46 - EINS zu ZWANZIGTAUSEND

Montag Nachmittag. Ich bin nach der Arbeit nicht sofort zum Bukhansan gefahren. Der Termin mit dem Architekten Lee fällt diese Woche aus, also habe ich Zeit für ein wichtiges Telefonat. Ich sitze angespannt und steif an meinem Esstisch zu Hause. Mit mulmigem Gefühl starre ich auf das Telefon, um das ich meine Hände geschlossen habe, als wäre es der allerletzte Halt in meinem Leben.
In meinem nicht. Aber für Sejin ist es die letzte Chance. Wenn er genug am Leben hängt, um mein Angebot anzunehmen.

Einzeln und offensichtlich auch ohne gemeinsame Absprache sind im Laufe des Tages zaghafte Fragen bei mir eingetroffen. Hoseok wird auf die Finanzierung einer Ausbildung verzichten, wenn ich dafür Sejins Behandlung bezahle. Jin will auf seine Therapie verzichten, Taehyung auf sein Gehalt von mir, Guk möchte etwas von seinem Ausbildungslohn abgeben, um Sejin zu unterstützen.
Taehyung meinte außerdem, dass Jimin das in seiner Panik wohl noch gar nicht richtig gekapiert hat. Aber irgendwann wird er weiterdenken, was das bedeutet, dass da sein Umzug ausgelöst hat. Er wird auch Hilfe brauchen.

Namjoon war noch direkter.

„Guten Morgen, Nelli!
Habe ich das gestern richtig verstanden, dass Sejin totkrank ist und grade sein Ende organisiert? Und dass du ihn darauf angesprochen hast? Ich hab gut
reden, ich könnte höchstens meinen letzten guten Anzug verkaufen. Das wird aber nicht reichen. Die Stimmung hier in der Pförtnerei ist eindeutig, auch wenn keiner etwas gesagt hat: Niemand will, dass Sejin stirbt. Der Mann ist goldig und hat mehr Leben verdient. Ich falle einfach mit der Tür ins Haus. Könntest Du seine Behandlung bezahlen?
Falls er das annimmt?
Dackelblick mit Grübchenalarm, Namjoon"

Ach, Joonie. Natürlich! Du rennst bei mir offene Türen ein. Deine letzte Frage ist die entscheidende ...
Ich gebe mir einen Ruck. Zaudern macht es nicht besser. Ich wähle Sejins Nummer. Meine Entschlossenheit wird auf eine harte Probe gestellt. Zweimal geht er gar nicht dran, einmal wimmelt er mich ab. Er muss noch arbeiten. Im Hintergrund kann ich Geräusche und Stimmen ausmachen. Der Schrottplatz hat auch noch offen.

Aber dann ruft er selbst mich zurück.

„Guten Tag, Cornelia. Entschuldige, ich hatte vorhin großen Andrang auf Ersatzteile. Was kann ich für dich tun?"
Jetzt oder nie!

„Du kannst mir bitte zu Ende zuhören und dann mein Angebot annehmen."

Was meinst du damit?"
„Warte, ich lese dir vor, was die Jungs mir heute geschrieben haben."

Ich öffne eine Nachricht nach den anderen und lege mein ganzes Herz in meinen Vorlesen hinein. Am anderen Ende ist es immer noch gespenstisch. Ich höre nicht mal seinen Atem.

Sejin? Bist du noch dran?"
Seine Stimme klingt schockiert – und nach unterdrückten Tränen.

Ist das euer Ernst? Ihr wollt mir alten Knacker das Leben retten?!?"

"Ganz genau das wollen wir. Ich definiere seit einem halben Jahr mein Leben neu. So ganz nebenbei sind mir dazu diese sieben Männer vom Schicksal anvertraut worden. Und jetzt eben auch noch du. Du bist wichtig! Es ist wie ein großes Puzzle. Du bist ein Teil davon. Jimin findet seinen Halt bei dir. Taehyung verdankt deiner Initiative seine Freiheit. Bitte nimm mein Angebot an!"


Wieder Stille. Dann höre ich Sejin schniefen. Er scheint sich beruhigen zu wollen.

„Sejin?"
„Ja?"
„Du hast noch nicht zugestimmt, aber vielleicht brauchst du einfach auch Zeit, das zu realisieren. Magst du mir mehr über deine Krankheit und die Therapie erzählen?"
Hm."
Sejin putzt sich die Nase.

"Ich ... habe Leukämie. Ich war immer ein Draußenmensch, habe immer körperlich gearbeitet, ich war immer kerngesund und fit. Deshalb habe ich als junger Mensch mit einer Basiskrankenversicherung begonnen. Ich hab mich auf der sicheren Seite gesehen. Und Weil ich mich so stark gefühlt habe, habe ich leider erst vor zwei Monaten kapiert, dass ich unnatürlich schnell immer müder werde. Und dass ich mal zum Arzt gehen sollte.
...
Um jetzt noch eine Überlebenschance zu haben, bräuchte ich eine Stammzellentherapie. Und dafür einen passenden Spender. Und eine lückenlose Behandlung über Jahre. So jemand zu finden, hat eine Wahrscheinlichkeit von 1:20.000, Ergebnis ungewiss. ... Und das ... Das kann ich mir nicht leisten."

Ach, Sejin. Das klingt echt entmutigend. Aber – bitte: nimm mein Angebot an! Lass mich bittebitte deine Behandlung und die Aufstockung deines Krankenkassenvertrages finanzieren."
„Das mit dem Vertrag ist nicht so einfach. Und ... du hast doch gar nichts davon."
„Ich bin studierte Versicherungsexpertin. Und – doch, ich habe etwas davon: dass du weiter leben darfst. Ein Menschenleben ist das Wichtigste, wofür man überhaupt kämpfen kann."

Nun höre ich ihn am anderen Ende richtig weinen. Ich gebe ihm die Zeit, zumal ich vor lauter Anspannung und Sorge selbst mit den Tränen kämpfe. Nach ein paar Minuten gibt er mir dann seine Antwort.

" Ja. Ich wäre schön blöd, wenn ich nein sagen würde. Ich will leben. Ich will weiter erleben, dass es Jimin immer besser geht. Er ist für mich wirklich wie der Sohn, den ich nie hatte - was auch immer sein leiblicher Vater verbrochen hat. Ich sage von ganzem Herzen und mit tiefer Dankbarkeit Ja."
„Das ist das Schönste, das ich seit langem gehört habe. Fühl dich von uns allen umarmt und gestärkt. Hast du heute Abend Zeit? Dann würde ich gerne vorbeikommen."
„Ja, hab ich. Gerne! Vielleicht können wir dann gemeinsam mit Jimin reden. Bis dann."

Wir legen auf. Ich heule haltlos. Vor meinem inneren Auge steht Onkel Harry und nickt mir zu.
Sejin soll leben, falls es noch irgendeine Chance auf Heilung gibt! 
Mit dieser erlösenden Nachricht mache ich mich auf zur Villa. Es ist ungewöhnlich still im gesamten Park. Die Handwerker sind schon alle weg, und keiner der Jungs ist zu sehen. Aber als ich um die Hecke zum Pförtnerhaus biege, sind alle da und sehen mich an - aus den Fenstern, aus einem Liegestuhl, aus der Garagentür. Also platze ich sofort heraus.
"Ja. Ja, er nimmt unser Angebot an. Und ihr alle behaltet gefälligst euer weniges Geld. Was ihr ihm geben könnt, ist viel mehr."
Ich setze mich einfach auch vors Haus. Sofort kommen alles raus zu mir.

"Ich habe kurz gegoogelt. Er hat Leukämie, braucht einen Stammzellenspender und vorher eine heftige Chemo der allerübelsten Sorte. Nichts ist dabei wertvoller als Menschen, die mit ihm aushalten und für ihn da sind."
Erschüttert und erleichtert gleichermaßen fallen sich Tae und Guk in die Arme. Alle atmen tief durch.
Namjoon kommt zu mir und hält mich ganz fest.
"Warum habe ich eigentlich gezögert? Du hattest das selbst schon vor. Stimmts?"
"Klar. Aber ich hab auch ganz lange gezögert, bis ich schließlich angerufen habe. Es fühlt sich so an wie ... ein Übergriff. Als ob ich Gott spielen wollte. Oder so."
"Versteh ich. Aber das ist trotzdem Quatsch. Du tust eins ums andere Mal, was dein Herz dir befiehlt. Daran kann nichts falsch sein."

Anschließend erzähle ich ein bisschen, was ich ergoogelt habe.
"Für normale Therapien ist es zu spät. Es muss jetzt ein Stammzellenspender gefunden werden. Und das muss jemand sein, bei dem das entscheidende Gewebe nahezu hundertprozentig genetisch identisch ist. Dann muss Sejin erst eine Mörderchemo machen, die sozusagen sein komplettes, aus dem Ruder gelaufenes Immunsystem umbringt. Die Stammzellen - wenn sie denn vom Körper angenommen werden - bauen anschließend das Immunsystem wieder neu auf."

Hoseok schüttelt sich.
"Na wunderbar! Das klingt ja alles easy. Nur die vielen 'Wenn' stören dabei ein bisschen. Und wie hoch sind seine Chancen dann?"
"Höher als null. Alles hängt vom Spender ab, und wie gut er selbst die Chemo aushält. Das werden üble Monate zwischen Hoffen und Bangen. Und genau dann, wenn er sich die Seele aus dem Leib kotzt, braucht er Menschen, die ihm Mut machen und das mit ihm aushalten."
Jin ist ganz weiß um die Nase geworden.
"Ich glaub, ICH brauch jetzt einen Themenwechsel."

"Kein Problem, das verstehe ich gut. Ich möchte euch noch um Mithilfe bitten. Am Dienstag ist ja die erste Vollversammlung aller Sachverständigen für die Stiftung, und zwar hier im großen Saal."
Hoseok unterbricht mich.
"Äh - das hattest du uns noch gar nicht erzählt."
"Echt nicht? Uuuups! Da sieht mans mal wieder. Viele Suppen verderben den Koch. Oder so. Das ist seit einigen Tagen in Planung, die Baustelle ruht morgen. Jin weiß schon Bescheid, wird morgen früh einkaufen und für das Buffet sorgen. Aber ich kann alle eure Hilfe dafür brauchen. Morgen Vormittag werden jede Menge gemietete Möbel, Geschirr und Technik geliefert werden. Könntet ihr mit anpacken und alles vorbereiten? Und während der Veranstaltung würdet ihr dann mit Jin zusammen für das Catering sorgen. Könnt ihr euch das vorstellen? Entschuldigt, dass das jetzt so plötzlich kommt."

Sofort sitzt Guk grade auf seinem Sonnenstuhl. 
"Na klar doch. Das wird spannend. Und du machst das ja alles im Grunde auch für uns."
Alle anderen nicken dazu.
"Danke sehr. Die Stunden werden natürlich aufgeschrieben. Ich schicke euch dann heute Abend Informationen, Skizzen und so weiter. Ich habe vollstes Vertrauen, dass ihr das alles prima hinkriegen werdet."

Und noch einmal wechsele ich das Thema.
"Tae, habt ihr schon einen Termin für Jimins nächsten Besuch gemacht?"
"Jupp. Am Mittwoch wieder. Und ich hätte Lust, vorher einmal gemeinsam das fragliche Gelände abzulaufen. Wir hatten so viele tolle Ideen letzte Woche. Was haltet ihr davon?"
"Gerne. Ich werde mich dann demnächst absetzen und zu Sejin fahren. Aber ich komm erst noch mit raus."
Bevor wir uns alle erheben, hakt Jeongguk noch ein.
"Ich habe übrigens eine richtig gute Nachricht. Am Freitag verschwindet die blöde Baustelle, und ich kann morgens wieder eine halbe Stunde länger schlafen. Endlich!"
Diese Botschaft hebt die allgemeine Stimmung deutlich.

Wir stromern draußen durchs Gelände und spinnen alle möglichen Ideen aus. Aber dann zieht es mich doch zum Schrottplatz.
"Ich mach mich dann auf den Weg. Ich kuck mir heute auch die U-Bahn-Waggons an, nehme ein bisschen Maß und kann dann berichten. Könntet ihr in der Villa schon für morgen loslegen? Das wäre klasse. Bis Mittwoch!"

Ich komme zügig durch und rolle deshalb schon bald auf den Parkplatz vor dem Schrottplatz. Jimin und Sejin sitzen vor dem Bus in der Sonne und unterhalten sich. Der Hund liegt wie hingegossen in den nachmittäglichen Sonnenstrahlen im Gras und döst entspannt. Ich genieße einen Augenblick lang diesen schönen Anblick und setze mich dann einfach dazu. Jimin wird sofort stiller und irgendwie kleiner, Sejin begrüßt mich.
"Hallo, Cornelia. Schön, dass du da bist, das passt. Jimin hat mich grade das selbe gefragt wie du gestern Abend. Und ich habe ihm erklärt, wie Leukämie und eine mögliche Therapie aussehen. Vielleicht kannst du ihn beruhigen?"
Unruhig sieht er eigentlich gar nicht aus! Mehr so ... verschreckt? Hilflos? Traurig?
"Gerne! Nichts lieber als das."

"Erstmal hallo, Jimin. Ist es in Ordnung, wenn ich hier einfach so reinplatze?"
Jimin hebt den Blick und nickt mir zu. Also setze ich mich und rede einfach weiter.
"Danke! Ich wusste schon ein paar Wochen, dass Sejin den Schrottplatz aufgeben muss. WIE krank er ist, wurde mir erst gestern klar. Ich habe aber schon vorher kapiert, was das für dich bedeutet - du kannst hier leider nicht bleiben. Also musst du irgendwo hin. Darum möchten wir weiter Vertrauen aufbauen und dir dabei helfen. Du ahnst nicht, WIE erleichtert ich gestern war, dass du das Angebot angenommen hast.
Über Nacht haben wir dann alle weiter gedacht. Nicht nur ich, auch die anderen haben eins und eins zusammengezählt. Unabhängig voneinander haben mich heute alle anderen angeschrieben und gebeten, ob ich nicht die Behandlung bezahlen könnte. Sie haben mir die wildesten Hilfsangebote gemacht, um Sejin und damit auch dir zu helfen."

Jimin schaut mich direkt an. Ich kann sehen, dass er mit den Tränen kämpft.
"Alle? ..."
Jimin schluckt, schüttelt leicht den Kopf. 
"Sowas kenne ich nicht. Sogar das macht mir Angst. Freundlichkeit ... hatte schon immer ... ihren Preis. Ich hatte noch nie einen richtigen Freund. So wie Tae. ... ... ..."
Er zögert. Scheint nahezu fassungslos. Mir läuft es kalt den Rücken runter.
"Auf einmal so viele Menschen, die nett zu mir sind. ... Das ist so unwirklich. Und so toll! In den letzten vier Jahren waren mein Chef und Sejin die einzigen Menschen, die für mich da waren. Ich wünsche mir, dass ... du noch ganz lange da bist, Sejin. Ich kann auch was dazutun. Ich gebe ja kaum Geld aus!"

Was für ein besonderer Moment. Ich nehme mich ganz zurück.
"Allein, dass ich in den letzten Jahren für dich da sein durfte, ist ein Grund, um um mein Leben zu kämpfen."
Fast magisch ist der Blickkontakt zwischen dem totkranken Mann und dem traumatisierten Jungen. Sie sind ein ungewöhnliches, aber wunderbares Gespann.

Ohne den Blickkontakt mit Sejin zu brechen, spricht Jimin mich an.
"Nelli, darf ich dir meine Ersparnisse geben?"
"Danke, Jimin. Aber du bekommst die selbe Antwort wie alle anderen: ich bezahle, ihr haltet mit ihm aus, was die Therapien ihm abverlangen werden.
Ich hatte das sowieso schon beschlossen, irgendwann mitten in der Nacht. Vorhin hat Sejin mein Angebot angenommen. Und darum machen wir das jetzt so. Sejins Überleben ist damit nicht garantiert, aber am Geld und an unser aller Unterstützung soll es nicht scheitern."
Eine Weile schweigen wir miteinander, jeder hängt seinen Gedanken nach. Jetzt, wo alles ausgesprochen ist, werden die Ereignisse ihren Lauf nehmen. Und diese Klarheit erzeugt zumindest bei mir Gefühle wie Sicherheit und Entspannung.

Nach ein paar Minuten versucht Jimin ganz leise, etwas zu sagen. Sofort schenke ich ihm meine Aufmerksamkeit. Seine Stimme ist völlig verändert, so unsicher und leise.
"Nelli? ... Tae hat mir erzählt ..., dass ... er und die anderen ... dir ihre G... Geschichte erzählt haben. Er hat gesagt, für ihn wäre es die Befreiung gewesen. ... Ich glaub ihm das auch. ... Aber ..."
Ich lächele Jimin weich an und nicke ihm zu.
"Muss ... ich das auch, wenn ich ... zu euch ziehe?"
Ich bemühe mich, den zaghaften jungen Mann schnell zu beruhigen.
"Überhaupt nicht. Nie, wenn du das nicht willst oder schaffst! Du darfst einfach da sein, deiner Arbeit nachgehen, dir deinen Platz in der Gruppe suchen, dich gärtnerisch im Park austoben. Du wirst nur so viele Menschen um dich herum haben, wie du das willst. Aber du musst nie allein sein, wenn du das grade nicht aushalten kannst. Dein Bus wird richtig ein eigenes Grundstück, eine Hausnummer und Adresse, Wärme, Licht und Wasser bekommen. Es soll wirklich dein ganz normales, legales Zuhause sein."

Jimin hat die Augen geschlossen, und sein Gesicht ist weich geworden während meiner Antwort. Er scheint ganz weit weg zu sein. Auf einmal flüstert er etwas.
"Als Kind hab ich oft geträumt, dass ich in einem kleinen alten Haus lebe, das mitten in einer Landschaft mit Pflanzen und Tieren, aber ohne Menschen steht. Es gibt einen dichten Wald, einen spiegelglatten See, blühende Gärten, bunte Wiesen und geheimnisvolle Höhlen. Alle Pflanzen und Tiere nicken mir zu, wenn ich vorbeikomme. Und die Vögel singen ihre schönsten Lieder. ... Da wollte ich schon immer hin."
Wieder schweigt er. Ich flüstere automatisch auch.
"Das muss ein wunderbarer, friedlicher und lebensfroher Ort sein! Ein Paradies. Wie schön, dass du so einen Ort kennst, der dir nur gut tut. Jeder Mensch sollte so einen zauberhaften Garten in sich tragen."

Erstaunt öffnet Jimin die Augen.
"Du ... du lachst mich nicht aus für diesen kindischen Traum?"
"Ganz, ganz bestimmt nicht. Und der Traum ist nicht kindisch sondern heilsam. Er tut dir gut! Dieser Garten hält Dunkelheit und Angst von dir fern. Wer dich dafür auslacht, ist phantasielos und versteinert im Inneren. Du kennst Schmerz und Angst. Aber du kennst auch diese geheimnisvolle Welt deiner Sehnsucht. Du spürst, dass du lebst. Das ist viel, viel mehr - und niemals kindisch."
Wieder zeigt Jimin dieses glückliche Strahlen von innen heraus, wie gestern.
So lebendig! Und so schön.

"So hab ich das noch nie gesehen. ... Du bist so anders, Nelli! Ich habe immer versucht, NICHT anders zu sein, damit ich nicht auffalle. Aber es ist gut, dass du anders bist."
"Danke für dieses Kompliment. DAS tut MIR gut!"
Ich denke, es ist an der Zeit, dem Gespräch wieder etwas Leichtigkeit zu verleihen.
"Habt ihr Lust, mir die U-Bahn-Waggons zu zeigen? Ich bräuchte ein paar Maße."
"Jimin? Kannst du Cornelia alles zeigen? Dann suche ich in der Zwischenzeit nach den Papieren. Da stehen jede Menge Maße drin."

Wir erheben uns und gehen auseinander. Erst hält Jimin Abstand zu mir. Allmählich kommt er mir immer näher. Und als da ein Hindernis im Weg ist, klettert er drauf und hält mir die Hand hin, um mir drüber zu helfen. Seine Hand zittert leicht, als ich sie berühre. Aber das Zittern weicht schnell einer starken sicheren Wärme. Mit zwei großen Schritten bin ich drüben.
"Danke. Du bist ein echter Kavalier."
Erst wird er ein bisschen rot, dann zeigt er neben einen großen Pressauto-Haufen.
"Dahinter sind die Waggons. Sie haben mindestens die Länge vom Bus, sind aber glaube ich noch ein bisschen breiter. Da kann man bestimmt eine Menge draus machen."

Auf einer freien Fläche stehen vier blaue Waggons, ziemlich verrostet, fast antik. Kurz ertappe ich mich dabei, dass nostalgische Erinnerungen an meine Schulzeit in mir aufkommen, und fühle mich seltsam alt. Es sind zwei Waggons mit Rädern, zwei ohne. Und ein fünfter ist aufgeschnitten wie eine Salami.

Es ist spannend zu sehen, wie der Waggon konstruiert und isoliert ist. Aber leider hat das Innere doch erheblich unter der Witterung gelitten. Wir werden sehen. Gemeinsam stromern wir um und durch die Waggons. Zum Teil sind die Sitzbänke schon entfernt oder von Mäusen bevölkert. Der Boden ist ausgetreten, hier klemmen die Eingangsstufen, dort ist die Elektrik ausgeschlachtet. Aber alle Waggons sind noch dicht, und das ist die Hauptsache.

"Lass uns zurückgehen. Sejin wird die Papiere sicher inzwischen gefunden haben."
Ich knipse ein paar Photos für die Jungs, dann wenden wir uns wieder zum Ausgang. Sejin sitzt mit einer dicken Mappe vor Jimins Bus.
Er sieht in der Tat müde aus. Es wird Zeit, dass er sich um sich kümmern kann.
Ich lasse mir die Papiere erklären und breche dann bald auf, damit wir alle zur Ruhe kommen können.

Zu Hause mache ich es mir erstmal gemütlich und informiere die Jungs mit Bildern und Zahlen über die Waggons, damit sie sich mit einem Maßband ins Gelände stürzen und neue Ideen auskochen können. Alle sind erleichtert, dass Jimin die bevorstehenden Veränderungen so gut für sich akzeptieren kann.

Anschließend chatte ich mit Namjoon, der inzwischen auf dem Weg zur Arbeit ist.
Dabei traue ich mich, einen weiteren Aspekt zu anzusprechen.
"Allmählich merke ich, dass der organisatorische Aufwand nicht mehr nebenbei zu erledigen ist. Die Stiftung gründen, das Marketing dafür, das Netzwerk aufbauen, dazwischen sowas wie die Genehmigung und den Transport der Waggons vorbereiten, wir brauchen langsam mal einen Graphikdesigner, der nach unseren Vorstellungen ein Logo, einen Briefkopf, Plakatvordrucke, Werbeflyer und so weiter für die Stiftung entwirft. Die Schreibtischarbeit nimmt überhand. Alleine schaffe ich das nicht mehr."
"Kann ich dir helfen? Was davon könnte ich übernehmen?"
Ich verkneife mir, sofort zu antworten mit: "Alles! Ich will dich immer noch als Geschäftsführer für die Stiftung haben."

Stattdessen sortiere ich blitzschnell im Kopf die Bereiche, damit ich antworten kann.
"Ich würde mich riesig freuen, wenn du bei allen Finanzen mitkämst zur Bank. Die ganzen Steuerfragen. Einen Wirtschaftsplan aufstellen. Über notwendiges Personal nachdenken. Sowas alles. Das wird jetzt alles immer konkreter. Ich möchte aber, dass das Hand und Fuß hat, dass ich nicht erstmal rumprobieren muss."

Einen Moment lang kommt keine Antwort. Ich denke schon, dass er grade umsteigt und deshalb nicht antworten kann, da ploppt die nächste Nachricht auf.
"Du gibst nicht auf. Verstehe ich das richtig?"
"Irgendwie schon. Bist du böse?"
"Nein. Natürlich nicht, Liebes. Ich fühle mich geehrt von Deinem Vertrauen in meine Fähigkeiten. Aber ich habe auch Angst, dir und der Sache zu schaden. Ich möchte nicht der Grund fürs Scheitern sein."

Schade. Als ich damit angefangen habe, wollte ich gar nicht bewusst auf dieses Thema anspielen. Aber insgeheim hoffe ich noch. Es wäre eine Schande, Namjoons Gaben und Knowhow brach liegen zu lassen!
"Das weiß ich, Schatz. Aber zumindest jetzt vorher und später dann vom Hintergrund aus kannst du doch mitmischen. Oder? Jetzt am Dienstag ist die erste Versammlung in der Villa, um die Gründung vorzubereiten."
"Klar! Die Stiftung ist doch unser aller gemeinsames Baby."

Namjoon schickt noch ein bisschen Herzchenspam und den liebevollen, aber durchaus ernst gemeinten Befehl, ins Bett zu gehen. Dann kommt nichts mehr. Er scheint jetzt an der Tanke zu sein. Und ich gehe tatsächlich schlafen.

........................
16.3.2023    -    24.3.2024


Keine Ahnung, ob der Link funktioniert, aber hier fand ich das ganze Stammzellenspendedings am besten erklärt:

https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/aktuelle-themen/aktuelle-themen-2016/leukaemien-wie-eine-stammzellspende-leben-retten-kann.html#:~:text=Da%20bei%20Leuk %C3%A4mie%2DPatienten%20die,Aufgabe%2C%20gesunde%20Blutzellen%20zu%20bilden.

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