58 - 1000 Fragen
Namjoon hockt sich zu mir aufs Bett. Yoongi setzt sich auf den einzigen Stuhl und wartet ab. Plötzlich redet er, völlig aus dem Zusammenhang, leise, fast schüchtern.
"Was bin ich froh, dass ich Namjoon hierher gebracht habe. Ihr tut euch so gut - ich habe so eine Freude, euch zuzusehen. Das macht richtig Mut."
Genauso plötzlich schaltet Yoongi zurück und setzt sich grader hin.
"Was kann ich für dich tun, Nelli?"
"Najaaa ... ich hab das nicht alles verstanden."
"Zum Beispiel?"
"Zum Beispiel: was ist da draußen im Sandkasten passiert?
Oder: offensichtlich habe ich mich für den Tod meiner Eltern verantwortlich gefühlt. Und tue es jetzt übrigens schon wieder. Hat das damals keiner gemerkt? Habe ich psychologische Hilfe bekommen? War ich wirklich verantwortlich? Wie soll ich damit leben? Warum habe ich bis zu diesem Traum absolut nichts davon gewusst?
Oder: Onkel Harry hat sich auch verantwortlich gefühlt? Warum habe ich das nicht gemerkt? Oder gewusst? Hat er mich groß gezogen aus schlechtem Gewissen? Oder als Ersatz für seine Schwester? Oder hat er mich wirklich so sehr geliebt? Warum hat er nie mit mir darüber geredet? Auch in seinen Briefen keinen Hinweis darauf hinterlassen? Hab ich vielleicht irgendwas nicht gefunden? Noch einen Brief? Noch ein Tagebuch? Irgendeinen Hinweis?
Oder: ..."
Yoongi bremst mich.
"Bitte halt an, Nelli. So viele Fragen auf einmal, die alle miteinand..."
"Ich möchte sie aber alle auf einmal aussprechen. Sonst platzt mir der Schädel.
Also: das Spielzeugauto stand für das neue Auto meiner Eltern. Warum habe ich es kaputtgeschlagen? Warum habe ich es vergraben? Warum habe ich dabei geweint? Warum habe ich danach schlagartig alles vergessen? Warum hat DAS keiner bemerkt? Warum bin ich diesen Schritt erst vier Jahre später gegangen? Durch was wurde das ausgelöst? Warum hat So-Ra nie mit mir darüber geredet? Warum hat ihre Mutter das nie angesprochen? Warum hat Onkel Harry nie versucht, mit mir den Tod meiner Eltern aufzuarbeiten?
Und ganz wichtig: ist das entsetzliche Gefühl, das ich jetzt wegen des Todes meiner Eltern habe, dasselbe, das du gegenüber deinem Bruder fühlst, Yoongi?"
Nachdem ich ihn abgewürgt habe, hat Yoongi nicht mehr versucht, mich zu unterbrechen. Bei meiner letzten Frage zuckt er zusammen und senkt den Blick.
Ich selbst habe mir dabei zugehört, wie ich diese ganzen vielen Fragen runtergespult habe wie einen auswendig gelernten Text. Gleichzeitig ist innerlich schon wieder eine Welle von Schmerz und Scham über mich hereingebrochen. Jetzt fühle ich mich völlig leer gefragt und ausgelaugt. Ich sacke richtig in mir zusammen. Namjoon spürt das alles und greift nach meiner Hand.
Es dauert einen Moment, bis Yoongi antworten kann.
"Seit du in die Villa gekommen bist, mir so viel Geduld entgegen gebracht, mir zugehört und mit mir sortiert hast, weiß ich zumindest vom Kopf her, dass ich diese erdrückende Scham loslassen darf. Auch die vielen Gespräche mit meinen Eltern haben mich mir wieder näher gebracht. Ich weiß sehr genau, wie du dich jetzt fühlst. Nämlich entsetzlich elend.
Aaaaber: für dich gilt das selbe wie für mich. Nochmal und gerne immer wieder: du trägst keinerlei Schuld am Tod deiner Eltern!"
"Aber ich fühle mich so."
"Das weiß ich, und das verstehe ich. Bitte, Nelli - bitte nutze die Chance, dich gleich wieder von diesem Gefühl zu verabschieden, BEVOR es sich in deinem Herzen festsetzt. Mach es dir nicht schwerer, als es ist."
Richtig flehend klingt seine Stimme, was mich doch berührt und im Innern erreicht.
"Die meisten anderen Fragen kann ich dir leider nicht beantworten, weil sie deinen Onkel oder andere nicht anwesende Personen betreffen. Einer Antwort bin ich mir allerdings seeeehr sicher: nach allem, was ich weiß, hat dein Onkel dich wirklich aufrichtig geliebt. Weder hat er dich verwöhnt, weil er versucht hat, etwas wieder gut zu machen, noch warst du Ersatz für deine Mutter. Er hat - über Nacht - eine große Verantwortung übernommen und diese mit Bravour gemeistert-. Schau doch, was für eine einzigartige Frau aus dir geworden ist! Alle anderen Antworten gilt es noch herauszufinden. Aber nicht mehr heute."
"Aber ..."
Ich fühle mich ganz klein.
"... ich hab Angst vor der Nacht. Vor der Dunkelheit. Wie soll ich denn jetzt schlafen?"
Yoongis Stimme klingt freundlich, aber bestimmt.
"Ich weiß, dass das schwer wird in den nächsten Tagen. Aber Namjoon wird bei dir sein. Heute Nacht. Morgen. So-Ra und ihre Mutter werden gemeinsam mit dir sicher einige Antworten finden. Bitte versuche zu schlafen jetzt."
Er steht auf.
"Na gut. ... Tschüß, Yoongi."
Von wegen 'tschüß, Yoongi'. Ich erzittere allein bei der Vorstellung, dass Namjoon gleich das Licht ausmacht. Ich muss weiterreden. Immer weiter. Bloß keine Dunkelheit!
Müdigkeit deckt jeden vernünftigen Gedanken zu und öffnet damit der Angst die Türen.
Noch einmal taucht das Bild von dem Kind im Sandkasten auf. Diesmal gräbt es. Daneben sitzen ... So-Ra und Namjoon. Aber irgendwas stimmt nicht. Die beiden sind nämlich nicht größer als das Kind. Die sind alle gleich groß! Ist das jetzt ein Kind oder eine Erwachsene? Oder ... ich heute als Erwachsene ... in der Gestalt des Kindes von damals?
Eine Gänsehaut lässt mich erschaudern.
Ich sollte damit nicht länger allein bleiben!
"Joonie?"
"Ja, meine liebe Nelli?"
"Ich ... hab das glaube ich noch gar nicht ausgesprochen. Ich war ... vorhin am Sandkasten war ich ... irgendwie in meinem Kinderkörper drin. Ich hab das gefühlt. Ganz aufgehört hat das eigentlich erst, als Yoongi den strengen Psychologen rausgekehrt hat. Und jetzt grade eben ..."
"Ach - deshalb! Weißt du - wir waren uns nicht sicher, ob du nicht zum Teil sogar ohnmächtig warst. Du warst so ... abwesend, als ob ... wir konnten das nicht mal benennen, obwohl wir dir doch beide so nahe waren."
Namjoon kuschelt mich an sich dran und hält mich im Arm.
"Aber ich habe dich unterbrochen. Entschuldige bitte."
"Wo war ich? Ah, ja. Jetzt grade eben habe ich nochmal diese Buddelsituation von außen gesehen. Da waren So-Ra, du und mein Kinder-Ich im grünen Kleid, aber in der Größe wie jetzt, wie das normale Erwachsenen-Ich. Das ist alles so gruselig!"
"Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Das muss echt Angst machen!"
Augenblicklich flutet mich eine Welle von unaussprechlichem Glück.
Wie froh bin ich, dass ich Namjoon bei mir habe!
"Danke, Joonie. Du verstehst mich immer. Du bist wundervoll!"
Er lächelt.
"Stets zu Diensten."
"Ich hab Angst vorm Dunklen. Dass sich all das Viele dieses Tages im Schlaf verselbständigt."
"Das versteh ich. Kopfkino ist ganz übel. Was macht dir denn am meisten Angst?"
Ich muss einen Augenblick nachdenken. Aber eigentlich ist es klar.
Vielleicht ist es ja das, was mich so die Dunkelheit und die Nacht fürchten lässt - dieser komische Körperswitch, dieses Springen durch die verschiedenen Zeiten.
"Ich glaube, vor allem schrecken mich diese Zeitsprünge. Schon beim ersten Mal habe ich Klein Nelli zugesehen, wie sie etwas verbuddelt. Und das war so verdammt real. Ich konnte von da aus ja sogar rekonstruieren, wo ich graben muss. Dann jetzt wieder ein Zeitsprung, mal hin und her, mal habe ich mich sogar gefühlt, als ob ich mich mit meinem Ich in beiden Realitäten gleichzeitig befunden hätte. Jetzt eben der Blick von außen war aber genau so unheimlich."
Namjoon hört mir konzentriert zu. Sicher merkt er auch, wie sehr mich das alles gruselt. Jedenfalls streichelt er mich mit seinen Händen und seinen Blicken, damit ich das alles aushalte.
"Und ich kann das überhaupt nicht steuern, beginnen oder beenden. Das heißt, dass es jederzeit unkontrolliert wieder kommen kann. Im Schlaf. In der U-Bahn. Am Steuer. Bei der Arbeit. Da können Bilder auftauchen von sonstwas. Heute wart ihr alle wundervoll für mich da. Aber was ist morgen? Oder nächste Woche? Und wird das jetzt immer so weitergehen? Das halte ich nicht lange durch."
Ich höre selbst, wie meine Stimme immer kläglicher wird. Ich spüre, wie mein Mut und meine Lebensfreude in mir drin immer schneller schrumpfen.
Namjoon überlegt.
"Das kann ich dir leider auch nicht sagen, Liebes. Aber ich bin froh, dass ich jetzt Bescheid weiß. Da sollten wir anderen sicher eine ganze Weile gut auf dich aufpassen.
Das Schräge ist, dass ihr beide euch gleichzeitig schuldig gefühlt habt - aber nie darüber gesprochen habt - du und dein Onkel. Zumindest kannst du dich nicht dran erinnern. Und auch jetzt. Du hast die Reste in der Villa und die Wohnung in Berlin dermaßen gründlich durchsucht - wo sollte da denn noch etwas sein, was dir mehr verrät, als du sowieso schon weißt? Dein Onkel war so ausführlich und empathisch im Festhalten von Erinnerungen, hat dir so viel Einblick gegeben. Ich hatte bislang nicht das Gefühl, dass du etwas übersehen hättest."
Berlin. Da habe ich das Tagebuch für mich, die Photoalben über mein Leben, den Brief an mich gefunden. Seinem Wesen nachgespürt, seine Freunde kennen gelernt. Aber um manche Ecken in der Wohnung habe ich einen großen Bogen gemacht. Aus gutem Grund! Diese zusätzlichen Informationen hätten mich im März schlicht überfordert und zerstört.
"Hm. Ich habe bei meinem ersten Besuch in Berlin, zur Beerdigung, durchaus nicht alle Türen und Schubladen aufgemacht, hätte mich wie ein Eindringling gefühlt, vielleicht überhaupt nicht verkraftet, was ich gefunden hätte. Ich stand doch sowieso noch unter Schock. Aber wer weiß. Ich kann ja bei der nächsten Reise dort in der Wohnung noch mal suchen."
Entgeistert starrt Namjoon mich an.
"Dein Ernst? Du brichst hier fast zusammen unter der grausamen Entdeckung und willst die einzige Möglichkeit, doch noch was rauszufinden, auf irgendwann verschieben? Du wirst dich krank schreiben lassen, dich ausführlich mit So-Ras Mutter unterhalten. Den Anwalt hier kontaktieren und ihm von deiner Erinnerung erzählen. Wer weiß - vielleicht ist ja hier oder in Berlin bei einem der Anwälte etwas hinterlegt. Du solltest jetzt jede Möglichkeit ausreizen."
"Krankschreibung - das kann ich verstehen. Aber ... Berlin? Ich sollte sicher nicht alleine reisen. Und einer von uns beiden muss nun wirklich hier bleiben!"
"Richtig. ..."
Namjoon lächelt spontan.
"Danke für dein Vertrauen! Mit deinem Rückenwind werde ich das hier alles schaffen, bis du wieder da bist.
Pass auf. So-Ra soll versuchen, ob sie Urlaub bekommt. Dann bist du nicht alleine. Sie kann endlich mit dir zusammen nach Berlin, und du zeigst ihr die Stadt im Winter. Und wenn ihr das schnell entscheidet, bist du zur Gründungsversammlung und der Gala wieder hier."
"Du hast echt'n Vogel. Wie soll das denn so schnell gehen?"
"Warts ab. Wir sollten jetzt wirklich schlafen. Morgen fahren wir ins Krankenhaus, dann bringe ich dich zu So-Ra. Den Rest plant ihr dann gemeinsam."
Keine Ahnung, was hier grade abgeht, aber mein Hirn fühlt sich bei dem Tempo an wie Wackelpudding, der von der Fliehkraft eines Teilchenbeschleunigers an die Seitenwände geklatscht wird. Das geht alles viiieeeeel zu schnell.
Namjoon schaut mir genau ins Gesicht.
"Und du wirst jetzt schlafen, der Tag war schon viel zu lang und voll."
Wo er recht hat ... Und ich hätte auf das meiste davon gerne verzichtet, wenn ich gefragt worden wäre.
"Weißt du was, Schatz? Wir drehen die Nachttischlampe weg, lassen sie aber an. Dann ist es nicht ganz dunkel. Würde dir das helfen?"
Ich muss gähnen. Urplötzlich reiße ich meinen Mund so weit auf, als wollte ich den Kiefer ausrenken.
"Zu Hilfe! Ist der Vorschlag so falsch, dass du mich zur Strafe auffressen willst?"
"Quatsch! Ich bin nur einfach fix und alle."
Ich gebe ihm einen Kuss, ziehe ihn zu mir runter und kuschele mich ein.
"Hm, ich würde gerne erst noch ins Bad gehen, mich umziehen und ein paar Lichter ausmachen."
"Naaaaa gut. Weil du's bist. Aaaaaber ..."
"... ich muss dich selbstverständlich mitschleppen ins Bad, weil auch du dich umziehen und dir zumindest die Zähne putzen musst. Aufauf!"
"Blödmann!"
"Jaaa?"
"Geliebter Blödmann."
Ein gut gezieltes Küsschen landet auf seiner Nase.
"MEIN Blödmann."
Sein seeehr breites Grinsen mit ultimativem Grübchenalarm belohnt meine Bemühungen.
"Mit Haut und Haaren!"
Ich schlafe ziemlich unruhig und bin unfreiwilliger Wanderer zwischen den inneren Welten. Meistens erdet Namjoon mich, hält mich in der Realität fest und hört mir zu. Einmal allerdings wache ich schlicht auf, weil ich dringend für kleine Königstiger muss. Ich schleiche mich ins Bad und bin dann leider hellwach. Darum schnappe ich mir eine Decke vom Sofa und setze mich eine Zeit lang ans große Fenster im Gemeinschaftsraum. Ich lehne mich an die Scheibe und schaue nach oben zum Himmel, der heute sternenklar ist. Sicher ist es wieder sehr kalt draußen. Hier drinnen sorgt die Restwärme vom Kachelofen für angenehme Temperaturen.
Und doch ... mich friert auf einmal von innen, ich fange an zu frösteln, weil mir etwas klar wird.
Nie, nie, nie habe ich das Verhältnis zwischen Onkel Harry und mir wahrgenommen als der erwachsene Erziehungsberechtigte und die zu erziehende kleine Nichte. In meiner Wahrnehmung habe ich mich im Rahmen der herrschenden Spielregeln immer ... ja ... gleichberechtigt respektiert gefühlt. Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, dass er mir etwas verschweigt oder mich von irgendwelchem Wissen verschont oder etwas völlig mit sich alleine ausmacht. Wie naiv! Natürlich hat er das viele Jahre lang gemacht. Ich war ein kleines Kind, und er hatte die Verantwortung.
Diese Erkenntnis verunsichert mich auf einmal zutiefst.
Wer war er - wenn nicht der Mann, der verlässlich, ehrlich und liebend immer für mich da war, der immer gleich geblieben ist und mir damit Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hat? Habe ich ihn jemals wirklich gekannt? Habe ich jemals irgendetwas an ihm tatsächlich verstanden? Grade fühlt es sich so an, als wäre er ein völlig fremder Mensch gewesen.
Und dieses Gefühl tut bitter weh.
Gleichzeitig ist mir vollkommen bewusst, dass das die Perspektive des Kindes ist. Harry hat meine Eltern ja nicht verleugnet. Er hat oft und gerne von ihnen erzählt, um meine Erinnerung an sie wach zu halten. Nur über den tragischen Unfall hat er nie gesprochen. Auch nicht, als ich älter und dann schließlich erwachsen war.
Warum hat Onkel Harry bei all den Erinnerungshilfen für mich nicht die kleinste Andeutung gemacht, nie mit mir darüber gesprochen, nie wieder daran gerührt?
Andererseits - habe ich denn danach gefragt? Nach dem Verbuddeln des blauen Autos sicher nicht mehr. Von da an wollte ich ja wohl gar nichts mehr erfahren.
Ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden ich in den letzten Monaten damit zugebracht habe, mich in Tagebücher, Briefe, Fotoalben zu vertiefen. Ich habe KEINE Andeutung zu irgendwas gefunden. Oder habe ich nichts bemerkt, weil ich ja gar nicht nach so etwas gesucht habe???
Diese Fragen kann mir höchstens So-Ras Mutter beantworten. Die beiden scheinen in engem Kontakt gewesen zu sein, wegen mir. Hab ich auch nicht mitgekriegt. Oder auch verdrängt? Aber das Verhältnis zu dieser Familie war immer sehr eng, da hätte ich doch was merken müssen! War ich so blind?
Seelische Erschütterung, Hilflosigkeit, Müdigkeit und Verunsicherung verbinden sich und hüllen mich in tiefe Traurigkeit. Ich sitze mitten in der Nacht allein am Fenster, fühle mich einsam und kann die Tränen nicht länger zurückhalten.
Wie viele Scherbenhaufen muss ich noch durchwaten, bis in meinem Leben endlich wieder Ruhe und Frieden und Festigkeit eintreten werden?
Ich weiß nicht, wie lange ich da so still und tränenblind gesessen habe, als sich zwei Arme um meine Schultern legen und mich aus dem Gedankenkarussell rausholen. Es ist Hoseok. Vielleicht wollte er sich was zu trinken aus der Küche holen oder so. Aber er hat mich sofort wahrgenommen und ist mir zu Hilfe gekommen.
"Nelli? Alles in Ordnung? Du weinst ja! Komm mit. Ich bringe dich zu Namjoon. Dann bist du hier nicht mehr so alleine."
Er stützt mich und führt mich wie eine Blinde zurück zu Joons Zimmer. Der wird dabei wach, zieht mich an sich, deckt mich zu und hält mich fest. Er fragt nicht. Er lässt mich einfach weinen, bis ich vor lauter Erschöpfung endlich wieder einschlafe.
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Der Tag gestern war offensichtlich für alle sehr anstrengend. Niemand hat sich einen Wecker gestellt. Wir schlafen alle aus. Taehyung schnappt sich dann ein Tablett, belädt es mit Essen und balanciert das rüber zu Jimin in den Bus.
Gute Idee! Das wird Jimin bestimmt ein bisschen entlasten. Tae ist ein wahrer Freund.
Alle anderen schleichen wie müde Gespenster irgendwann in die Küche und nehmen sich etwas Essbares, bevor sie auf dem kürzesten Wege wieder in ihren Zimmern verschwinden.
Ich dagegen bekomme den Befehl, mich nicht von der Stelle zu rühren, und werde eine halbe, verdöste Stunde später belohnt mit Frühstück ans Bett. Namjoon verwöhnt mich nach Strich und Faden. Nach dem Frühstück drückt er mir mein Handy in die Hand.
"Finde doch mal raus, wo So-Ra und ihre Mutter grade stecken und ob die beiden heute nochmal Zeit für dich haben."
Zärtlich streicht er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Stimme ist weich und ermutigend und lässt die Welt für mich wieder ein Stück heller aussehen.
Es stellt sich heraus, dass So-Ra und ihre Mutter gestern noch so viel Redebedarf hatten, dass meine Freundin schließlich bei ihren Eltern übernachtet hat. Sie lädt mich dorthin zum Sonntagscafe ein, damit wir weiter nach Antworten suchen können.
In der Zwischenzeit fahren wir gemeinsam zur nächsten Notaufnahme, reihen uns in eine beeindruckend lange Warteschlange ein und ... warten. Zeitweilig schlafe ich wohl auch ein, wache von seltsamen Traumfetzen wieder auf, spüre Namjoons Nähe, fühle mich geborgen und beschützt, dämmere dem nächsten inneren Zeitsprung entgegen.
Es ist so verrückt! Wie kann man sich gleichzeitig verlassen und geborgen, hilflos und getragen, überfordert und gestärkt fühlen? Wie kann ich bloß mehr über damals rausfinden? Wie soll ich jemals mit all dem Frieden schließen und wieder nach vorne blicken? Woher kann ich die Kraft und Ausgeglichenheit für mein Leben, die Arbeit, die Stiftung, meine Freunde nehmen, wenn ich ohne Anhaltspunkte so sehr in der Schwebe balanciere? Ich weiß es nicht.
Nach über zwei Stunden werden wir aufgerufen. Zunächst müssen wir darum kämpfen, dass Namjoon überhaupt bei mir bleiben darf. Dann sitzen wir vor einem irritierten Unfallchirurgen. Sinnvoll in einer Notaufnahme, eher weniger zielführend, wenn man einen psychischen Zusammenbruch hatte und nun in einem seelischen Scherbenhaufen sitzt.
Überraschenderweise zeigt sich der Arzt jedoch sehr aufgeschlossen und nimmt sich Zeit für mich. Ich versuche, ihm knapp und sachlich zu erklären, wie mein Leben und meine letzten neun Monate ausgesehen haben. Was für Erdbeben mich erschüttert und immer mehr in Frage gestellt haben. Kurz erzähle ich ihm von dem Traum, meiner Reaktion und dem gestrigen Tag mit all dem Entsetzen und diesen verrückten Zeitsprüngen.
"Und jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll. Drüber weg arbeiten oder nachforschen? Hier nochmal alles umpflügen oder nach Berlin fliegen? Die Vergangenheit ruhen lassen und mich zurück in die Normalität kämpfen? Allein von all dem zu erzählen, laugt mich schon wieder völlig aus."
Der Arzt denkt einen Moment lang nach. Dann scheint er einen Entschluss zu fassen.
"Ihre Geschichte bewegt mich sehr. Ich überlege jetzt, was Sie am dringendsten brauchen, wie ich Ihnen am besten helfen kann. Zunächst scheint mir, dass Sie eine Weile möglichst wenig allein sein sollten, denn die Zeitsprünge kommen völlig unkontrollierbar und werden vermutlich noch eine Weile anhalten. Und dann glaube ich tatsächlich, dass Sie mit Ihrer Suche hier in Seoul nicht viel weiter kommen werden. Ich werde Sie für drei Wochen krank schreiben. Von Verdrängung halte ich gar nichts, das macht nur alles noch unkontrollierbarer.
Ich bin kein Psychologe oder Psychiater, ich kann grade nur auf meine Intuition hören.
Da Psychotherapie in Korea eher in den Kinderschuhen steckt, werden Sie wohl selbst aktiv werden müssen. Ich glaube, ich an Ihrer Stelle würde nicht weiter nach Papieren suchen - sondern nach Menschen von damals. Freunde und Vertraute ihres Onkels. Und Menschen seines Alters, die für SIE zuständig waren. Ihr Kindergarten, Ihre Lehrer. Finden Sie Menschen, die sich an Sie als Kind erinnern. Die können Ihnen am ehesten weiter helfen."
Große Erleichterung macht sich in mir breit. Ich muss nicht um Hilfe kämpfen. Hier ist einer, der die Situation versteht. Auch Namjoon atmet auf.
"Ganz herzlichen Dank. Sie machen mir Mut, dass ich einen Weg in eine angstfreie Zukunft finden kann."
"Dann fände ich eine Reise nach Berlin in der Tat sinnvoll - aber NICHT alleine! Was halten Sie davon? Wer könnte Sie begleiten? Wer hat so spät im Jahr überhaupt noch so viel Urlaub? Fällt Ihnen jemand ein?"
" Ich werde wohl meine langjährige Freundin fragen. Hoffentlich bekommt sie genug frei!"
"Warum nehmen Sie nicht Herrn Kim mit?"
"Weil er damals nicht dabei war. Wir kennen uns erst seit einem halben Jahr, und ... er wird hier gebraucht, weil die Gründung der Stiftung unmittelbar bevor steht."
"Verstehe. Dann ..."
Er wendet sich seinem Computer zu, legt ein Formular in einen kleinen Drucker daneben und händigt mir gleich darauf meine Krankmeldung zusammen mit einer Visitenkarte aus.
"Das sollte weiterhelfen. Und darüber hinaus habe ich eine dringende Bitte: ich bin zwar nicht vom Fach, aber ich stehe Ihnen gerne für weitere Schritte zur Verfügung. Melden Sie sich, wenn Sie Hilfe brauchen."
Bis es Zeit ist, zu So-Ras Eltern aufzubrechen, fahren wir zu meiner gemütlichen Dachwohnung. Hier kann ich ruhiger werden - in meinem Nest hoch über dem Lärm der Stadt. Ich sehe mich vom Sofa aus um. Sofort meldet sich meine nächste Baustelle: hier bleiben oder umziehen?
Ich seufze tief.
"Hilf mir, dir zu helfen, Liebes. Wo bist du grade mit deinen Gedanken?"
"'Hier. Auf dem Balkon, in meinem Schutzturm. Bei der nervtötenden Fahrerei. Ich weiß es einfach nicht. Ich bin grade viel zu verwirrt."
"Ich glaube, an deiner Wohnsituation solltest du erstmal nichts ändern. Hier ist dein Zuhause. Lass das so, das brauchst du jetzt als Konstante. Konzentriere dich auf deine Gesundheit und deine Vergangenheit, damit in dir drin der Weg in die Zukunft frei wird. Vermutlich wird dir danach auch diese Entscheidung nicht mehr so schwer fallen."
Ich muss nicht antworten. Ich darf mich in seine Arme kuscheln und mich geborgen fühlen.
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19.4.2023 - 25.3.2025
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