60 - Warten

Die nächste Nacht wird wie die letzte. Wir sind diesmal in meiner Wohnung, wir lassen wieder ein Licht an, ich wandere innerlich und äußerlich ruhelos durch Raum und Zeit. Irgendwann lande ich - im Schlafanzug, ohne Decke - auf dem Balkon. Ich friere zwar erbärmlich, aber das hält mich wenigstens in meinem Körper von heute und verhindert den nächsten Switch. Bis Namjoon mich sucht und schimpfend wieder ins Bett scheucht.

Dafür schlafe ich gegen Morgen endlich richtig fest und erhalte erst gegen Mittag Berichte, was die anderen in der Zwischenzeit erreicht haben.
So-Ra hat meine Krankmeldung abgegeben und vom Chef eine klare Ansage bekommen. Eine von uns beiden muss da sein, bis die Folgen des Taifuns abgearbeitet sind. Ein paar Kollegen greifen sich solidarisch einige Akten von meinem Schreibtisch, während So-Ra versucht, ihre eigenen Stapel in Rekordzeit wegzuschaffen. Aber nach Berlin können wir trotzdem frühestens nächste Woche und auch nur für ein paar Tage.

Namjoon erreicht für seinen Tankstellen-Chef den Durchbruch. Die Versicherung zahlt, staatliche Überbrückungshilfe wird zugesagt - die Tanke kann wieder aufgebaut werden.
So-Ras Vater wendet sich an den Familienanwalt, schildert den Stand der Lage und fragt nach weiteren persönlichen Unterlagen. Hier in Seoul gibt es nichts mehr, aber die Kanzlei wird sich noch heute mit Berlin in Verbindung setzen. Später wird er benachrichtigt, dass es dort tatsächlich eine weitere Verschlusssache für mich gibt, und gefragt, wie damit verfahren werden soll.

Damit Namjoon in den nächsten Wochen intensiv für die Stiftungsgründung powern kann und ich trotzdem nicht alleine bin, packen wir in der Wohnung alles Nötige für ein paar Tage ein. Ich ziehe vorläufig in die Pförtnerei, wo immer jemand für mich da sein kann. Wenn Namjoon in der Villa zu tun hat oder unterwegs ist, halten sich Yoongi oder Hoseok bereit. Die anderen vier Jungs kümmern sich vor allem um ihre eigene Psyche, ihre Stabilität und ihre Jobs.
Damit ich nicht völlig durchdrehe, stürze ich mich ins Internet und stelle passende, klassische Advents- und Weihnachtsdeko zusammen, die möglichst robust und wenig stromlastig ist.

Sehr viele Gedanken verwendet Namjoon auf eine Mail an die Gründungsmitglieder und das Aufbauteam der Stiftung. Alle müssen informiert werden, dass ich aus gesundheitlichen Gründen auf unbestimmte Zeit deutlich in den Hintergrund treten muss. Die bisherigen Mitstreiter kennen Namjoon inzwischen als höflichen, aufmerksamen, zuverlässigen und kompetenten Menschen. Anders ist es mit den Geschäftsleuten und Firmen, die sich aufgrund der breit gestreuten Werbung melden als Sponsoren oder Mitstreiter. Die landen nun nicht mehr als erstes bei mir sondern bei den Leuten im Team oder direkt bei Namjoon. Dank sehr enger Zusammenarbeit gelingt es jedoch bei den meisten Interessenten, das Misstrauen gegenüber Namjoon abzubauen und sie ins Boot zu holen. Der Andrang der Neugierigen auf die Gala ist tatsächlich beeindruckend.

Das Marketing hat eine Infomappe für Interessenten und Begrüßungsunterlagen für die Entschlossenen zusammengestellt. Es soll jetzt einmal in der Woche ein großes Meeting geben, damit alle kurzen Draht halten, Neuigkeiten schnell bei allen landen, Fragen geklärt werden, neue Mitglieder integriert werden und allgemein die Atmosphäre der Einrichtung geschnuppert werden kann.
Am Dienstag Nachmittag findet der nächste Termin statt. Meine lieben Freunde versuchen, mich davon abzuhalten, aber ich bestehe darauf, dass ich dabei bin. Die Verantwortung liegt bei Namjoon, aber ich möchte Unruhe und Gerüchten entgegensteuern. Und ich möchte schlicht abgelenkt und beschäftigt werden, so lange So-Ra für mich die Quadratur des Kreises versucht. Joon ist der einzige, der das sofort versteht und mich gewähren lässt unter der Bedingung, dass er die Reißleine ziehen darf.

Als ich grade aus der Haustüre trete, um rüber zum Meeting zu gehen, fallen die allerersten Schneeflocken dieses Jahres vom Himmel. Ich halte meine Hand hoch und versuche, ein paar der feinen Kristalle zu fangen, aber meine Hände sind so warm, dass die Flocken sich alle sehr schnell in winzige Wassertröpfchen auf meiner Haut verwandeln. Mit etwas leichterem Schritt laufe ich zur Villa. In den großen Spiegel in der Garderobe schaue ich bewusst nicht hinein. Es reicht mir, Schmerz und Erschöpfung innen drin zu fühlen. Ich muss das nicht auch noch von außen sehen.

Heute sind wieder mehrere neue Gesichter dabei. Diese Gäste wollen natürlich gerne bei mir andocken, aber Namjoon ist sofort an meiner Seite. Da wir ein harmonisierendes Team sind, ist das im Grunde die beste Konstellation, um eine vertrauensvolle Basis zu schaffen.
Zu meiner großen Freude haben sich auch So-Ras Eltern entschieden, Gründungsmitglieder sein und sich ehrenamtlich engagieren zu wollen. Auch sie passen heute gut auf mich auf. Und da manche ältere Geschäftsleute sie noch im Zusammenhang mit Onkel Harry erinnern, lockert allein ihre Anwesenheit die Stimmung weiter auf.

Einen kleinen Moment scheint Namjoon sehr verunsichert, als einer der fremden Männer auf uns zusteuert. Er trägt einen einfachen Anzug und wirkt, als sei das nicht seine normale Alltagskleidung. Seinen kräftigen Händen nach zu urteilen, dürfte er eher als Handwerker beschäftigt sein. Für einen sirrenden Augenblick sehen sie sich stumm in die Augen. In beiden Gesichtern arbeiten trotz Bemühen um Pokerface sichtbar die Gefühle. Ich habe keine Ahnung, was vor sich geht, und will schon in die Bresche springen, als der Neuankömmling zu lächeln beginnt.

"Herzlichen Glückwunsch, Bruderherz. Du kannst dir nicht vorstellen, wie stolz und glücklich ich bin, dass du die Kurve gekriegt hast und deine Chance nutzt. Ich bin hier als heimlicher Spion meiner Firma und soll erstmal die Seriosität der Stiftung prüfen. Aber ich bin sicher, ich werde nur Gutes zu berichten haben. Egal, wen ich in den letzten Wochen über das Projekt habe reden hören - alle sind sehr angetan von der Fülle an neuen Ideen und diesem interessanten Denkansatz. Ihr seid tatsächlich Stadtgespräch."

Jetzt kann ich auch eine gewisse Ähnlichkeit erkennen. Namjoon atmet hörbar aus und entspannt sich.
"Danke! Ein größeres Geschenk kannst du mir kaum machen. Schön, dass du da bist. Allerdings gebe ich die Blumen gleich weiter an die Frau, der ich das alles verdanke."
Warm fällt sein Blick auf mich.
"Das ist Cho Sarang Namja Cornelia, die Gründerin des Projektes, meine Retterin - und meine wundervolle Freundin. Nelli? Das ist mein ältester Bruder Kim Yeon-Jun. Er hat im Juli auch den Jungs bei meinem Umzug geholfen."

Ich jubele innerlich und reagiere sofort.
Ein Familienmitglied von Joon, das ihn nicht aufgegeben hat - das ist wunderbar.
"Dann freue ich mich ganz besonders, Sie kennen lernen zu dürfen. Ein Bruder, der zu Namjoon steht und ihm den Rücken stärkt, ist hier immer willkommen. Und es ist Blödsinn, dass er das ALLES NUR mir verdankt. Ich bin so dankbar, dass Namjoon hier mitarbeitet, weil er alles Nötige mitbringt und ein wundervoller Mensch ist."
Joon schüttelt schmunzelnd den Kopf.
"Für Nelli kann ich kein Wässerchen trüben, aber ein Heiliger bin ich noch lange nicht. Was hat dein Chef denn im Sinn?"

"Ein Teil eurer Werbekampagne besteht ja darin, Firmen anzuwerben, die nach dem Vorbild dieser Fahrradwerkstatt mit pädagogischer Betreuung Problemfälle ausbilden können. Ich arbeite bei einem Autohändler als ausbildender Meister in der Werkstatt und soll herausfinden, ob es dafür staatliche Zuschüsse gibt, wer den Sozialpädagogen finanziert, sowas alles. Im Endeffekt geht es ihm wahrscheinlich um ein glänzendes Sternchen im Firmenlogo für möglichst keine zusätzlichen Kosten. Das funktioniert natürlich nicht so einfach, aber ich bin froh, dass er mich für diese Mission rausgepickt hat."
"Ich auch, glaub mir. Ganz herzlich willkommen in unserer verrückten Bubble. Hier bist du Mensch, hier darfst du sein."
Die Brüder grinsen sich an und nehmen sich kurz in die Arme. Ich möchte tanzen.

Der offizielle Teil wird zügig erledigt, Absprachen werden getroffen, Fragen werden beantwortet. So wird zum Beispiel Yoongi vorgestellt und kann seine Ansätze für Seminare und Fortbildungen, Beratungsstelle, Supervision und Einzelfallhilfe darstellen.
Eine Sekretärin und eine Buchhalterin wurden gefunden und sind anwesend. Sie werden ab sofort in Teilzeit das eine Büro im Dachgeschoss bevölkern. Sie skizzieren heute ihre zukünftigen Aufgabenbereiche.
Jin wirbt still für sich, indem er wie zu allen offiziellen Gelegenheiten die passende Verpflegung vorbereitet hat.

Für Jimin ist der Termin eine besondere Herausforderung. Bei allen bisherigen Meetings konnte er sich hinter dem breiten Rücken seines Chefs verstecken, doch der ist heute verhindert. Also muss er selbst ran. Er hat seinen Hund Hyebit neben seinem Stuhl liegen und sieht während seines Vortrags ab und zu in dessen Richtung. Er beginnt, die ersten Pläne für den größeren, hinteren Teil des Parks zu erläutern. Wald, Teich und Obstwiese sollen ja erhalten bleiben. Zusätzlich sollen ein Festplatz, eine Grillanlage, Pavillons und Spazierwege, weiter oben ein koreanischer Meditationsgarten und andere Einrichtungen für unterschiedlichste Nutzung neu entstehen. Am Anfang seines Vortrags schlottern ihm sichtlich die Knie. Aber es ist wie meistens - er ist in seinem Metier, vergisst das Publikum und schwimmt sich frei.

Einige der neuen Gäste sind nun überzeugt und sagen fest ihre Unterstützung zu. Namjoon nutzt wie immer die Gelegenheit, sich den Fragen zu seiner Person zu stellen, mit ganz offenen Karten zu spielen und in aller Bescheidenheit um Vertrauen zu werben. Wenn ich ihm dabei still zusehe, bin ich immer sehr stolz auf ihn. Heute strahle ich dabei mit seinem Bruder um die Wette.
Er ist wie geschaffen für diese Position, wirkt so souverän, sicher und aufmerksam. Inzwischen fällt es ihm auch nicht mehr schwer, so offen zu sein, weil er schon viele positive Reaktionen bekommen hat.

Anschließend plündern die meisten mit Begeisterung Jins Häppchenbuffet, während Namjoon, Yoongi, Herr Lee und ich die neueren Gäste durchs Haus führen. 
Auf der untersten Stufe der Treppe zum ersten Stock mache ich plötzlich eine Vollbremsung. Mir ist schwindelig, ich muss mich am Geländer festhalten. Ich reiße voller Angst die Augen auf, damit ich nicht switche. So-Ras Mutter ist direkt hinter mir und schaltet sofort. Sie legt ihren Arm um meine Taille, flüstert kurz mit ihrem Mann und lotst mich dann auf dem direkten Weg zur Garderobe, aus dem Portal, rüber zur Pförtnerei. Am Rande registriere ich, dass es aufgehört hat zu schneien.

"Ich freue mich, dass du so lange durchgehalten hast, Nelli. Aber ich denke, für heute ist es genug. Oder? Namjoon ist schon informiert, und er regelt das so großartig, dass du jetzt in aller Ruhe Feierabend machen kannst."
Ich nicke bloß. Ich spüre auf einmal, wie müde ich bin. Ich habe ja nicht viel gemacht heute Nachmittag, aber dass ich kaum alleine laufen kann, spricht Bände. Erschöpft schleiche ich ins Bad, putze mir die Zähne und falle ins Bett.

Meine zweite Mama setzt sich neben mich und lächelt mich freundlich an.
"Jetzt hätte ich dir fast ein Schlaflied gesungen. Wie früher."
Mir wird ganz warm vor lauter Geborgenheit.
"Warum nicht? Welches Lied habe ich denn am liebsten gehabt als Kind?"
Sie zögert einen Moment und spricht dann seltsam vorsichtig.
"Unterschiedlich. Harry hat natürlich deutsche Schlaflieder gesungen. Die kann ich aber nicht. Bei uns waren es koreanische Lieder. Ganz besonders mochtest du das hier."
Sanft und leise schwebt ein ruhiges Kinderlied durch den Raum. Ich erinnere mich sofort, seufze wohlig und kuschele mich tiefer in die Kissen.

Als die letzten Töne verklingen, ist es ganz still im Raum. Plötzlich habe ich noch eine Frage.
"Und was haben Mami und Pappi für mich gesungen?"
Wieder dieses seltsame Zögern, schließlich eine ehrliche Antwort.
"Es gab ein Lied, das durfte nur deine Mutter singen. ... Ich weiß ungefähr, wie es heißt. Aber ... ich habe ein bisschen Angst, dass es dich triggert. Verstehst du?"
Schade! Aber sie hat wahrscheinlich recht.
"Ist es okay, wenn ich dir das ein andermal sage, wenn du wach und stabil bist?"
Ich klinge wahrscheinlich enttäuscht, als ich antworte.
"Du hast sicher recht damit."

Schnell reiße ich mich zusammen.
"Seltsam. Wie lange ich solche Fragen nicht gestellt habe. Aber jetzt fallen mir wieder einige ein. Es ist ... als ob ... ich ... möchte meine Eltern kennen lernen. Vielleicht lenkt das meine Gedanken und Erinnerungen mehr ins Positive. Was meinst du?"
"Sehr, sehr gerne. So, wie du es verkraften kannst. Ich freue mich, wenn ich dir das erzählen darf. Aber jetzt schlaf."
Ich kriege noch mit, wie Namjoon nach Hause kommt und die beiden flüstern. Aber das sanfte Lied, mit mütterlicher Liebe gesungen, hat seine Wirkung nicht verfehlt. In dieser Nacht schlafe ich tief und traumlos.

Ich schlafe aus, Namjoon arbeitet viel, So-Ra hat diesmal sogar die Nacht im Büro verbracht, damit sie nicht ihre kostbare Zeit in irgendwelchen U-Bahnen verschwenden muss. Aber sie kommt wohl gut vorwärts.
Der Mittwoch besteht wieder aus Warten und Hoffen. Ich lungere in der Pförtnerei rum oder spaziere durch den Park. Die Ungewissheit, wann und wo es für mich weitergeht, ist allerdings schwer auszuhalten.
Krankschreibung her oder hin - es sollte wenigstens irgendwie weitergehen!
Aber meine Adventsbestellungen lenken mich allmählich ab. Da heute einiges davon eintrudelt, schmücke ich zusammen mit Jimin die Pförtnerei, die Villa und den Park.

Donnerstag früh fährt Namjoon mich zu So-Ras Eltern, denn er wird heute den ganzen Tag durch die Stadt sausen und mehrere Antrittsbesuche bei Interessenten für Sponsoring machen. Am Abend wird es dann eine Informationsveranstaltung in Guks Zweiradladen geben. Sieben ganz unterschiedliche Handwerksbetriebe aus dem gesamten Stadtgebiet wollen sich zu dem sozialpädagogischen Ausbildungskonzept intensiver beraten lassen. Auch Hoseok und seine Mitstreiter von der Tanzschule sowie Yoongi und seine zwei noch arbeitslosen Kollegen werden dabei sein. Netzwerken ist wie immer das Ziel.

Spannend wird es insofern, als auch die Bank vertreten sein wird, über die der Laden seine Geschäfte abwickelt. Sie wurde eingeladen, weil sie mit dem Konzept vertraut ist und darum über mögliche Finanzierungsmodelle informieren kann. Für Namjoon wird es eine Herausforderung - denn ihm gegenüber wird ein Mann sitzen, der einmal sein Kollege war.

Ich dagegen werde den ganzen Tag lang nach Strich und Faden verwöhnt, beschäftigt und geliebt. Ich erlebe tatsächlich zum allerersten Mal, wie wunderbar es ist, wenn man als erwachsenes "Kind" zu Besuch "nach Hause" kommt. Es ist herrlich, unbeschwert und liebevoll. Ich tue und bekomme einfach das, was So-Ra tut, wenn sie ihre Eltern besucht. Wir sitzen am Mittagstisch und ratschen. Ich stehe mit in der Küche und räume die Spülmaschine ein. Ich kuschele mich mit einem interessanten Buch in einen gemütlichen Sessel am Kamin. Ich halte ein erholsames Mittagsschläfchen.

Bei Kaffee und heißen Hotteoks mit einer verführerischen Zimtnussfüllung rutscht mir spontan eine Frage raus.
"Boah, ist das lecker! Hab ich die früher auch schon so gerne gegessen?"
Am kurzen Zögern kann ich inzwischen automatisch erkennen, dass ich mich grade wieder auf gefährliches Terrain begebe.
"Ja, wie irre. Wenn es irgendwo Hotteoks gab, hast du gegessen bis kurz vorm Platzen."
"Und welche Füllung mochte ich am liebsten?"
"... Die Walnuss-Apfel-Zimtfüllung, die deine Mutter immer gemacht hat. Die mochte jeder."
Mir schwebt ein Bild vor Augen.
Eine gemütliche, aber etwas veraltete Küche. Ich sitze als Kind am Tisch und futtere, während ... eine Frau ... meine ... Mami am Herd steht und weitere ...

Ich spüre, dass ich grade von zwei Augenpaaren genau beobachtet werde. Eine zweite Frage formt sich in meinem Kopf. Oder Herzen. Ich weiß es nicht so genau.
"Wisst ihr, was echt verrückt ist? Ich war hier bei euch immer wie zu Hause, ich bin in der Villa aufgewachsen. Ich kann mich an die Schulen erinnern, in die ich gegangen bin. Aber ich habe keine Ahnung, wo meine Familie vor dem Unfall gewohnt hat. Wieso war ich zusammen mit So-Ra in einem Kindergarten? Und in der Schule? Die Villa ist doch von hier ganz weit weg. Wie habt ihr meine Eltern kennen gelernt? Wo ... habe ich ... als kleines Kind gewohnt?"

Ein kurzer, intensiver Blickwechsel, ein leises Nicken. Dann eine entschlossene Antwort.
"Deine Mutter und ich sind mit euch beiden in dieselbe Babyspielgruppe gegangen. Unsere Männer haben festgestellt, dass sie in derselben Firma arbeiten, und dass wir auch Harry eigentlich schon kannten. Alles andere kam dann völlig automatisch, weil ihr beiden Mädels sofort aufeinander geflogen seid."
Ich muss schmunzeln. Das kommt mir ja durchaus bekannt vor, auch wenn es so lange her ist. Aber vor allem die Erinnerungen an das feste Band, das So-Ra und mich von Anfang an verbunden hat, sind zum Teil echt witzig. Unsere Freundschaft hat schon früh die seltsamsten Kinderphantasieblüten getrieben.

"Und dass wir beide in dieser Babygruppe waren, lag daran, dass wir so nah beieinander wohnten."
Ein forschender Blick trifft mich. Ich habe keine Erinnerung an das Haus, aber jetzt erfasst mich kribbelige Unruhe.
"Dein Elternhaus ist nur ein paar hundert Meter von hier entfernt, um die Ecke. Und ganz hinten stoßen die Gärten aneinander. Wir haben damals ein Tor dort eingebaut, weil wir euch dann alleine loslaufen lassen konnten."

Tiefes Schweigen füllt den Raum. Ich halte den Atem an.
Kann ich ... Will ich ... Soll ich danach fragen? Und wenn ich es nicht aushalte?
"Du hattest gesagt, dass Onkel Harry das Haus verkauft hat damals. Kann man ... Könnt ihr mir ... das Haus zeigen?"
Unsicher schaue ich in die zwei angespannten Gesichter. Dann nicken beide.
"Komm, lass uns losgehen, so lange es draußen noch hell ist."
Wir decken gemeinsam den Tisch ab und packen uns dann winterlich warm ein.

Wir spazieren durch das Viertel mit den vielen kleinen freistehenden Häuschen und gepflegten Gärten, die jetzt alle im Winterschlaf liegen. Ich genieße die frische kalte Luft in den wenig befahrenen Seitenstraßen. Es ist ein schöner, ruhiger und freundlich wirkender Winkel abseits der großen Durchgangsstraßen. Und sicher ein Paradies für Kinder.
Ich bin aufgeregt. Ich erkenne hier nichts wieder.
Mit Sicherheit haben sich die Häuser und Grundstücke seit damals ziemlich verändert - hier eine modernere Haustür, dort ein anderer Gartenzaun. 

Trotzdem zieht es mich in eine bestimmte Straße. Ich bleibe vor einem über und über mit Efeu bewachsenen Haus stehen, das von alten Bäumen umringt ist. Im Garten hinten kann ich ein Klettergerüst sehen. Das Haus scheint bewohnt, vor der Garage steht ein modernes Auto, aber es ist nirgends jemand zu sehen. Mein Herz schlägt lauter, ich bringe kein Wort über die Lippen.
Meine beiden Begleiter legen ihre Arme um mich.
"Hast du es erkannt, oder hast du es nur geahnt?"
Mein Flüstern klingt ganz heiser, und mein Mund ist trocken.
"Ist es das? Ist das mein Elternhaus?"
"Ja, Nelli. Hier hast du über drei Jahre mit deinen Eltern gewohnt."

"Wer wohnt jetzt dort? Wer hat das Haus damals gekauft?"
"Wir ... haben es gekauft. Wir fanden Harrys Entscheidung zum Verkauf damals sehr übereilt. Und uns gefiel auch der Gedanke, dass ihr beide später vielleicht mal Familien gründet und dann auch so nah beieinander wohnen könnt. Das Haus ist seitdem vermietet. Wir können da also nicht so ohne Weiteres rein."
Ich lausche in mich hinein.
Will ich das überhaupt? Ich freue mich, das jetzt mal gesehen zu haben. Aber wenn ich so gar keine Erinnerungen oder Gefühle damit verbinde ... dann ist das vielleicht auch gar nicht nötig. Ich habe da nie bewusst einen Bogen drumrum gemacht - wie um die Villa. 

"Ich glaube, das brauche ich auch gar nicht. Hier ist ja nichts von uns. Mein Zuhause war die Villa, so lange ich zurückdenken kann."
"Dann lass uns nach Hause gehen. Es wird allmählich dunkel."
Wir schlendern weiter, den kürzeren Weg ums Eck.
Es ist wirklich nah. Kein Wunder, dass sich unsere Mütter so schnell gefunden haben!
Nach einem leichten Abendessen spüre ich meine Müdigkeit. Es war ein gemütlicher Tag, aber dennoch fühle ich mich schlagskaputt und gehe bald ins Bett.

Wie bei einem ängstlichen Kind sitzt So-Ras Mutter an meiner Bettkante und flüstert mich mit beruhigenden Worten in den Schlaf.
Heute habe ich wieder viel gefühlt und gelernt, aber es war nichts dabei, was mir Angst gemacht hätte, da bin ich echt froh.
Schnell und entspannt dämmere ich weg.

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26.4.2023    -    26.3.2024

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