65 - vorsichtiges Aufatmen

Während So-Ra uns ein Mittagessen kocht, hocke ich mich mit der Mappe im Arm in den Wintergarten und versuche, Namjoon zu erreichen. Dieser Vormittag war so spannend, Gott sei Dank auch so schön, und mein Herz ist so voll - das muss ich unbedingt sofort loswerden. Zum Glück hat er schon Feierabend und geht sofort ran.

"Hallo, Liebes. Hast du gute Nachrichten oder Schlechte?"
"Hallo Joonie. Es ist so schön, deine Stimme zu hören! Ich habe gute Nachrichten. Ein gutes Gefühl. Mein Onkel hat seit dem Unfall meiner Eltern Tagebuch geführt. Und jetzt halt dich fest. Er hat die Erlebnisse GEMALT und dann dazu seine Gedanken und Gefühle aufgeschrieben. Es ist eine lose Blattsammlung mit Inhaltsverzeichnis. Also kann ich einzelne Seiten raussuchen und mir ansehen, ohne beim Durchblättern sofort die volle Dröhnung zu bekommen."
"Das klingt ja spannend. Dein Onkel hat gemalt?"
"Genau. Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern. Aber das eine Bild, das ich gesehen habe, ist richtig künstlerisch. Der Anwalt hat mir jetzt verraten, dass er Harry schon seit der Schulzeit kannte. Er hat mich gebeten, die Bilder nicht alle auf einmal anzusehen."

"Damit hat er sicherlich recht. Bitte, übernimm dich nicht. Und konzentriere dich auf die positiven Bilder. Erkennst du denn manche Situationen wieder?"
"Ja, schon. Ich habe aber bisher nur ein Bild genauer angesehen. Und das passte tatsächlich exakt zu einem meiner Flashbacks. Ich kann also, wenn ich will, gezielt nach meinen Rückblenden suchen und mir seine Sicht dazu ansehen. Die Seite, die ich kenne, hat auf mich sofort gewirkt wie ein warmes, samtweiches Tuch um die Schultern, mitten im Winter."
"Uff. Jetzt bin ich wirklich erleichtert. Du klingst viel besser als letzte Woche."

Joon ist ein guter Zuhörer. Er lässt mich einfach erzählen, was wir gestern und heute bisher erlebt haben, und freut sich mit mir über alles Schöne. Ich bin unendlich dankbar, ihn an meiner Seite und mich in seinem Herzen zu wissen.

Meine Besti ruft mich zum Essen. Ich verabschiede meinen wunderbaren Freund in den Feierabend und schlendere in den Wintergarten, wo So-Ra für uns den Tisch gedeckt hat.
"Ich finde es hier so hell und gemütlich. Sollen wir den Adventskranz rüberholen?"
"Ach, muss gar nicht. Hmmmmm. Es riecht herrlich."
Ich schnuppere am dampfenden Essen in der Pfanne.
"Lass uns anfangen. Ich habe einen Bärenhunger."
"So gefällst du mir viiieeel besser als in den letzten Wochen. Genieße es!"
"Worauf du Gift nehmen kannst!"
"Och nööö. Das Essen ist mir lieber."
Endlich mal wieder einfach nur albern sein!

Nach dem Essen machen wir ein Nickerchen. Aber wir stellen uns den Wecker, damit wir nicht völlig aus der Zeit geraten. Wir machen uns einen Tee und landen sofort wieder im Wintergarten. Auf dem Schoß habe ich das Tagebuch liegen. Ich überlege, wie ich jetzt weiter machen will.
Ich blicke hoch. Aus So-Ras Gesicht springt die pure Neugierde. Ich muss lachen. So-Ra grinst.
"War ja klar, dass du es für heute noch nicht ruhen lassen kannst. Pass auf. Ich schlage vor, Du liest dir das Inhaltsverzeichnis durch. Wenn du was findest, was dir bekannt vorkommt und nicht negativ besetzt ist, dann suche ich dir das raus. Passt das?"
Ich muss nicht lange nachdenken.
"Das passt sehr gut."

Ich überfliege die Auflistung und bleibe gleich bei einem frühen Eintrag hängen.
"Erster Besuch beim Kinderarzt. Warum war ihm das wohl so wichtig?"
"Wer weiß. Aber da du gesund wie eh und je vor mir sitzt, dürfte das mehr seine Unsicherheit hervorgerufen haben, nicht irgendeine konkrete Krankheit."
"Du hast recht. Suchst du mir die Seite raus?"
So-Ra stöbert sich durch die Daten auf den Rückseiten der Blätter.
"Hier!"
Sie holt ein Blatt heraus, legt ein Lesezeichen an die Stelle, rutscht mit ihrem Sessel neben mich und sieht mir über die Schulter, während ich das Bild bestaune.

"Das sieht ja witzig aus. Dieses Zöpfchen! Ich finde, ich sehe aus, als ob ich mich dort wohlfühle, den Mann gut kenne und meinen Spaß habe."
"Glaub ich auch. Das ist eine vertrauensvolle Atmosphäre. Dir scheint es mit Harry und dem Arzt wirklich gut zu gehen."

"Oh! Da fällt mir was auf. Das ist nicht nur kein Foto - das ist auch keine neutrale Abbildung zweier Menschen. Das ist ein Bild, das Onkel Harrys Wahrnehmung der Situation ausdrückt. Bei allen gemalten Bildern sehen wir eine Momentaufnahme durch seine Brille."
"Spannend! Du hast recht. Aber ... genau das wolltest du doch. Dich jetzt als Erwachsene an sein Wesen, sein Inneres von damals rantasten."
"Jupp. Und besser gehts nicht."
Noch ganz verzaubert von der Wärme im Bild und dem süßen, kleinen Fratz, der ich mal war, fange ich an, den Brief im Kopf zu übersetzen und ihn So-Ra laut vorzulesen.

"Liebe Jutta!

Der erste Besuch beim Kinderarzt hat ja nicht lange auf sich warten lassen. Es ist erstaunlich, wie oft ein Kleinkind zum allgemeinen Entwicklungstest muss!
Ich habe mich inzwischen so weit durch Eure Unterlagen gearbeitet, dass ich eine Liste Eurer Ärzte gefunden und alle benachrichtigt habe. Das war schwer! Zehnmal erzählen, zehnmal Beileidsbekundungen, zehnmal höflich sein ...
Beim Kinderarzt wurde ich dann informiert, dass eine Pflichtuntersuchung verpasst worden sei. Ich möge die doch bitte schnell nachholen.

Diese Kälte hat dann auch weh getan. In solchen Momenten spüre ich die Last der Verantwortung besonders schwer. Ich will der Kleinen ja gerecht werden. Aber oft weiß ich gar nicht, wie! Es tröstet mich dann immer, wie sehr unser Mädchen mir vertraut. Sie zweifelt nicht daran, dass ich ihr ein guter Elternersatz sein werde.

Der Arzt war sehr liebevoll mit ihr, hat die Untersuchung in kleine Spielchen verpackt, hat mir geduldig erklärt, wie dieses Vorsorgesystem funktioniert, worauf er dabei jeweils achtet. Jetzt fühle ich mich ein bisschen sicherer. Ich bin so dankbar, dass so viele Menschen mich unterstützen. Alleine mit all dem wären Cornelia und ich ziemlich verloren."

Ich lasse die Worte still auf mich wirken. Das Bild ist wieder sehr ausdrucksstark. Aber die Ratlosigkeit, die aus jeder Zeile springt, berührt mich tief.
"Er hat sich so viele Sorgen gemacht. Und war zumindest am Anfang ganz schön hilflos!"
So-Ra nickt und seufzt.
"Das ist eigentlich auch logisch. Wenn ich meine kleine Nichte im Arm habe, bin ich Tante, entzückt, zum Spielen da. Aber schon, wenn ich ihr die Windeln wechseln soll, werde ich unsicher. Dein Onkel war vorher einfach der Onkel zum Quatsch machen, toben oder vorlesen. So viel Verantwortung von einem auf den anderen Tag ... Nichts hat ihn darauf vorbereitet."

Wer weiß schon von alleine, was ein kleines Kind alles braucht. Es ist gut, dass natürliche Eltern in diese Aufgabe hineinwachsen mit der Zeit. Ich ahne nur, WIE furchtbar und plötzlich das alles gewesen sein muss.

Onkel Harry musste mitten in der Nacht Mama und Papa identifizieren. Er musste mir am nächsten Morgen sagen, dass ich meine Eltern nie wieder sehen werde, weil sie tot sind. Er musste sich intensiv um mich kümmern, sensibel mit mir umgehen, mehr Zeug für mich aus unserem Haus holen. Papiere zusammensuchen, immer wieder zur Polizei, die Beerdigung organisieren - und durchstehen. Dann musste er von jetzt auf gleich lernen, was ein dreijähriges Kind braucht, bei der Arbeit bitteschön sofort wieder voll einsatzfähig sein, sich mit allen möglichen Institutionen wie Kindergarten, Musikschule und natürlich dem Jugendamt vertraut machen. Er hatte das koreanische Schulsystem nicht durchlaufen - alles war fremd und neu und anstrengend für ihn.

Harry, der selbst mal ein Junge war und nur die deutlich jüngere Schwester hatte aufwachsen sehen, wusste nicht, was und wie ein Mädchen fühlt, was Mutter- oder Vatersein bedeutet. Er hatte nicht die Chance gehabt, in diese Rolle hineinzuwachsen. Das muss zumindest am Anfang wie ein reiner Blindflug für ihn gewesen sein. Armer Onkel Harry!

Onkel Harry. Oder nur Harry. Habe ich ihn immer Onkel genannt? Und war das reine Gewohnheit, oder hatte er selbst es bewusst dabei belassen wollen? De facto war er für mich Vater und Mutter. Oder WIE Vater und Mutter? Oder doch ein Onkel, weil man Vatersein nicht erben kann? Aber wie hat ER sich gesehen?

"Nelli?"
"Hm?"
"Worüber hast du grade nachgedacht?"
"Hm? ... Ach so. ... War ich grade schon wieder weggetreten?"
"Nein, diesmal nicht. Aber du hast sehr lange geschwiegen und sehr viel gefühlt. Ich konnte das nur nicht deuten."
"Ach so."

Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie O... Harry sich in der Anfangszeit gefühlt haben muss. Bei der Menge an Anforderungen, an Überforderungen - wann hatte er denn mal Zeit, Ruhe und die Kraft, sich seiner eigenen Trauer hinzugeben? Zu verarbeiten, dass das traumatische Verlusterlebnis sich wiederholt hatte?
Zudem hat er sich ja wohl schuldig gefühlt an der Katastrophe. Wie trauert man, wenn man glaubt, den Verlust selbst verschuldet zu haben? Hat er sich überhaupt erlaubt zu trauern?

"Nelli?"
So-Ra legt ihren Arm um meine Schulter.
"Denk doch bitte mal laut."
Ich lege meinen Kopf auf ihre Schulter und entspanne mich etwas.
"Ich glaube ... - Ich werde nie wissen, wie es sich anfühlt, mit Mutter und Vater und vielleicht Geschwistern aufzuwachsen. Ich hatte den besten Onkel der Welt. Aber er war eben nicht Vater sondern Onkel. Und ganz entsetzlich überfordert."
"War er für dich nicht wie ein Vater? Und ein guter Vater wohl bemerkt!"
"Das weiß ich nicht. Ich habe ja keinen Vergleich."
Mit gestotterten Worten versuche ich, ihr den Unterschied zu erklären, den ich doch selbst nicht kenne.

"Und außerdem hatte auch ich Schuldgefühle. Jetzt im Nachhinein wirkt es auf mich so, als wären wir äußerlich wie Vater und Tochter gewesen - und innerlich beide furchtbar allein und einsam und jeder auf sich gestellt, weil wir einander nicht belasten wollten. Irgendwie so ... ohne Berührungspunkte. Da waren zu viele Ängste und Geheimnisse und Scham im Weg. Wie eine unsichtbare Mauer. Wir haben uns bis an die Grenzen der Entfremdung gegenseitig in Watte gepackt. Oder so. ... Ach, ich kapier's ja selbst nicht!"

Sanft zieht mir So-Ra das Blatt aus der Hand und legt es zurück in die Mappe.
"Na, komm. Für heute ist es wirklich genug. Wir gehen spazieren. Das bringt den festgefahrenen Geist wieder in Bewegung."
Schweigend spazieren wir durch den eisigen Park am Schloss, während allmählich die Dämmerung hereinbricht. Am Schluss müssen wir uns beeilen, vor Toresschluss nach draußen zu kommen. Aber dieser tüchtige Marsch tut wirklich gut.

Bald darauf schließe ich die Wohnungstür auf und freue mich über die wohlige Wärme.
"Du? Können ... Können wir versuchen, eine Seite zu finden, auf der Harry selbst über das Vater-Onkel-Ding nachgedacht hat?"
So-Ra schnappt nach Luft.
"Du willst noch eine ..."
Sie wirkt richtig erschrocken.
"Naja, immerhin war er erwachsen. Und er war ein reflektierter Mensch. Er wird doch nicht immer so hilflos gewesen sein."
"Ich kann aber ja die Überschriften nicht verstehen. Das ist alles auf Deutsch."

"Dann ... schau du dir doch die Bilder an. Und frag mich nach den Titeln zu den Nummern, wenn du was entdeckt hast."
"Okay? Wenn du meinst ..."
Ihr Blick zu mir ist unsicher und zweifelnd, aber für mich fühlt es sich richtig an.

Mit der nächsten Tasse Tee kuscheln wir uns vor den Kamin. Ich schließe bewusst die Augen, während So-Ra die Bilder durchblättert. Ich will nicht von ihrem Gesicht beeinflusst werden. Ich höre es rascheln.
"Ui. Das ist schön! Was steht denn bei der Nummer siebzehn?"
Neugierig greife ich nach der Liste und übersetze.
"Vater, Mutter, Onkel, Nichte, Kind."
"Das passt doch. Wir lassen uns Zeit. Aber die beiden Bilder sind wirklich toll."
Meine Beste zieht ein großes Blatt aus dem Stapel und legt es aufgeklappt vor mir auf den Tisch.

Augenblicklich schmelze ich dahin. Beide Szenen atmen ganz viel Atmosphäre, ganz viel Nähe und Liebe. Also trügen mich meine Erinnerungen doch nicht. Unser Verhältnis war warm und weich und geborgen. Jedenfalls sehen diese kleinen Gemälde so aus. Also muss auch er das so empfunden haben.
"Wie schön! Einfach irre, wie gut Harry die vertraute Stimmung einfangen konnte. Ich erinnere mich, dass er beim Haare kämmen immer ganz vorsichtig war, weil er mich nicht ziepen wollte. Ich habe dabei in Bilderbüchern geblättert. Oder wir haben erzählt. Oder gesungen."
"Ich finde vor allem das zweite Bild toll. Ich wüsste ja zu gerne, ob er nach einem Foto gearbeitet oder euch aus dem Gedächtnis so dargestellt hat."

So-Ra legt ein eng beschriebenes Blatt Papier neben die Bilder.
"Magst du es lesen?"
"Na klar."
Ich greife nach dem Blatt und fange an zu übersetzen.

"Liebe Jutta!

Heute war ein trubeliger Tag. Ich habe meinen ersten Kindergeburtstag "überlebt". Unsere, Eure Cornelia ist jetzt vier Jahre alt. Ich hatte Angst, dass ich eines Eurer zahlreichen Rituale falsch mache oder vergesse. Also habe ich sie gefragt, was ihr am Wichtigsten ist, und das hat dann auch gut geklappt. Den Kuchen habe ich allerdings beim Konditor bestellt.

Heute morgen habe ich sie mit Eurem Geburtstagslied geweckt. Es schien ihr nichts auszumachen, während es mich fast in Stücke riss, dass ICH gesungen habe. Und nicht ihr, oder wir. Cornelia durfte gleich ein Geschenk auspacken und hat sich für ein Bilderbuch entschieden. Das hat sie sich dann angesehen, während ich ihr die Haare gekämmt und in zwei Zöpfe gebunden habe. Das machen wir jeden Morgen so, seit sie von Familie Woo endgültig hierher gezogen ist.

Nach dem Frühstück hat sie die anderen Geschenke ausgepackt und damit gespielt. Gut, dass heute Samstag ist. So hatten wir viel Zeit. Leider hat es ziemlich geregnet. Also haben wir im Saal ein bisschen Möbel gerückt und die Party nach drinnen verlegt.

Kurz, bevor ihre drei Freundinnen kamen, wurde Cornelia ganz kribbelig. Also haben wir ein bisschen getobt, um sie abzulenken.
Das Fest war seeeeeeehr turbulent. Was vier Kinderköpfe sich alles einfallen lassen! Ich bin kaum hinterher gekommen. Aber die Kinder hatten glaube ich ihren Spaß. Jetzt schläft Cornelia endlich.

Ein Hoch auf alle Mütter dieser Welt! Ihr seid unersetzlich. Den Alltag habe ich inzwischen ja einigermaßen im Griff, aber an Tagen wie diesen weiß ich wieder zu schätzen, was unsere Mutter für uns alles getan hat. Das werde ich nie ersetzen können."

Ich wende das Blatt.

Harry hat richtig viel geschrieben. Und was er schreibt, berührt mich zutiefst.

"In manchen Situationen werde ich wohl immer der hilflose Onkel bleiben. Dich als Mutter kann ich sowieso nicht ersetzen. Aber bei aller Verantwortung, Pflichtgefühl, bei aller Liebe - auch die Vorstellung, dass ich jetzt der Vater für ein Kind sein soll, ist mir sehr fremd. Vielleicht gewöhne ich mich ja noch daran.
Vielleicht wird Cornelia auch von selbst auf die Idee kommen, mich Papa zu nennen, wenn die Erinnerungen erstmal verblassen. Eigentlich möchte ich, dass Ihr für sie noch lange und lebhaft als ihre liebevollen Eltern im Gedächtnis bleibt.

Ja, ich denke, mir ist lieber, wenn Ihr die Eltern bleibt - und ich Onkel bleibe. Das ist ehrlicher. Und wenn Cornelia dann erwachsen ist, soll sie Harry sagen, wenn ihr das lieber ist. Im Moment fühlt es sich jedenfalls so an, dass sie mir vertraut - ohne Verwandtschafstsgrade und Hintergedanken. Ich bin einfach da, und sie fühlt sich wohl.

Jetzt bin ich müde-froh. Ich scheine eine ganze Menge richtig zu machen. Sonst würde es Cornelia hier nicht so gut gehen.
Wir vermissen Euch trotzdem jeden Tag. Ich vermisse Dich!"

.................

So-Ra hatte bei diesen Bildern den richtigen Riecher. Etwa zwei Monate nach Mamas und Papas Tod hatten wir beiden wohl endlich so weit Boden unter die Füße bekommen, dass er anfangen durfte, über die Trauer und Überforderung hinaus weiterzudenken. Er konnte nun unsere Situation von außen betrachten, sich selbst reflektieren, seine Wünsche spüren und langfristig denken.
"Das klingt so schön! Er hat die Herausforderung angenommen und sich mutig auf den Weg gemacht. ... Ich bin richtig ein bisschen stolz auf Harry."
"Das kannst du auch, Süße. Was ihr in diesen Jahren erlebt und ertragen habt, war grausam und unerbittlich. Aber dein Onkel hat damals den richtigen Weg eingeschlagen, und ihr habt ein Ziel nach dem anderen miteinander erreicht. ... Ich freu mich so für Dich!"

Meine Gedanken wandern zurück zu meiner Kindheit. Immer mehr Situationen fallen mir ein, in denen sich Harry ganz auf mich eingestellt und mit mir unsere kleinen Alltagsrituale entwickelt hat.
Das Wecken am Morgen, das Frühstück, die Spiele und Lieder, der Abendablauf. Feste und Urlaube, lernen, toben und ausruhen.
So-Ra stellt mir eine dicke Suppe vor die Nase. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass sie aufgestanden und zum Kochen gegangen ist. Ich muss also wohl wieder eine Weile in Gedanken gewesen sein. Aber all die schönen Erinnerungen haben sich nicht wie die Flashbacks und Zeitreisen angefühlt. Diese Erinnerungen sind ... sanfter. Und freundlicher.
Wie erleichternd!

Nach dem Abendessen gehen wir sofort ins Bett. Der Jetlag ... Wir löschen das Licht und flüstern ein "schlaf gut!" Mit der kostbaren Bildermappe im Arm schlafe ich ein.

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30.5.2023    -    26.3.2024

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