50 - Leere Klappboxen

Gegen Morgen kriecht Namjoon zu mir ins Bett und schläft ziemlich schnell ein. Ich dagegen bin so halbwach, genieße mein warmes Bett, Joonies allmählich wohlig vertraute Nähe und döse vor mich hin. Ich bin immer noch und immer wieder so froh über seinen freien Abend in der Woche. Wenn er gearbeitet hat, kommt er nämlich nicht vor 8.00 oder 8.30 Uhr ins Bett und schafft es in der Regel nicht, länger als bis 14.00 zu schlafen. Aber am Donnerstag Morgen geht er schon um 5.00 Uhr ins Bett und schläft oft, bis ich wieder nach Hause komme. Also so richtig tief und lang. Das ist seine Kraftquelle für die ganze Woche.

Ich bin ziemlich froh, dass ich dann am Donnerstag auch länger schlafen kann. Unsere Leben sind meistens sehr gegenläufig organisiert, und in der Pförtnerei haben wir auch wenig Privatsphäre. Aber allein ein paar Stunden lang gemeinsam in einem Bett zu liegen und zu schlafen, ist schon eine starke, eine spürbare Gemeinschaft.
Meinen Wecker hört Namjoon nicht. Zum Glück höre ich das leise Brummen neben meinem Kopfkissen, schäle ich mich aus den Federn und kann mich dann in meinen Tag schleichen, ohne ihn zu stören.

Ansonsten haben wir es nicht eilig. Ich jedenfalls habe es nicht eilig. In meinem Leben ist so viel los auf so vielen Ebenen, dass es mir reicht, körperliche Nähe und Geborgenheit, sensible Aufmerksamkeit, interessante Gespräche, Rückendeckung und so eine Art geistige Seelenverwandtschaft zu spüren.
Ob Namjoon vielleicht längst mehr möchte? Ich weiß es nicht, denn falls es so sein sollte - kann er das sehr gut verstecken. Mit ihm zu flirten, macht unglaublich viel Spaß. Das Knistern, die Schmetterlinge im Bauch sind pures Glück. Alles andere kann warten, wenns nach mir geht.

Entspannt ziehe ich meine Morgenroutine durch. Zum Frühstück setze ich mich wieder neben mein Bett und schaue meinem Freund beim Schlafen zu. Ich bin so dankbar, dass er da ist.
Wir haben schon so viel miteinander erlebt, wo ich ohne ihn aufgeschmissen gewesen wäre. Nicht auszudenken, wie anstrengend alles wäre, wenn Yoongi ihn nicht im Sommer angeschleppt hätte.
Yoongi. Wie es ihm wohl geht? Was er jetzt wohl macht? Konnte er sich guten Gewissens für eine seiner Welten entscheiden? Hat er wieder ein Dach über dem Kopf?
Hastig breche ich zur Arbeit auf, damit ich auf andere Gedanken komme. Solche Erinnerungen an Yoongi machen mich immer noch traurig. Mit einer Reaktion auf meinen Brief rechne ich eigentlich nicht mehr. Außerdem lässt sich sein Platz in der Pförtnerei nicht wieder füllen. Er fehlt.

Als ich am Nachmittag nach Hause komme, erwartet mich an der Hintertür ein frustrierender Anblick. Meine Klappboxen, in denen wir Yoongis Habe verpackt hatten, lehnen leer und sauber an der Hauswand.
Das wars dann wohl. Und das tut richtig weh.
Ich verstaue die Boxen in meinem Kellerraum und fahre hoch zu meiner Wohnung. Namjoon ist schon wach, begrüßt mich fröhlich, schaut mich an und merkt sofort, dass irgendwas im Busch ist.
"Alles in Ordnung? Du siehst so ... traurig aus. Hängt dir die Erkenntnis von gestern noch nach? Oder war nur der Bürotag so anstrengend?"
Ich schüttele den Kopf.
"Heute morgen hab ich noch gedacht, wie dankbar ich Yoongi bin, dass er dich in mein Leben gebracht hat. Und jetzt eben ... Er hat meine Klappboxen unten bei der Hintertür abgestellt. Kein Wort dabei."
"Autsch. Das tut mir leid."
Er nimmt mich in die Arme.
" Aber es ist sein Leben. Da können wir wohl nichts mehr machen."
"Hm. Ich weiß ja. Aber ... er fehlt da oben trotzdem."

"Lass uns einen Spaziergang machen, Nelli. Es regnet grade nicht."
Gemeinsam bummeln wir durch den Stadtteil, vorbei an Wohnhäusern, Büroklötzen, kleinen Imbissbuden, einer Autowaschanlage. Wir reden nicht viel. Es ist mal wieder so ein stiller, gleich schwingender Moment, der keine Worte braucht. Der uns jedesmal einander ein bisschen näher bringt.
Der Spaziergang tut mir gut. Ich lüfte meinen Kopf und komme auf andere Gedanken. Irgendwann fängt es wieder an zu nieseln. Also laufen wir zügig zurück. Als wir auf das Haus zugehen und mir die Briefkästen ins Auge fallen, erinnere ich mich, dass ich vorhin wegen der Klappboxen direkt in den Keller und von da nach oben gefahren bin.

"Ich schau grad noch, ob ich Post habe."
Ich finde drei Rechnungen, eine Urlaubspostkarte einer Studienkollegin und einen Flyer von einem Food Service. Ich will das Teil schon ins Altpapier befördern, aber Namjoon nimmt es mir aus der Hand.
"Warte, da steht was drauf."
Schnell erkennen wir die steile, etwas krakelige Schrift von Yoongi. Ich atme auf.
"Lass uns hochfahren und lesen."

Kaum sitzen wir auf meiner Couch, wird der Flyer inspiziert. Yoongi hat an einzelnen Stellen, wo das Papier nicht so dicht bedruckt ist, einzelne Sätze hingekritzelt.

"Danke für die Boxen.
Haben mir sehr geholfen."

"Danke auch für deinen Brief.
Er stärkt mir täglich den Rücken."

"Ja, ich weiß,
dass du für mich da bist.
Wenn ich dich brauche,
komme ich. Versprochen!"

"Ich überlasse es dir,
ob du die anderen grüßt,
oder nicht."

Und ganz unten neben der Adresse des Food Service steht dann noch Yoongi.
"Gott sei Dank! Wir wissen zwar nicht, was aus seinem Job geworden ist. Aber immerhin hat er meinen Brief bekommen und verstanden und will das Band nicht abreißen lassen."
Auch Joonie ist erleichtert.
"Weißt du, was ich toll fände? Wenn er deshalb jetzt auf der Straße wäre, weil er dem Institut den ganzen Kram vor die Füße gekippt und gekündigt hätte. Kein Dach überm Kopf, dafür aber ein reines Gewissen - das würde ich ihm gönnen."
"Hm. Hab ich mir auch heimlich gewünscht. Das wäre für ihn das Beste. Jeongguk spricht ja nicht mehr über Yoongi. Sein eigenes Leben ist auch so spannend genug. Ich kann deshalb aber überhaupt nicht abschätzen, ob er inzwischen bereit und in der Lage wäre, mit Yoongi zu reden. Das wäre nämlich für beide gut."

Wir kochen uns ein leckeres Abendessen, kuscheln uns in dicke Pullover und Decken und lassen es uns schmecken. Am Abend sortieren und besprechen wir gemeinsam meine vielen Villa-Erben-Stiftungs-Akten. Namjoon sträubt sich nun nicht mehr gegen die Verantwortung und soll darum besser in den ganzen Prozess eingebunden werden. Aber irgendwann ist auch dieser gemütliche Abend vorbei. Namjoon bricht zur Arbeit auf.
Bei einem Blick raus in die Dunkelheit brummt er unzufrieden, und ich kann es verstehen. Aus dem Niesel ist Regen geworden.

"Pass gut auf dich auf, Schatz. Hoffentlich will bei dem Wetter niemand tanken, dann hast du deine Ruhe."
"Danke dir, Liebes. Das kann ich brauchen. Und du gehst bitte bald ins Bett. Versprochen?"
"Versprochen."
"Gute Nacht!"
Kurz darauf schließt sich hinter ihm die Fahrstuhltür. Mit einem warmen Gefühl von Glück und Zufriedenheit mache ich mich entspannt auf ins Bett.

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Seit der Zweck der Villa und der Stiftung klar ist, geht es mit dem Innenausbau viel schneller und zielstrebiger voran. Inzwischen arbeiten ganz andere Gewerke mit als am Anfang. Jedesmal, wenn ich mit Herrn Lee oder Frau Dr. Lee durch das wunderschön sanierte Portal in die hohe Eingangshalle trete, bin ich glücklich, wie schön und einladend, durchaus repräsentativ, aber trotzdem auf ganz eigene Art gemütlich-wohnlich es hier jetzt aussieht.
Auch die Anwälte und Banken sind inzwischen mit den Vorarbeiten ziemlich weit gediehen. Ich habe immer mehr Hoffnung, dass wir noch vor Weihnachten mit beidem fertig werden - Villa und Stiftung.
Die ersten Genehmigungsverfahren laufen schon. Eine Strategie für die Werbekampagne gibt es jetzt auch. Diverses Werbematerial für die Stiftung und das Netzwerk sind in Arbeit.

Hoseok arbeitet inzwischen nicht mehr am Bau sondern ist für die Stiftung Teilzeitsekretär. So kann er mir viel Hintergrundarbeit abnehmen und sich frei die Zeit einteilen, wann er hier und wann in der Tanzschule arbeitet. Dort geht es auch gut vorwärts. Das schönste für ihn ist tatsächlich, dass Alt und Jung, Knowhow und frischer Wind so gut ineinandergreifen, wie er am Anfang gehofft hat. Seine Tänzertruppe hat schnell begriffen, was für eine Chance für sie in diesem Projekt steckt.

Jetzt schiebt sich die Grundstücksseite bei der Pförtnerei wieder in den Vordergrund. Zum Glück gelingt es trotz der anhaltenden Regenfälle zügig, den zwanzig Meter breiten Streifen hinter der Hecke in die benötigte Form zu bringen, den ganzen Hang zu sichern und die Schienen bis oben hin zu verlegen. Letztendlich haben wir uns dazu entschieden, beide Waggons oben fast völlig quer zu stellen, weil auf diese Weise für die Stellplätze nicht so viele Höhenmeter ausgeglichen werden müssen.

Jimin und seine Kollegen arbeiten sich eisern den Hang rauf und runter, legen die beiden Alleen an und bereiten alles vor für die Fundamente der Stufen und des Springbrunnens. Der Parkplatz wird mit Schotter befestigt, und die Hecke als Sichtschutz gepflanzt. Die Wege im Barockgarten sind bald fertig, dazu die steinernen Umrandungen der vielen kleinen Beete.

Als wir am Samstag Morgen um den großen Tisch beim Frühstück sitzen, klingelt das Gemeinschaftstelefon. Es ist Jimin. Taehyung geht dran. Aber auch so können wir alle sofort hören, dass irgendwas passiert sein muss, denn die ersten Minuten kann Jimin gar nicht sprechen. Er weint laut und haltlos. Tae versucht, ihn zu beruhigen. Irgendwann kann Jimin ihm dann sagen, was ihn so in helle Aufregung versetzt hat. Der Grund für Jimins Panik versetzt auch uns sofort in Alarmbereitschaft, als Tae uns berichtet.

"Sejin ist heute Morgen umgekippt. Die Chemo ist einfach zu heftig. Er ist jetzt im Krankenhaus ... auf der Intensiv. Er hat darum gebeten, uns zu benachrichtigen. Die haben aber Jimin angerufen. Die Ärzte haben gesagt, ... wenn nicht innerhalb der nächsten vier Wochen ein passender Spender gefunden wird, hat Sejin keine Chance mehr."
Es ist im wahrsten Sinne des Wortes totenstill am Tisch. Mehreren laufen die Tränen. Ich kriege eine gewaltige Gänsehaut.
Warum ausgerechnet er?!? Er ist so ein besonderer Mensch. Und Jimin verliert SCHON wieder jemand, dem er vertraut. Das darf doch alles nicht wahr sein!

Das Schweigen hält an. Bis Namjoon plötzlich mit sehr entschlossenem Gesichtsausdruck zu seinem Handy greift, ausgiebig googelt und schließlich eine Reihe von Links an die WG-Gruppe schickt. Wir wundern uns, aber bald fällt bei allen der Groschen. Was er uns geschickt hat, sind - schön nach Sender sortiert - die Studio-Mailadressen der beliebtesten Radio- und Fernsehsendungen in Korea. Während wir noch unsere Handys anstarren, kommen weitere Adressen und Telefonnummern. Jetzt sind es vor allem lokale Sender aus allen Teilen des Landes.

"So. Und wir setzen jetzt einen emotionalen Text auf, der um Hilfe bittet. Geldspenden und Testpersonen müssen in sehr kurzer Zeit in großer Menge gefunden werden. Ich werde mich in den nächsten Tagen nachmittags ans Telefon hängen und versuchen, ob irgendein Sender oder eine große Tageszeitung bereit ist, das Thema grundsätzlich aufzugreifen und innerhalb der nächsten zwei Wochen intensiv darauf einzugehen. Diese zuständige staatliche Stelle hat bestimmt auch Statistiken, wie oft, wie schnell, Heilungschancen, und so weiter."

Namjoon hält einen Moment inne.
"Ich wusste immer, dass es sowas gibt. Aber mir war nie klar, wie unmittelbar davon Menschenleben abhängen. Menschen, die das Leben lieben, die von anderen Menschen geliebt werden. Zahlen in einer Statistik - ganz persönliche Schicksale. ... Am besten wäre eine App, wo man sich einfach melden kann."
Gemeinsam strengen wir unsere Hirne an und basteln einen berührenden Aufruf zusammen. Tae muss dann los zu seinen Eltern, Jin und Hobi holen Jimin, damit der nicht alleine ist. Namjoon kommt zum Schlafen mit zu mir, und Jeongguk knöpft sich die ganzen Mailadressen vor. Mit einer kurzen Liste von Links im Anhang, die für das Thema relevant sind, will er sämtliche Sender mit unserem Hilferuf überschwemmen. Es tut uns allen gut, das Gefühl zu haben, dass wir doch noch etwas tun können.

Namjoon geht bei mir zu Hause sofort ins Bett, ich setze mich ins Wohnzimmer und überlege, was da eigentlich grade alles passiert. Ich versuche, mich in die medizinischen und organisatorischen Gegebenheiten hineinzuversetzen.
Gesetzt den Fall, dass wir mit unserem Aufruf tatsächlich in so kurzer Zeit viele Menschen erreichen können - die müssen angemeldet werden, irgendwo vor Ort von Fachleuten getestet werden, die Tests müssen ausgewertet werden, die Ergebnisse gebündelt, die Spenden verwaltet werden. Dazu braucht es Räume, Formulare, Informationen, Laborkapazitäten - und jede Menge Fachpersonal.
Hm. Allmählich habe ich die Befürchtung, dass die Möglichkeiten doch ziemlich unserem Enthusiasmus hinterher hinken. Aber wir müssen einfach alles versuchen. Für Sejin!

Das staatliche Institut mit der Spenderkartei können wir erst am Montag erreichen. Die sind vom Krankenhaus bereits informiert worden, dass es für Sejin jetzt eilt. Die Antwort auf unseren Aktivismus ist aber leider durchwachsen. Sie haben wohl Kapazitäten, um in solchen Fällen für wenige Wochen und schnell Testzentren zu öffnen und mit Personal zu bestücken. Allerdings passt ihnen unser unabgesprochenes Vorpreschen nicht. Dennoch sagen sie uns Info-Material zu, das wir bei Spendern und Zeitungen brauchen können. Auch werden sie spätestens morgen ein personenbezogenes Spendenkonto, eine extra Mailadresse und eine Hotline einrichten. Aber sie machen uns keine großen Hoffnungen, dass wir so schnell genug Menschen zum Spenden bewegen können.

Die meisten Jungs gehen normal ihrer Arbeit nach. Jimin schläft in Yoongis Zimmer, bis sein Bus hier ist, und arbeitet tagsüber bis zur Erschöpfung im Park, um sich von seinen Sorgen abzulenken. Mit Jimin ist auch Sejins Korean Jindo Dog Hyebit eingezogen. Den hatten wir gar nicht auf Rechnung, aber im Grunde ist es eine Erleichterung für alle. Der Hund muss ja versorgt werden, und Jimin tut das Tier gut. Also bringen wir den Umzug der Waggons und des Busses zügig über die Bühne. Kaum ist der als letztes eingetroffen, zieht Jimin zurück in seinen Bus. Hyebit folgt ihm einfach überall hin. Der Hund scheint begriffen zu haben, dass Jimin jetzt sein Rudel ist.

Jin und Hoseok bearbeiten Anrufe und Mails von den Sendern, der Presse und Privatpersonen, führen Journalisten zum Schrottplatz und geben am Ende der Woche jeweils in Begleitung eines Facharztes Interviews im Radio. Das Institut wehrt sich nicht mehr. Sie haben plötzlich alle Hände voll zu tun. Außerdem suchen sie ja nicht nur DEN EINEN Spender für Sejin. Sie erhalten auf diese Weise die Chance, ihre Spenderkartei um tausende von Menschen zu erweitern.

So anstrengend diese Tage und Wochen sind - der Einsatz zahlt sich aus. Das Interesse und Mitgefühl in der Bevölkerung ist groß, mobile Testzentren nehmen die Arbeit auf, Daten werden gesammelt. Und wir versuchen, die Hoffnung für Sejin nicht aufzugeben.
Natürlich lassen auch wir uns alle testen und erzählen jedem, den wir kennen, davon. Persönliche Betroffenheit versetzt Berge. Die halbe Gärtnerei tritt an. Jeongguk rührt die Werbetrommel in seiner Berufsschule. Mit der Erlaubnis des Schulleiters und allem Mut, den er zusammenkratzen kann, geht er persönlich in jede einzelne Klasse und kann ettliche zur Teilnahme am Test bewegen. Hoseoks Tänzer, die Kollegen und Bekannten von Taehyungs Eltern - die Solidarität breitet sich wie ein Lauffeuer in der Stadt und im ganzen Land aus.
Überall in Südkorea werden mobile Testzentren aufgebaut, arbeiten Labore unter Hochdruck, um mit der Spendenbereitschaft der Menschen mithalten zu können. Für siebzehn zum Teil schon sehr lang wartende Patienten werden geeignete Spender gefunden. Und nach zwei Wochen schließlich meldet sich in Degu jemand, dessen Erbgut nah genug an dem von Sejin dran ist, um das Experiment zu wagen.

Feierstimmung kommt im Pförtnerhaus trotzdem nicht auf. Sejin muss den Rest der Chemo überstehen. Er darf sich nicht die geringste Infektion mit irgendwas zuziehen, denn ein nennenswertes Immunsystem hat er inzwischen nicht mehr. Dann muss er aus der Narkose der OP aufwachen - und sein Körper muss die neuen Stammzellen schließlich annehmen und damit ein neues Immunsystem aufbauen. Alles in allem wird das, wenn es überhaupt gut läuft, etwa ein Jahr dauern.
Das ist vor allem für Jimin schwer auszuhalten. Der Park um die Villa allerdings profitiert davon, denn der junge Mann wartet morgens nicht auf seine Kollegen. Jede Sekunde Tageslicht wird genutzt, um zu wühlen, zu pflanzen und zu planen.
Alle drei Fahrzeuge vom Schrottplatz sind sofort mit Strom, Wasser und Heizung versorgt und isoliert worden. Kurzerhand wird der obere U-Bahn-Waggon zum Gewächshaus umgestaltet. Dort stehen nun auf den alten Fahrgastbänken große Kästen mit Hochbeeten für die Anzucht der Pflanzen, die später die Beete, das Rondell und den Barockgarten füllen sollen.

Wir sind alle unglaublich müde. Erst jetzt merken wir, wie sehr wir unter Strom gestanden haben in diesen Wochen. Wir haben praktisch alle die Luft angehalten, immer weiter geworben und gewirbelt und immer, immer wieder Jimin und Sejin mit Aufmerksamkeit und Durchhalteparolen den Rücken gestärkt. Es ist genau, wie ich vorhergesagt hatte - was die beiden weiterträgt, was Sejin immer wieder Hoffnung gibt, sind die Solidarität der Menschen und die Energie, die die Jungs für ihn in diese Aktion stecken.

Trotz des Erfolges kommen wir nicht zum Luftholen, denn all das, was in diesen Wochen liegen geblieben ist, will nun nachgeholt werden. Stumm und mit den letzten Kraftreserven ackern wir uns durch Berge von unerledigten Aufgaben, richten unsere Aufmerksamkeit wieder auf unseren Alltag, die Baustelle, die Stiftung, die Therapeutensuche für Jin, die Vereinsgründung für die Tanzschule, den Aufbau des Netzwerks und die Berge von Papier auf unseren Schreibtischen. Unsere neu erwachte Hoffnung für Sejin ist die Energie, die nun uns weiterträgt.

Das WG-Leben und meine Arbeit leiden dennoch spürbar darunter, kleine Querelen sind an der Tagesordnung, gemeinsame Mahlzeiten selten. Jeongguk ist gereizter als sonst, Jin fürchtet sich vor dem Hund. So-Ra leistet ihren Beitrag, indem sie mir den Rücken freihält.
Namjoon und Hoseok arbeiten viel für das Team rund um die Stiftungsgründung. Und sobald abends der letzte Teller gespült zurück in den Schrank wandert, fallen alle in ihre Betten. Namjoon fährt dann zur Arbeit und ich versuche zu verhindern, dass meine Wohnung im Chaos versinkt. Eine Work-Life-Rettungs-Balance hat niemand mehr von uns.

Trotzdem knallt es nicht in der Pförtnerei. Das unmittelbare Begreifen, dass da ein Leben am seidenen Faden hängt von einem Menschen, den wir kennen und mögen - das lässt Ängste, Konflikte und Missverständnisse kleiner werden. Das relativiert, was sonst so weltbewegend scheint. Ich kann spüren, wie alle sieben reifen und das Leben, ihre Leben mit neuen Augen betrachten. Ende Oktober stabilisiert sich der Gesundheitszustand von Sejin merklich und lässt uns alle durchatmen.

Dafür wird ein in dieser Jahreszeit ungewöhnlich später, aber um so heftigerer Taifun angekündigt. Er soll vom Pazifik kommen und südlich von Japan nach Süden abdrehen.

Sehr gut, dann trifft es uns ausnahmsweise mal nicht.

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26.3.2023    -    24.3.2024

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