucken. Das macht sie ja schon seit der ersten Klasse, als sie von einem Tag auf den anderen plötzlich verstummt ist für mehrere Monate. Und ich weiß bis heute nicht, warum.
Wenn ich sie so sehe, frage ich mich immer noch verzagt, ob ich irgendetwas falsch gemacht habe. So-Ra war schon immer lebhafter und forscher als Cornelia.
Aber so in sich gekehrt?
Vielleicht genießt sie ja nur unseren Garten und lässt ihrer Phantasie freien Lauf, als Ausgleich für den enormen Druck von der Schule. Aber ich habe trotzdem Sorge, ob ich genug Zeit habe, ob ich mich genug kümmere, ob ich ihr gerecht werden kann.
Manchmal erinnert sie mich an Dich in dem Alter. Freundlich, neugierig, tolerant. Aber sie ist nicht so lebhaft und zielstrebig, wie Du es warst. Mehr zögernd und noch ohne Plan."
Spannend!
Langsam lege ich das Blatt zurück in die Mappe und sehe So-Ra an.
"Du kennst mich doch jetzt schon so lange. Wie siehst du mich? Genau so oder ganz anders? Und hab ich da wirklich so viel in die Gegend gestarrt zu der Zeit?"
"Ja nein ja nein ja. ..."
"Hä?"
"Das heißt 'wie bitte?' Und wenn du mich ausreden lässt, musst du nicht dumm sterben."
Wie bringe ich jetzt die Bilder aus der Schussbahn? Das schreit ja wohl nach Kissenschlacht!
Kurzerhand klappe ich meine Bettdecke über die Mappe, greife nach meinem Kopfkissen und steige voll ein ins Battle. Mit Kichern und Quietschen flitzen wir durch die Wohnung und raffen noch ein paar Sofakissen dazu. Es dauert eine Weile, bis wir wieder friedlich, bei Atem und zurück im Bett sind. Vorsichtig grabe ich meinen Bilderschatz wieder aus.
"Zu deiner Frage. Meine Mutter sagt, dass du generell nach dem Stimmungs-Knick am Ende des ersten Schuljahres stiller warst. Abwartender. Zuhörerin. Du hast eher mich reden lassen, hast andere das Spiel oder die Musik entscheiden lassen. Du bist mir gegenüber zwar wieder aufgetaut im Sommerurlaub. Du warst wieder fröhlich und kreativ und so. Erinnerst du dich? Wir waren mit beiden Familien am Meer.
Aber es war anders als vorher. So wie ... so wie Dur und Moll in der Musik. Da ist nur eine Note ausgetauscht worden, und eigentlich ist es noch die bekannte Melodie, aber die Grundstimmung wird von da an eine andere."
Dur und Moll - ja, das passt zu meinem Lebensgefühl dieser Jahre. An der Oberfläche leises Dur, innendrin unsortiertes, manchmal schräges, schmerzhaftes aber immer auch ganz sanftes Moll. Und nur die Menschen, die mich gut kennen, haben das auch gemerkt.
"Hm ... hört sich richtig an. Guter Vergleich."
"Ab dem Sommer warst du einfach lange Zeit ... ja, diese neue Nelli eben. Du schienst drüberweg. Es folgten überwiegend fröhliche Jahre.
Seit dem Tod deines Onkels bist du wieder sehr schwankend - zwischen schwach und stark, laut und leise, zielstrebig und verirrt, gelähmt oder überaktiv, total verunsichert oder sehr gradeaus. Aber das heißt ja nichts Schlechtes. Du musstest unglaublich viel verarbeiten in diesem Dreivierteljahr. Allmählich schält sich zumindest für mich viel neues, viel Gutes aus dem Chaos."
Neugierig schaue ich sie an.
Wie sie mich wohl wahrgenommen hat? Manches weiß ich ja, aber bestimmt nicht alles.
"Was denn?"
"Du weichst weniger aus, packst Aufgaben an, schaffst dir Strukturen. Du widersprichst mir plötzlich, läufst mir nicht mehr hinterher sondern vorneweg. Das ist für mich natürlich besonders auffällig.
Du hast und du äußerst Wünsche, Bedürfnisse, Bedenken. Du interessierst dich zum ersten Mal in deinem Leben ..."
Ich kapiere sofort, worauf sie rauswill, und fange an zu strahlen.
"... für einen Mann. Ich entdecke Gefühle, spüre mich selbst intensiver, spreche viel mehr aus. Ja - du hast recht. Das alles ist neu."
"Genau. Du warst nie egoistisch. Im Gegenteil. Du würdest dein letztes Hemd verschenken, um eine bessere Welt zu schaffen. Das war aber oft gar nicht gesund für dich. Neu ist, dass du wenigstens ab und zu kapierst, dass jetzt mal DU an erster Stelle stehen solltest."
"Und genau das fällt mir immer noch unglaublich schwer. Ich finde mich eben nicht so wichtig wie alle anderen."
So-Ra verkneift sich eine Antwort, aber ihr Blick spricht Bände.
Wir schweigen eine ganze Weile. Wenn ich die Zeichnung von dem Mädchen sehe, kann ich sofort exakt diese Körperhaltung einnehmen. Weil ich genau weiß, wie es sich anfühlt, so da zu sitzen. Entspannt, mit dem Kopf in den Wolken. Ganz weit weg von der realen Welt.
Was habe ich in solchen Momenten eigentlich gedacht und gefühlt? Ich glaube, wenn mir als Kind zum Heulen zumute war, bin ich eher ins Bett gekrochen oder oben im Nationalpark auf meinen Baum geklettert, damit niemand was mitkriegt. Wenn ich so wie hier dagesessen habe, hab ich eher ... gar nichts gedacht, mehr meine Umgebung gefühlt, Kraft getankt. Ich war dann nicht traurig. Sondern auf der Suche nach meiner Mitte, ohne dass ich selbst das damals so hätte formulieren können.
So-Ra holt mich aus meinen Gedanken.
"Wo warst du grade?"
Ich muss über meine eigene Antwort lächeln.
"Auf der Obstwiese. Unter einem Apfelbaum."
Sie wartet noch ab. In mir steigt ein spannender Gedanke auf.
"Die Wohnung! Mein Balkon! Ich ... Harry hatte sich damals ein bisschen gewundert, dass ich mich für die entschieden hatte. Da stehen so viele Dachbalken mittendrin, und der Balkon ist ja wirklich winzig. Aber genau deshalb habe ich wohl die Entscheidung so und nicht anders getroffen. Der Balkon mit den Bäumen daneben, die Nähe zu den Sternen - das war der perfekte Ersatz für die Stille in der Obstwiese."
Jetzt lächelt So-Ra.
"Stimmt. Wir haben endlos lange gebastelt und gemalt und Papierstücke über den Grundriss geschoben, bis wir diese pfiffige Raumaufteilung hinbekommen hatten. Ich erinner..."
Ein verrücktes Bild entsteht vor meinem geistigen Auge.
"Bin gleich wieder da."
Hoffentlich kriege ich Harrys Drucker zum Laufen.
Ich schnappe mir das Blatt mit der Zeichnung, flitze über den Flur und schmeiße Harrys PC an. Dann googele ich nach zwei ganz bestimmten Bildern und drucke sie aus. Außerdem kopiere ich zweimal die Zeichnung von dem Mädchen in verschiedenen Größen.
Jetzt noch eine Schere finden ...
Schon sitze ich wieder bei So-Ra auf dem Bett.
"Was ist denn jetzt los?"
"Warts ab."
"Na, du machst es ja spannend."
Sorgfältig schneide ich die beiden Kopien aus und lege sie auf die ausgedruckten Bilder.
"Siehst du? Die Wiese ..."
"... und der Balkon."
Einen Augenblick ist So-Ra ganz still und sieht mich intensiv an. Dann schiebt sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr und flüstert.
"Ich kann gar nicht sagen, WIE froh ich bin, dass wir hier sind. Ich hatte ein bisschen Sorge, ob ich damit klarkommen würde. Ganz neidlos - ich ... bin nicht Namjoon."
"Das ..."
"Es ist egal, wie lange und WIE gut wir uns kennen. Das bedeutet nur, dass und WIE wunderbar dieser Mann für dich ist."
Sie lächelt ehrlich.
"Nach der anfänglichen Angst bist du hier über deinen Schatten gesprungen und wirst dafür so reich beschenkt. Ja, dieses Mädchen passt da perfekt hin. Und Harry hatte ein verdammt gutes Auge für die Situation. ...
Er hat auf mich meistens sehr belesen, vergeistigt und beherrscht gewirkt. Aber mit jedem Bild merke ich mehr, dass dahinter ganz viel Seele und Gefühl gesteckt hat. Wunderbar."
Der letzte Satz ist ein bisschen unangenehm, denn auch ich habe das ja nicht rechtzeitig in ihm entdeckt und darum jetzt mal wieder ein schlechtes Gewissen.
Schnell lenke ich ab.
"Und das Bild vom Abschlussball?"
So-Ra sieht mich kurz an, versteht und reicht mir das nächste Bild rüber.
Auf dem Bild sieht man tanzende Paare. Und ...
"Oh! Schau mal, kann es sein, dass das Paar da Harry und mich darstellt? Mein Kleid hat so ungefähr ausgesehen. Irre, dass der solche 'Kulissen' immer einfach aus dem Kopf aufs Papier gebracht hat."
"Stimmt. An diesen Saal kann ich mich auch erinnern. Liest du vor?"
"Liebe Jutta!
Cornelia hatte Abschlussball von ihrer Tanzschule. Und für sie war es vollkommen selbstverständlich, dass sie nicht dort hingeht mit einem der Jungs aus ihrem Kurs. Sie wollte unbedingt, dass ich ihr Tanzpartner bin, mit ihr am Arm den Saal betrete.
Ich habe sie vorsichtshalber extra noch mal gefragt, ob sie das wirklich will. Sie hat mir mit ihrer Antwort ein großes Geschenk gemacht.
"Du bist nicht peinlich! Die Jungs sind peinlich. Aber du bist ein echter Herr mit Stil, und ich mag mich an dem Abend wie eine echte Dame fühlen. Das schaffst nur du!"
Deine Tochter ist wunderbar! Sie hat ein feines Gespür, weiß, was ihr wichtig ist, versteckt sich nicht vor anderen. Cornelia hat ein großes Herz und Lebensfreude. In solchen Momenten würde ich sie so gerne mit ihrem koreanischen Namen anreden - Sarang Namja.
Ich habe dann alles 'ausgepackt', was meine gute Erziehung so hergab. Cornelia hat es in vollen Zügen genossen. Dazu gehörte Shoppen und Frisör, Chauffeur, Tür aufhalten, in den Saal geleiten. Für die beiden Damen Woo und Cornelia wurden Blumen passend zu den Kleidern an den Tisch gebracht. Der Champagner stand schon gut gekühlt bereit, und Cornelia ist selig durch den Abend geschwebt. Die Jungs standen Schlange bei ihr, aber in ihrer Tanzkarte stand nur mein Name.
Ich sollte wieder öfter ausgehen. Einfach so für mich. Der Abend war herrlich.
Während ich den Text übersetze und vorlese, fällt mir einiges auf.
"Kann es sein, dass Harry und ich uns in dem Punkt sehr ähnlich sind? Unten schreibt er, wie sehr er es genossen hat. Überhaupt ist das SEIN persönliches Tagebuch, das Malen scheint SEIN emotionaler Rückzugsort gewesen zu sein. Trotzdem geht es im Text meistens darum, wer ich bin, was ich brauche, was er mir wünscht, wie er mir etwas Gutes tun kann. Nur in den drei kurzen Sätzen am Schluss klingt an, dass er, Harald, Freude hatte an der Stimmung, am Tanzen, an einem schönen, leichten, vergnügten Abend."
"Ganz genau. Und exakt dasselbe hast du in den letzten Monaten gemacht - dich um die Jungs gesorgt, ihnen zugehört, jedem einzelnen einen Neuanfang ermöglicht, dich aufgeopfert für sie, bis du schließlich zusammengebrochen bist unter all den Belastungen. Es wird höchste Zeit, dass DU mal wieder tanzen gehst. Oder etwas anderes machst, dass dich so anregt, entspannt und aus deinem Schneckenhaus lockt."
Ich nicke. Und da springt mir noch was ins Auge.
"Er hat hier geschrieben, dass ich 'weiß, was ich will, und mich nicht vor anderen verstecke'. Das war dann wohl einer der Momente, in denen ich aus mir herausgegangen bin."
"Falsch. Einer der Momente, wo dir etwas und JEMAND so wichtig war, dass du dich nicht mehr versteckt hast. DA warst du ganz IN dir selbst. Nicht 'herausgegangen'."
Ich denke nach.
"Weißt du, was ich komisch finde? Er schreibt fast immer 'deine Tochter'. Nicht 'eure Tochter', nicht 'meine Nichte', ganz selten 'unsere'. Das ist eine komische innere Distanz."
Und mein Vater kommt selbst indirekt kaum vor. Konnten die nicht miteinander? Das muss ich dann wohl Woo Rae-Jin fragen ...
Ein Haufen unterschiedlichster Gefühle durchströmt mich und kribbelt bis runter in die Zehen. Das meiste sind warme, frohe, dankbare Gefühle und Erinnerungen. Ich bin so satt von all dem vielen, dass ich mich erstmal alleine im Schaukelstuhl in den Wintergarten unter einen riesigen Benjamini setzen, in mich hineinspüren muss. Und endlich denke ich ohne diese monatelange Bitterkeit, wie wunderbar reich ich beschenkt worden bin von diesem einzigartigen Mann, der mein Onkel war.
........................
4.6.2023 - 27.3.2024
durch Teilung entstanden
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