49 - Zukunftsbilder

Ende September wird das Wetter allmählich ungemütlich. Ein Temperatursturz läutet eine längere Periode ein, in der entweder Nebel an den Hängen des Bukhansan oder Regen über der ganzen Stadt hängt. Nur an manchen Tagen kann sich gegen Mittag die Sonne durch die dichte Wolkendecke kämpfen.
Um so größer ist meine Motivation, mich hinter den Schreibtisch zu klemmen. Alle meine 'Baustellen' könnten etwas mehr Zielstrebigkeit vertragen - die Villa, deren Einrichtung, der Park, die Stiftung, das Netzwerk. Die nötigen Ausbildungen und Therapien für manche der Jungs fallen auch nicht vom Himmel.
Und da sind noch Dr. Lee und Tae. Sie hatte gesagt, sie möchte Tae für länger ..., er hatte gesagt, er würde so gerne länger ...
Ob die beiden inzwischen miteinander geredet haben? Das hätte er mir doch erzählt! Hm. Ich sollte mal wieder umfassende Bilanz ziehen und das kommunizieren.
Ich sperre den verregneten Samstag aus, mache es mir mit Laptop, Tee und Unterlagen auf dem Sofa bequem und lege los.

Nach der ersten Konferenz in der Villa hat sich zügig ein kleines Team für Marketing, Webauftritt, PR und Co. gebildet. Bei intensiven Gesprächen machen sie sich nun daran, ein Logo, einen Briefkopf, Plakate für Veranstaltungen, Material für die Suche nach geeigneten Projekten und Werbebanner in der Stadt zu entwerfen. Sachlich informierende Flyer sollen Sponsoren anwerben, damit das Stiftungskapital schnell noch weiter anwächst.
Also lade ich zeitnah zu einem weiteren Termin ein. Da sich alle schon beim letzten Mal beschnuppert hatten, geht es diesmal sehr konzentriert und zielstrebig zur Sache.
Die Stiftung bekommt nun einen Namen. Ganz poetisch wird sie 'Netzwerk der Hoffnung e.V.' heißen und das Motto im Untertitel führen: 'Vertrauen wagen, Türen öffnen, Zukunft ermöglichen'. Die Villa selbst wird 'Haus des Lebens' heißen.

Jimins Gärtnerei ist in engem Gespräch mit Dr. Lee und ihrem Mann. Jimin und zwei Kollegen sind nach seinem ersten Besuch sofort mit Vermessungsgeräten angerückt, haben akribisch genau das gesamte Gelände erfasst und daraus eine 3D-Computeranimation erstellt, die wir nun nutzen können, um alles zu Ende zu planen.

Ein bisschen komplizierter ist es, die Richtlinien zu verstehen und Genehmigungen für den Transport der Waggons zu erhalten. Aber die Grundstücksmauer wurde inzwischen geöffnet, und die Firma, die das gesamte Schmiedewerk des Zauns wieder herrichten soll, hat den Vorschlag gemacht, aus den herausgenommenen Tor- und Zaunelementen ein elektrisch gesteuertes Rolltor herzustellen. Das macht alles angenehmer für das in Zukunft zu erwartende Rein und Raus und stört das Gesamtbild von der Straße her am wenigsten.

Lange habe ich nicht gewusst, wo ich die Schwellen für die Schienen herbekommen soll. Die können nämlich nicht aus Holz sein, weil das Gleisbett sozusagen in den Boden abgesenkt werden soll. Sobald die Wagen an ihrem Platz sind, werden sie vermutlich lange Zeit nicht mehr bewegt werden. Auf die Schienen kommen dann Schotter und ein Holzbohlenpfad drauf, von der Straße bis hoch zum obersten Waggon. Sonst würden nämlich die Jungs alle Nase lang über die Schienen stolpern. Aber dafür müssen die Schwellen aus ... ja, aus Beton sein, damit sie unter dem Kies und den Abdeckungen nicht verrotten.

Inzwischen ist uns aufgefallen, dass man weder den Bus noch die U-Bahn vernünftig einrichten und nutzen kann, wenn sie hangabwärts aufgestellt werden. Dann wäre der Fußboden genauso abschüssig wie der Hang. Wir müssen uns also noch was einfallen lassen, wie wir die drei riesigen Brummer an Ort und Stelle entweder mit der Nase bis zur Waagerechten absenken oder deren Hinterteile hochbocken können, ohne dass es völlig bescheuert aussieht.

Namjoon klemmt sich hinter die Verkehrsbetriebe von Seoul im Namen der noch gar nicht vorhandenen Stiftung, bettelt sie schamlos an und erreicht tatsächlich, dass wir die nötigen zwanzig bis dreißig Schwellen geschenkt bekommen. Außerdem hat er gleich Informationen eingeholt, wie wir all die großen Ungetüme legal quer durch den Norden von Seoul schaffen können.
Im Moment werden also die Stellplätze nahezu waagerecht ausgebaggert, die dadurch entstehenden steilen Seiten dieser Stellen mit Natursteinmauern befestigt und die Schienen wellenförmig den Hang rauf verlegt.
Anschließend soll sofort der Umzug über die Bühne gehen, denn Sejin geht es auf einmal deutlich schlechter. Die staatliche Organisation, die solche Stammzellenspenden organisiert, arbeitet auf Hochtouren, aber noch ist der passende Spender nicht gefunden.

Jimin fällt es von Tag zu Tag leichter, zu uns zur Arbeit zu kommen, denn er freut sich jedes Mal wieder auf die neue Aufgabe. Sein grober Plan für den Barockgarten vor der Villa mit den beiden Alleen und dem quer gelegten Parkplatz ist von seinem Chef und Dr. Lee begeistert aufgenommen worden. Zur Zeit planen die drei zusammen die Anlagen von Beeten und schmalen Spazierwegen. Sogar zwei Terrassen mit Wasserfall und in der Mitte ein Springbrunnen werden entstehen.

Da der Park nun tatsächlich nicht für den Transport der Waggons benötigt wird, haben Dr. Lee und Taehyung nach alten Vorbildern gesucht und verschiedene Vorschläge für die Pflasterung gemacht.

Insgesamt wird es mehr Wege als vorher geben. Darum werden die alten Steine durch weitere neue aufgestockt. Nach einem Bild soll improvisiert werden. Statt des gefüllten Kreises soll natürlich in der Mitte das neu bepflanzte Blumenrondell bleiben. Drumrum kommen acht dieser überlappenden Kreise. Von da ausgehend werden alle Straßen und Wege in einem zweifarbigen Schuppenmuster gestaltet werden.

Die Containerburg mit den Büros und Aufenthaltsräumen für die Handwerker schrumpft zum ersten Mal deutlich, weil inzwischen viel weniger mitarbeiten. Auch einige der großen Müllcontainer sind verschwunden, die restlichen neben die Containerburg gewandert. So ist der Streifen am Zaun entlang frei, und der Parkplatz kann in Angriff genommen werden.

Der Biomüllcontainer füllt sich gespenstisch viel schneller als bisher, weil Jimin und zwei seiner Kollegen die gesamte Fläche für die barocke Parkanlage roden und dabei Unmengen von Grünschnitt, Baumwurzeln und verborgenen Steinen runter zum Zaun schleppen. Sie modellieren das Gelände und stecken Wege ab. Keiner von uns kann sich der Anziehungskraft dieser Vorgänge entziehen.

Besonders faszinierend finde ich, dass Jimin nachgefragt hat, ab wann Namjoon mittags wach ist. Die lauten Maschinen wie die Motorsäge setzen die Männer tatsächlich nur nachmittags ein und arbeiten damit so lange, bis sie wieder genug Handarbeit für den nächsten Vormittag geschaffen haben. Eine Woche lang wühlen und sägen und zerkleinern sie, was das Zeug hergibt. Dann stehen sie unten am Parkplatz und betrachten zufrieden den völlig leeren, erdigen Hang, der in sanften Wellen zur Straße herunter "fließt".

Gleichzeitig ist ein ganzer Trupp Straßenarbeiter zu Gange, alle breiten und schmalen Wege zu befestigen und zu pflastern. Die alten, breiten Wege werden ein bisschen symmetrischer angelegt und auch schon an beiden Seiten um die Villa herum nach hinten geführt. Nach der Rodung entsteht dann auch die linke Allee mit Bänken. Allmählich kann man ahnen, wie es einmal aussehen wird.
Allerdings dauert es bei diesen Herrschaften etwas, bis sie kapieren und koordinieren, dass sie eben nicht vormittags um 10.00 Uhr die Rüttler zum Verfestigen der Wege anschmeißen müssen. Aber Namjoon stöpselt sich mit Oropax zu oder schläft in meiner Wohnung. So übersteht er diese laute Zeit doch ganz gut.

Spannend ist das Treffen mit den Lees, dem Gartenbaumeister, Taehyung und Jimin. Wir haben im großen Saal mehrere Bretter auf zwei Böcke gelegt und uns so einen großen Tisch gebaut. Von hier aus können wir schnell einen Blick aus dem Portal nach vorne oder über die Veranda hinter die Villa werfen. Heute sollen endgültig die Verläufe der kleineren Wege und die Anlage der Beete im Barockgarten entschieden werden.
Wir wollen auch mit der Planung für das Gelände unmittelbar hinter der Villa beginnen, wo noch nichts geschehen ist außer der Neuanlage der Terrasse.

Jimins Chef legt uns zwei Pläne vor, einen mit der Nutzung "damals", einen mit Vorschlägen, wie das Gelände im Rahmen der Stiftung vielfältig genutzt werden könnte. Als erstes muss ich begründen, warum ich auf dem Erhalt meiner Spielplatzecke bestehe.
"Ich ... es könnte sein, dass Sie das irrational finden. Aber auf dieser Schaukel an diesem alten Ast, in diesem Sandkasten, auf dieser rostigen Rutsche hat meine Kindheit stattgefunden. Hier habe ich gespielt und geträumt, in diesem Baumhaus da oben habe ich Briefe an meine Freunde geschrieben, gepicknickt und übernachtet. Auf dieser Bank hat mein Onkel gesessen und Gitarre gespielt, während wir dazu gesungen haben. Ich kann mich von diesen Orten meiner Kindheit noch nicht verabschieden. Es mag alles vergammelt und unbrauchbar sein. Ich werde bestimmt nicht versuchen, das alte Schaukelbrett wieder zusammenzuleimen - versprochen! Aber für diese Ecke möchte ich mir noch Zeit lassen.
Es tut mir leid, wenn Sie das bremst, aber planen Sie bitte vollständig drumrum."

Die Anwesenden nicken. Sie haben gut hingehört und verstanden. Ich habe in den letzten Monaten viel losgelassen, verändert und umgebaut. Aber diese Ecke gehört mir.
Also sammeln wir heute lauter Ideen, die sinnvoll und flexibel nutzbar sind und ohne diese Fläche am oberen Ende der Hecke zur Pförtnerei auskommen. Platz ist hier ja wahrlich genug.

Mittendrin gehe ich zum Fenster und schaue in den alten wilden Park. Ich höre kaum noch, was die anderen reden. Denn da ist auf einmal wieder dieses tiefe, dunkle Loch in mir drin.
Der Sandkasten. Das sollte ich bald machen, bevor es draußen endgültig zu ungemütlich dafür wird. Es ist nur immerzu so viel los. Habe ich jetzt die Ruhe und die Kraft, das Experiment zu wagen? Ach je - wahrscheinlich gibt es für das, was ich dort finden werde oder auch nicht, gar keinen 'richtigen Moment'. Ich sollte aufhören, darauf zu warten.
Ich reiße mich los und höre wieder meinen Fachleuten zu. Tae mustert mich aufmerksam. Irgendwas hat er gemerkt, aber er spricht es nicht an. Geduldig höre ich den letzten Ideen zu und bedanke mich bei allen Beteiligten.

Allerdings hoffe ich, dass wir in dieser Runde nun auch noch einige Weichen für die Zukunft der beiden jungen Leute stellen können, denn beide sind inzwischen ziemlich sattelfest in ihren Aufgaben und sollten weiterdenken. Taehyung hat sich für heute vorgenommen, all seinen Mut zusammenzukratzen und von sich aus zu fragen, wie es für ihn bei Dr. Lee weitergehen könnte. Kaum legen Jimin und sein Chef die detaillierten Zeichnungen von unserem zukünftigen luftig-leichten und verspielten Barockgarten auf einen Stapel und diskutieren noch einmal unter sich, was sie für den oberen Garten vorschlagen wollen, mutiert Taehyung vom konzentrierten, wissbegierigen Mitarbeiter zum nervösen großen Jungen.

Kurz schaut er mich an, holt dann tief Luft und wendet sich seiner Chefin zu.
"Frau Dr. Lee, ich wollte ... Ich will mich nicht aufdrängen. Haben Sie schon Vorstellungen, wie es für mich bei Ihnen weitergehen könnte? Oder was ich ihrer Meinung nach als nächstes anpacken sollte? Wir haben nie darüber gesprochen, wie lange ich bei Ihnen mitarbeiten darf. Ich arbeite so gerne bei Ihnen. Ich ... wollte das einfach mal ansprechen, weil alles so in der Schwebe ist."
Die Kunsthistorikerin reagiert wunderbar.
"Also, wenn es nach mir geht, könnten wir ewig so weiter machen. Aber das ist ja Blödsinn und bremst Sie nur aus."
Sie zwinkert ihm zu.
"Ich habe darüber auch schon nachgedacht, denn der Sinn Ihres Praktikums ist es ja, Sie auf Ihre eigene Fährte zu setzen und Ihnen Türen zu öffnen."
Taehyung hat gleich bei ihrem ersten Satz die Luft angehalten. Aufmerksam hört er weiter zu.

"Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Sie bleiben bei mir bis zum nächsten Sommer und beginnen dann mit einer handwerklichen Ausbildung. Im Rahmen dieser Sanierung haben Sie bereits bei den Stuckateuren mitgearbeitet, vorher schon bei Maurern und Dachdeckern. Wenn die Stuckarbeiten in diesem Haus abgeschlossen sind, werden Sie beim alten Theater alte koreanische Bautechniken lernen und Restaurateure begleiten. Fürs nächste Jahr wünschen Sie sich bitte weitere Berufe, in die ich Sie vermitteln werde. Bis April sollten Sie sich dann entscheiden, wo die Reise hingehen soll.
Da Sie keinen Highschool Abschluss haben, halte ich eine künstlerisch-handwerkliche Ausbildung mit begleitendem Highschool Abschluss für das Sinnvollste. Danach stehen Ihnen nämlich mehr Türen offen. Egal, ob Sie in dem Beruf bleiben und vielleicht den Meisterbrief erwerben, an einer Fachhochschule studieren oder eine architektonische Weltreise machen wollen. Wie gefällt Ihnen die Idee?"

Taehyung ist schlicht sprachlos. Sein Mund öffnet und schließt sich, aber es kommt nichts raus. Erst nach einer ganzen Weile bringt er ein "Ein ganzes Jahr???" zustande. Ich verkneife mir das Lachen.
"Ja, warum nicht? Die Ausbildungen beginnen meist im August, und die Zeit bis dahin sollten wir so sinnvoll wie möglich nutzen. Sie erledigen inzwischen so viel Hintergrundarbeit für mich, Sie lernen so schnell. Ich werde Sie vermissen, wenn Sie weg sind. Egal, was Sie dann beginnen werden - Sie werden im Gepäck eine ganze Menge Erfahrungen und mindestens fünf hervorragende Arbeitszeugnisse haben."

"Ich ... danke! Sie haben nämlich recht. Wenn ich mich hier und jetzt für einen Beruf entscheiden müsste, wäre ich ziemlich aufgeschmissen. Ich finde ALLES spannend, was ich lerne und erlebe. Ich will die Zeit gut nutzen."
"Gut. Dann werden wir bis Ende nächster Woche überlegen, welche Stationen Ihnen noch Spaß machen könnten. Was Ihnen zum Beispiel noch fehlt, sind Stoff, Metall und Keramik. Dann kann ich Ihre Einsatzorte fürs nächste Jahr auch schon vorbereiten."

Die Lees verabschieden sich, Taehyung platzt beinahe vor Stolz über dieses Angebot und so viel Lob, und Jimins Chef ergreift zu meiner Freude auch die Gelegenheit.
"Wollen wir dann auch mit Park Jimin feste Ziele ins Auge fassen? Er leistet so wertvolle Beiträge zur Gestaltung und geht so auf in dieser Aufgabe, dass auch mir nichts besseres passieren kann, als ihn auf Dauer mit diesem Projekt zu betrauen."

Jimin geht erstmal zwei Schritte rückwärts, weil sich all unsere Augen auf ihn richten. Er senkt den Blick und bringt kein Wort raus. Der Gartenbaumeister kennt ihn aber schon lange und weiß, wie er ihn wieder aus der Reserve locken kann.
"Jimin? Erzähl uns, was dir diese Aufgabe bedeutet."
Der schüchterne junge Mann greift zu der präzisen Zeichnung des vorderen Barockgartens.
"Die einzigen Lebewesen, die mir noch nie weh getan haben, sind Pflanzen. Ich liebe sie, und sie lieben mich. Sie haben mich noch nie verraten. Die Vorstellung, in einem Haufen Steine zwischen anderen Steinhaufen zu wohnen, schnürt mir sofort die Luft ab. Dass ich in meinem Bus bleiben und zu allen Seiten in den Park und den Wald schauen kann, bedeutet mir alles. Hier ... hier kann ich ... zeigen, was ich in den letzten Jahren gelernt habe. Hier werde ich gefragt."

Nach einem winzigen Zögern wendet er sich direkt an seinen Chef.
"Kang Sejin und Sie sind die ersten und jahrelang einzigen Menschen, von denen ich weiß, dass Sie mir niemals absichtlich weh tun würden. Und ... und ... jetzt ... ist noch ... Tae dazugekommen."
Unerwartet fest und mit einem inneren Leuchten hebt er seinen Blick und schaut Taehyung direkt in die Augen.
"Du hast ... einfach nicht aufgegeben, egal wie abweisend oder panisch ich war. Du hast mir mit jedem Wort und jeder Geste und jedem Abwarten gezeigt, dass ich für dich wichtig und wertvoll bin. Du bist mein ... Freund."

Der fast magische Blickkontakt füllt den ganzen großen Saal und jagt mir eine Gänsehaut nach der anderen den Rücken runter. Vermutlich hat Jimin dieses Gefühl, dass einer wirklich treu ist, zum allerersten Mal in seinem Leben, hat solche Worte zum allerersten Mal gesagt. Die beiden strahlen um die Wette. Sie haben in der furchtbaren Brandnacht ein Band miteinander geknüpft, das stark und stabil ist und so schnell nicht reißen wird.
"Danke, Jiminie. Ich ahne, was dir das bedeutet. Und ich weiß, was es für mich bedeutet. Durch dich bin ich endgültig nicht mehr der irregeleitete Mutproben-ichwillgemochtwerden-Brandstifter ... sondern ein Mensch, der es wert ist, Freund zu sein."

Mir ist glücklich-warm, so sehr freue ich mich für und über die beiden. Aber dann drängt sich ein anderer Gedanke in den Vordergrund. Schneller, als ich piep sagen kann, fällt in meinem Kopf die Klappe und beamt mich ganz weit weg. Intuitiv mache ich einen Schritt rückwärts und drehe mich wieder zum Fenster.
WIE schön das ist! Danke, Onkel Harry, dass du meine Heimat, mein Mentor und mein Motor warst ... oder ... bist? Du bist gar nicht weg! Du warst immer da - in mir drin - und bist es bis heute. In deinem Wesen, in meinem Wesen gibt es keine Kilometer oder Flugmeilen. Du hast immer das beste für mich gewollt, aus mir rausgekitzelt, möglich gemacht. Du wirst immer bei mir sein, mein Leitstern sein. Die Geschenke, die daraus erwachsen, sind einmalig und wunderschön.
Bitte bleib! Sei weiter in meinem Kopf und in meinem Herzen, lass mich in deinem Namen mit meinem Wesen Dinge zum Besseren wenden. Du bist wunderbar!

Zwei Arme umschlingen mich.
"Bist du in Ordnung, Nelli?"
Taehyungs Stimme holt mich zurück in die Gegenwart. Ich spüre immer noch diese wunderbare Wärme, aber auch, dass meine Knie ganz weich sind und ich schwanke.
"Ist dir schwindelig? Du hast eben gewankt wie ein Baum im Sturm. Obwohl du eigentlich total glücklich aussiehst. Da dachte ich, ich halt dich mal lieber fest."
"Ich ... ja, ich bin in Ordnung. Und ja, ich habe grade etwas Schönes verstanden und gespürt. Danke, dass du aufgepasst hast."
Ich öffne die Augen, halte mich an Tae fest und drehe mich um.

Jimin und sein Chef stehen stumm am Tisch und sehen mich mit großen Augen an.
Ich sollte reagieren.
"Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Von Zeit zu Zeit rufen einzelne Stichworte unerwartet Erinnerungen hervor. Ich bin in diesem Haus ja aufgewachsen. Die Jungs kennen das schon und passen dann gut auf mich auf. Mir ist nichts passiert. Aber ich sollte mich jetzt einen Moment hinsetzen. Sind wir für heute so weit durch?"
Zügig verabschiedet sich der Gärtner, rollt seine Pläne zusammen und verlässt das Haus.

Taehyung mustert mich aufmerksam, Jimin steht unsicher daneben.
"Hier oder drüben? Du solltest dich hinlegen."
Ich lächele Tae an.
"Drüben."
"Dann komm."
Warum wird mir eigentlich immer schwindelig, wenn ich etwas über mich oder über früher dazulerne? Das war doch jetzt wirklich keine umwerfende sondern eher eine aufbauende Erkenntnis. Ich raffs nicht. Naja. Gut, dass ich auch diesmal nicht alleine war.

Tae und Jimin nehmen mich in ihre Mitte und bringen mich zum Pförtnerhaus.
Namjoon hatte dort auf mich gewartet und kommt uns nun entgegen. Bei meinem Anblick runzelt er die Stirn und schüttelt den Kopf. Aber er sagt nichts sondern löst einfach die beiden anderen ab. Im Gemeinschaftsraum schiebt er mich zum Sofa.
Er hockt sich neben mich und sieht mich besorgt an.
"Ich habe das jetzt ja schon ein paarmal erlebt, und du bist nie in Gefahr dabei. Aber trotzdem sind mir deine Besuche in der Vergangenheit echt unheimlich. Du bist dabei so sehr dir selbst ausgeliefert. Darf ich fragen, was es diesmal war?"

Sanft malen seine Finger kleine Kreise auf meinen Handrücken. Seine Augen streicheln mich gradezu mit all seiner Liebe. Ich fühle mich im Hier und Jetzt, geborgen und geliebt. Ich weiß auch, was in meinem Kopf eben Schönes passiert ist. Ich weiß nur nicht, wie ich das in Worte fassen soll.
"Lass mir bitte ein bisschen Zeit. Ich habe etwas Schönes, etwas Tröstliches verstanden. Aber ich muss das erst noch verdauen."
"Natürlich, Liebes. Ruh dich einfach aus, ich bin da."

Die anderen Jungs halten sich diskret raus. Ich hatte Jin vorhin mehrere Tüten mit Zutaten in die Hand gedrückt, aus denen er inzwischen ein kreatives Abendessen zubereitet hat. Guk und Tae decken den Tisch. Namjoon und ich schauen einfach zu und genießen unsere Nähe. Beim Essen reden wir wie immer über dies und das, haben unseren Spaß und lassen es uns gut gehen. Anschließend besteht Namjoon darauf, mich nach Hause zu bringen. Jimin möchte gleich mitkommen.

Namjoon sorgt dafür, dass es zügig losgeht. Er setzt sich ans Steuer, bringt Jimin zum Schrottplatz und steuert dann mein Zuhause an, das inzwischen auch schon ein bisschen sein Zuhause ist.
Eh ichs mich versehe, liege ich in meinem Bett, werde liebevoll zugedeckt und auf die Nasenspitze geküsst. Er hockt sich im Schneidersitz bei meinem Kopf auf den Boden und sieht mich abwartend an.
"Magst du mir noch von dem schönen Gedanken von vorhin erzählen?"
Ich nicke einfach. Ein Lächeln schleicht sich in meine Mundwinkel.

"Gerne. Kurzfassung: ich habe mich all die Monate gequält, weil ich Onkel Harry im Stich gelassen habe. Ich hatte immer das Gefühl, er wäre für immer verschwunden und nie wieder für mich erreichbar, und das alles sei meine Schuld, die ich mit nichts wieder gut machen könne.
Aber er ist gar nicht weg. Er ist immer noch für mich da, ist in mir drin mit seinem Wesen, seiner Liebe, seiner Weisheit. Er hat schon so viel bewegt mit seinem Testament! Wir haben so viel bewegt, weil er so weise und vorausschauend geplant hat. Er ist ganz, ganz nah bei mir und in mir, so wie er es immer war."
"Das klingt wundervoll, Liebes. Ich freu mich mit dir. Ab jetzt wird dich das schlechte Gewissen nicht mehr so viel Kraft kosten. Dann schlaf jetzt."

Namjoon legt seinen Kopf neben meinen aufs Kissen und küsst mich federleicht. Seine Hand zeichnet mit langsamen Bewegungen Muster auf meinen Rücken. Mir wird warm dabei, und ich kann wunderbar entspannen.
"Danke."
"Wofür?"
"Dass du dich an dem Abend nach dem Streit selbst überholt und mich geküsst hast. Dass du jetzt bei mir bist. Dass ich mich so sicher und verstanden und geliebt fühlen darf mit dir an meiner Seite."
Joonie lächelt.
"Gleich fängst du an zu schnurren."
Ich schließe die Augen und seufze wohlig.

"Ist das ein Wunder?"
"Für mich schon."
"Dann wirds Zeit für dich, aufzuwachen und dich mit meinen Augen zu sehen. Du hast grade bei meinem Kompliment zum allerersten Mal nicht gekuckt wie ein Fünfjähriger an Weihnachten. Du hast einfach gelächelt und dich gefreut. Es wird allmählich!"
"Ich freu mich ja auch. Und frag nicht, WIE! Trotzdem mach ich mir Sorgen um dich. Und deshalb wirds für dich jetzt Zeit, die Augen zuzuklappen, zu schlafen und loszulassen. Wenigstens ab und zu müssen wir doch was tun gegen deinen chronischen Schlafmangel."

........................
23.3.2023 - 24.3.2024

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top