40 - Und 10, 9, 8, 7, 6, 5, ... Bäm!

Am Dienstag nehme ich mir in der Mittagspause Zeit und konsultiere meinen Kalender. Schnell fallen mir zwei Termine ins Auge, die passen könnten. Also gehe ich früher zurück an meinen Arbeitsplatz, setze ein vorläufiges Einladungsschreiben auf, bitte um zügige Antwort und maile diesen Brief an alle Beteiligten. Jede und jeder, die mit der Villa oder der Stiftung etwas zu tun haben, bekommen diese Mail.

Vielleicht ... Ich glaube, ich sollte diese Versammlung im großen Saal der Villa stattfinden lassen. Denn manche dieser Leute haben die Villa noch gar nicht gesehen. Bis dahin sollte ich auch Marketingstrategen und Graphikdesigner im Boot haben. Und Jin wird für das Essen sorgen! Die Küche in der Villa ist nämlich schon ziemlich weit. Da kann er sich austoben.
Möbel und Geschirr kann ich ja mieten und liefern lassen. ... Hm. Wir werden auch Veranstaltungstechnik brauchen, falls wir mit Bildern, Tabellen und anderem arbeiten müssen. Und ich sollte ein Portfolio zum Stand der Dinge machen, denn manche kennen bisher nur ihren Teilaspekt.

Im Nullkommanichts sammelt sich eine lange ToDo-Liste für heute Abend an. Zum Glück ist dann meine Pause rum, und ich muss wieder meiner eigentlichen Arbeit nachgehen.
Am Abend zu Hause schnibble ich mir einen leckeren Salat, mache es mir bequem und mümmele vor mich hin, während ich Google nach Grafikern und Marketingfritzen, Geschirr- und Möbelverleihen durchforste. Langsam schrumpft die Liste wieder. Und ich komme sogar zu einer vernünftigen Zeit ins Bett.

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Wie immer freue ich mich besonders auf den Mittwoch Abend, wenn Namjoon frei hat. Der schmerzhafte Aussetzer vom Montag ist schon ganz weit nach hinten gerutscht. Wir brauchen beide Bewegung und nutzen darum aus, dass wir endlich normal angenehme Temperaturen haben. Also steigen wir mal wieder die Hänge des Bukhansan hoch. Der Wald beginnt, herbstlich bunt zu werden, Staub tanzt in den Lichtstrahlen am Waldboden und malt helle Streifen ins dämmrige Unterholz. Intuitiv steuere ich unsere Richtung so, wie ich schon als Kind immer gelaufen bin. Bis plötzlich am Wegrand ein uralter Baum auftaucht, dessen Äste ganz waagerecht gewachsen sind und dadurch eine Art natürliche Treppe hinauf in die Baumkrone bilden.

"Wahnsinn! Sowas hab ich ja noch nie gesehen."
"Das war früher mein absoluter Lieblingsbaum. Immer, wenn ich nachdenken wollte, bin ich hierher gekommen, habe mich da oben versteckt und meine Gedanken sortiert. Wie schön, dass der alte Riese immer noch steht."
"Witzig. Du hast mir im Park von Charlottenburg ja den Baum gezeigt, in dem du im Frühjahr immer gehockt hast. Du hattest also offensichtlich schon immer einen Hang zu Baumverstecken."
"Jetzt, wo du es sagst. Mir ist das gar nicht aufgefallen. Dieser alte 'Mann' ist für mich als Kind alles Mögliche gewesen - eine belagerte Burg, ein festes Schiff auf stürmischer See, im Winter mein eigenes, geheimes Planetarium mit unzähligen Sternen am Himmel, im Sommer eine Oase in der Wüste, Räubernest, bürgerliche gute Stube, Adlerhorst hoch an der Felswand, eine Höhle voller seltsamer Geräusche, die es zu erforschen galt. Hier konnte ich die ganze sichtbare und unsichtbare Welt entdecken. Hier hab ich mich immer sicher und glücklich gefühlt."

Gemeinsam kraxeln wir die 'Stufen' hinauf und setzen uns auf einen dicken Ast. Um uns drumrum summen Insekten, knuspern Raupen, zwitschern Vögel. Hier oben ist Frieden. Zwischen den sich bunt färbenden Blättern haben wir einen weiten Blick über die Stadt Seoul, die träge im Dunst da liegt und auf den Abend wartet. Wir schweigen zufrieden, halten uns an der Hand und genießen, dass wir einander haben.

Irgendwann schaut Namjoon auf die Uhr.
"Ich glaube, wir sollten zurückgehen. Heute wird doch wahrscheinlich auch Jimin kommen. Hoffentlich fühlt er sich wohl bei uns in der Pförtnerei!"
Wir klettern wieder runter vom Baum und machen uns auf den Heimweg. Als wir die letzten Schritte unter den Bäumen machen, können wir schon die Straße einsehen.
"Hast du gesehen? Witzig! Eben sind Tae und Jimin durchs Tor gegangen. Wir kommen grade rechtzeitig. Ich freu mich so - über beide."
Hand in Hand schlendern wir die Straße vom Wald runter zum Anwesen.
"Das geht mir ganz genau so. Ich habe Jimin ja noch nie direkt gesehen, aber er scheint ein wirklich liebenswerter Mensch zu sein. Wollen wir hoffen, dass Taehyungs Geduld und Hartnäckigkeit ..."

In diesem Augenblick ertönt ein markerschütternder, panisch klingender Schrei, der mir durch und durch geht. Auch Namjoon zuckt zusammen.
"Was ist da denn los? Komm schnell, das klang nicht gut."
Während wir die Straße runter zum Tor sprinten, hören wir als nächstes wütendes Gebrüll von Taehyung. In dem Augenblick kommt Jimin mit angstverzerrtem Gesicht wie ein Kugelblitz aus dem Tor geschossen und rast davon, während Taes Stimme näher kommt. Er ruft immer wieder nach Jimin, der aber überhaupt nicht reagiert.
Also rennt auch Tae an uns vorbei und schimpft dabei wie ein Rohrspatz.
"Diese Arschlöcher. Das war so überflüssig. ... Jimin!!! ... Der lässt mich doch nie wieder an sich ran. ... Warte, Jimin!"
Weg ist er.

Joon und ich sehen uns betroffen an. Dann setzen wir uns wieder in Bewegung, so schnell es geht, den Hang hoch. Je mehr wir uns der Pförtnerei nähern, desto mehr Stimmen sind zu hören. Auf den letzten Metern kann ich dann Jins Jammern, Hobis fruchtlose Befehle und Jeongguks grenzenlose Wut voneinander trennen.

"Erst den großen Retter und Vorbild spielen. ... Am Arsch! ... Du hast mich verraten. ... Uns alle. ... Sind wir deine Versuchskaninchen, oder was???"
Namjoon ist schon vor mir durch die Tür. Der Anblick, der uns im Gemeinschaftsraum erwartet, verschlägt mir erstmal die Sprache. Der Raum ist ein einziges Chaos, wie nach einem Wirbelsturm. Jin hat sich weinend hinter dem großen Tisch verschanzt. Der Weg zur sicheren Küche ist ihm versperrt. Hoseok versucht, irgendwie an den tobenden Jeongguk ranzukommen und ihn aufzuhalten, kassiert dabei aber selbst lauter Schläge. Und Jeongguk - ist grade dabei, in rasendem Zorn Yoongi tot zu prügeln. So sieht es jedenfalls auf den ersten Blick aus. Ich stehe starr vor Entsetzen, bin vollkommen überfordert und verstehe die Welt nicht mehr.

"... Wo sind jetzt unsere tollen Handzeichen? ... Hast du mir auch nur einmal die Wahrheit gesagt? ... Ich hab dir vertraut. Tatsächlich wieder jemand vertraut! ... Und du? ... Anzugträger. Sackgesicht!"
Yoongi taumelt, weicht den Schlägen halbherzig aus, wehrt sich aber überhaupt nicht und gibt keinen Ton von sich. Sein Gesicht ist blutüberströmt, das eine Auge zugeschwollen, sein linker Arm hängt schlaff am Körper, seine Hose ist zerrissen. Wenn er ein paar Schritte macht, sieht man, dass er hinkt.

Namjoon springt auf der Stelle dazu, nimmt den überrumpelten Jeongguk in den Schwitzkasten und zerrt ihn zum hinteren Flur. In dem Moment, in dem keine Schläge mehr auf ihn einprasseln, bleibt Yoongi schwankend stehen, schließt das zweite Auge und sackt mit einem Seufzer bewusstlos zu Boden. Ich hocke mich sofort neben ihn.
Hirn, du bist dran. Steh mir bitte bei. Atmung, könntest du bitte deinen Job machen?!?
Mühsam versuche ich, wenigstens das Chaos in meinem Kopf zu sortieren.
"Jin, geh in die Küche und versuche, dich zu beruhigen. Hobi, hilf bitte Namjoon. Und dann brauche ich Verbandszeug."

Zum Glück reagieren die beiden sofort. Aus dem Flur dringen Kampfgeräusche und Jeongguks Gebrüll. Da geht schon wieder was zu Bruch. Aber seine Stimme klingt anders. Als ob er jetzt dazu auch noch weint.
Ich lasse kurz meinen Blick durch den Raum schweifen. Etliche Stühle, Bücher und andere kleinere Gegenstände liegen wahllos im Raum verstreut. Die Tischdecke ist runtergezerrt und hat alles, was draufstand, mitgerissen. Dazwischen ein kaputt getretenes Handy. Ein ausgeschütteter Rucksack. Yoongis Käppi. Blutstropfen.
Hier liegt nicht nur Geschirr in Scherben - sondern auch die WG, die wachsende Geborgenheit und das zaghaft blühende Vertrauen.
Ich beiße die Zähne zusammen und schlucke das lähmende Entsetzen runter.
Dafür ist jetzt keine Zeit!

Ich fühle Yoongi den Puls, der zum Glück gleichmäßig ist, und bringe ihn in die stabile Seitenlage. Jin hat sich einigermaßen wieder gefasst, beißt die Zähne zusammen und bringt mir warmes Wasser mit sauberen Lappen, gleich danach noch den Verbandskasten. Ich zittere am ganzen Körper, während Yoongi gespenstisch still da liegt.
Ich lege ein Handtuch unter Yoongis Kopf und wasche ihm erstmal Gesicht und Hände. Ich versuche, sein blaues Auge und die Nase zu kühlen und lege ihm auch noch einen kalten Lappen in den Nacken.

Ich atme tief durch. Dann schaue ich mir den Rest des Körpers an.
Er wird morgen sicher grün und blau sein, wo immer Jeongguks Schläge und Tritte ihn erwischt haben. Aber das viele Blut kommt wohl von der Nase, und daran stirbt man nicht.
Den Arm muss sich ein Arzt ansehen. Also muss ich das Chaos hier Namjoon und Hobi überlassen und Yoongi ins nächste Krankenhaus fahren. Oder Jin fährt uns. Oder so.

Ich kann vor lauter Schock immer noch kaum einen klaren Gedanken fassen. Nur mühsam entringe ich meinem Hirn die nächsten Schritte.
"Okay, Jin. Er ist nur ohnmächtig. Such bitte, ob Yoongi irgendwo seine Brieftasche hat, wir brauchen, falls er überhaupt eine hat, seine Krankenkassenkarte. Als nächstes nimmst du mein Schlüsselbund aus meiner Handtasche und holst das Auto so nah wie möglich hier ran. Ich wäre froh, wenn du uns beide zum Krankenhaus fahren könntest. Danach sehen wir weiter."
Jin macht sich sofort auf die Suche und findet schnell Yoongis Portemonnaie neben dem Rucksack. Dann flitzt er los, um mein Auto zu holen.

Schweigend und höchst verwirrt halte ich bald darauf nicht nur seine Krankenkassenkarte in der Hand - sondern auch seinen Führerschein, dann seine Kreditkarte, schließlich seinen Personalausweis. Min Yoongi. Er ist 27 Jahre alt, hat einen festen Wohnsitz, wohl auch einen festen Job, ein festes Gehalt. Er hat ein Auto und ein Theaterabo. Und offensichtlich viel schauspielerisches Talent.
Himmel, waren wir blind! Das dürfen die anderen nicht erfahren. Erst muss ich mit ihm reden. Er soll die Chance bekommen, mir selbst die Wahrheit zu erzählen.
Schnell fotografiere ich seine Karten und stecke dann alle zurück bis auf die Krankenkassenkarte. Keine Sekunde zu früh - Jin kommt wieder rein.
"Packst du bitte ein paar Nachtsachen und Klamotten in Yoongis Rucksack? Ob du jetzt ans Bad rankommst, weiß ich nicht. Aber neue Zahnbürsten gibts ja an jeder Ecke."

Vorsichtig geht Jin in den hinteren Flur und kommt mit ein paar Kleidungsstücken wieder. Durch die angelehnte Tür kann ich hören, dass Jeongguks Gebrüll in lautes Weinen und Schluchzen übergegangen ist. Hobi taucht auf und fragt, ob wir Hilfe brauchen. Beim Anblick des bewusstlosen Yoongi verstummt er erstmal.
"Ein paar seiner Sachen aus dem Bad wären gut. Und dann geh ruhig wieder zu den anderen. Jin bringt uns ins Krankenhaus."
Schnell ist alles für Yoongi beisammen. Zu dritt heben wir ihn vorsichtig hoch und falten ihn auf meine Rückbank. Ich hocke mich dazu und lege seinen Kopf auf meinen Schoss. Hobi geht wieder rein, und Jin setzt sich ans Steuer.

Unten am Tor kommt uns Taehyung entgegen. Alleine. Und stinkwütend. Schnaufend bleibt er neben meinem Auto stehen, mit geballten Fäusten und scharrenden Hufen. Ich kann förmlich eine zornige Rachewolke über seinem Kopf schweben sehen. Er berichtet kurz.
"Ich konnte Jimin noch einholen. Aber er stand völlig unter Schock. Und er hat mich gebeten, ihn doch besser in Ruhe zu lassen, er habe einfach zu viel Angst. Ich könnte platzen vor Wut. Wenn bei Jeongguk die Kabel durchschmoren, macht er echt nur noch Unsinn. Ich würde am liebsten IHN verprügeln. Vollidiot!"

Ich bremse seinen zornigen Redeschwall. Er hat ja mit allem recht. Aber Rache und noch mehr Aggression sind jetzt genau das, was wir nicht brauchen können.
"Dann renn jetzt bitte dreimal um die Villa oder hacke drei Festmeter Holz. Das hilft dir doch immer ganz gut. Ich kapiere noch gar nichts, versuch also bitte, dich zurückzuhalten, bis ich mit beiden geredet habe."
Taehyung knirscht mit den Zähnen, nickt aber zur Bestätigung und joggt dann den Hang zur Villa hoch.
Hoffentlich geht das gut! ... Definiere "gut" ...
"Fahr bitte los, Jin."

Während ich Jin durch den Abendverkehr zum nächsten Krankenhaus dirigiere, beobachte ich aufmerksam Yoongi. Sein Gesicht ist zwar geschwollen, aber nicht mehr so gespenstisch blass. Sein Blutdruck scheint sich zu normalisieren, und ein paar Minuten später flattern seine Augenlider. Er kommt wieder zu Bewusstsein - fast sich an den Kopf und gibt ein schmerzhaftes Zischen von sich. Ich lasse ihm einfach seine Zeit zum Wachwerden.
Jin fährt sofort nach hinten zur Notaufnahme. Zwei Pfleger helfen uns, Yoongi aus dem Auto zu basteln. Der beißt dabei die Zähne zusammen. Am Bein scheinen nur die Blutergüsse von den Tritten weh zu tun, aber der Arm bereitet ihm erhebliche Schmerzen. Er wird auf eine fahrbare Liege gelegt und zum nächsten Arzt geschoben. Also gehe ich mit und schicke Jin mitsamt meinem Auto zurück zur Villa.

Während Yoongi eingehend untersucht wird, melde ich ihn bei der Patientenaufnahme ordnungsgemäß an. Das ist schneller erledigt, als mir lieb ist, denn dadurch habe ich ... Leerlauf. Ich warte auf dem künstlich beleuchteten, kahlen Flur darauf, was jetzt weiter geschehen wird. Ich bin müde und zittere schon wieder. Meine Gedanken rasen und lassen sich nicht greifen. Ich habe das bittere Gefühl, vor einem riesigen Scherbenhaufen zu stehen, und frage mich, ob da überhaupt noch etwas zu retten ist.
Was um Himmels Willen ist da passiert??? Dass Jeongguk impulsiv ist, wissen wir alle. Aber SO außer Fassung habe ich ihn noch nie erlebt. Eigentlich hatte er sich so gut gefangen, so tolle Fortschritte gemacht! Aber er hat vorhin jede Kontrolle über sich selbst verloren.
Wortfetzen jagen mir durch den Kopf.
Verrat. Versuchskaninchen. Anzugträger. ... ANZUGträger - Yoongi! Wann und wo auch immer Jeongguk das gesehen hat - und sich dabei nicht verkuckt hat - das passt doch alles nicht zusammen!
Mir wird schwindelig, als mir klar wird, dass das jetzt eine Nummer zu groß ist für mich. Und seine Lehre riskiert Guk damit auch. Wenn er da mal so ausflippt, sehe ich schwarz für ihn.

Namjoon schreibt mich an, ob wir telefonieren können. Ich klingele sofort bei ihm durch.
"Und? Wie geht es Jeongguk? Und konntest du was Vernünftiges aus ihm rauskriegen?"
"Nicht wirklich, Schatz. Er sagt immer wieder, dass Yoongi ihn verraten hat. Und dass er ihn mit Aktentasche und noch drei solchen Gestalten vor einem der großen Unigebäude gesehen hat. Und schließlich, dass Yoongi irgendwie schneller unterwegs gewesen sein muss, weil sie gleichzeitig hier angekommen sind. Er hat auf jeden Fall nicht im selben Bus gesessen. Jeongguk hat ihm auf den Zahn gefühlt, und dann ist ihm die Birne durchgebrannt."
Gänsehaut jagt meinen Rücken rauf und runter.
Schluss mit heile WG-Welt. Rums zurück auf den Boden der Tatsachen.

"Was dahinter steckt? Keine Ahnung. Yoongi kann das wahrscheinlich besser erklären als Guk. Wenn er überhaupt noch mit einem von uns redet. Ich bin jedenfalls ebenso ratlos wie ahnungslos. Wie siehts bei euch aus?"
"Jin fährt grade mein Auto auf den Berg. Yoongi ist noch im Untersuchungszimmer. Ich tippe mal auf Nase gebrochen, und irgendwas ist mit seinem linken Arm. Er hat erhebliche Schmerzen, ist aber wenigstens wieder bei Bewusstsein."
"Hm. Wenn Jin das Auto herfährt ... Könntest du dort noch ein bisschen ausharren und Gesprächsbereitschaft signalisieren? Dann komme ich nachher dazu und fahre dich nach Hause."

Ich muss schmunzeln.
Das ist zwar eine hervorragende Idee. Aber wie kommt Namjoon dann nach Hause?
"Einverstanden. Und dann fahre ich DICH nach Hause."
"Quatsch. Ich ... wenn du einverstanden bist ... ich bring mir was mit und schlaf dann bei dir. Du musst morgen erst später arbeiten, wir haben also noch ein bisschen Zeit für uns. Und ich schlafe dann, wenn du bei der Arbeit bist. ... Ist das in Ordnung?"
"Sehr gerne. Ich werde sowieso jetzt nicht gut schlafen können. Und auch alleine sein ist heute eher keine gute Idee. Ich freu mich auf dich!"
"Ich freu mich auch. Dann bis nachher, Liebes."

Eine ganze Weile bin ich weiter meinem Gedankensturm ausgeliefert. Yoongi wird zum Röntgen gebracht. Unruhig laufe ich auf dem Flur auf und ab. Nicht im Traum habe ich mit so einem Ausbruch gerechnet. Das alles hat mich völlig überrumpelt. Aber ich weiß gar nicht, ob man sich auf sowas überhaupt vorbereiten kann.

Jimin fällt mir wieder ein.
Der arme Junge! Da ist er einmal nach Jahren über seinen Schatten gesprungen und hat Taehyung ganz nah an sich rangelassen. Und dann sowas! So ein Gewaltausbruch scheint ihn extrem zu triggern. Was auch immer das über SEINE Geschichte aussagt.
Ich kann Taes Zorn gut verstehen. Trotzdem muss er sich bremsen, bis wir den Grund für Jeongguks Verhalten kennen.

Yoongi wird wieder hergerollt und in das Behandlungszimmer geschoben. Ein paar Minuten später höre ich einen kurzen, mörderischen Schrei, dann ist es still. Er wird jetzt auf ein Zimmer gebracht. Käseweiß im Gesicht, mit zusammengebissenen Zähnen, Tränen in den Augenwinkeln und einem dicken Stützverband um die linke Schulter rollt er an mir vorbei. Ich folge ihm mitsamt seinem Gepäck.

Er wird in einem Dreierzimmer untergebracht. Die beiden anderen Betten sind jedoch zur Zeit leer. Ich glaube, dass ihm das gut tun wird. Keine neugierigen Blicke und Fragen. Und wir können gleich ungestört reden. Der Arzt informiert mich, dass die Schulter ausgekugelt war. Und Yoongi hat außer tausend blauen Flecken auch eine Gehirnerschütterung, weshalb sie ihn ein paar Tage da behalten möchten. Die Nase ist zum Glück nicht gebrochen.
Wie ein Automat sammle ich die Informationen, höre zu, nicke, funktioniere, mache mir geistige Notizen und überlege gleichzeitig fieberhaft, wie ich gleich ins Gespräch mit Yoongi kommen kann. Wenn er nicht will, werden wir gar nichts erfahren. Die Vorstellung gruselt mich. Nicht nur er und Guk - alle brauchen jetzt dringend, dass das Rätsel aufgeklärt, dass die Situation bereinigt wird.

Ich seufze.
Endlich wieder ein unlösbares Problem! Eigentlich schade, ich hatte mich schon fast an den friedlichen Zustand der WG gewöhnt.
Der Arzt hängt noch einen Tropf mit einem Schmerzmittel an den Zugang und verabschiedet sich. Ich gebe Yoongi, was er für die Nacht braucht, räume alles andere in seinen Nachttisch und in den Schrank, helfe ihm beim Umziehen, hole mir einen Stuhl und setze mich neben sein Bett.

Wir schweigen. Fragezeichen hängen in der Luft. Unser beider Müdigkeit und Überforderung schweben wie Nebelschwaden durch den Raum. Yoongi hat die Augen geschlossen, eine tiefe Falte zerfurcht seine Stirn. Schließlich rollen Tränen aus seinen Augenwinkeln. Sein Gesicht wirkt abwechselnd traurig, wütend oder verzweifelt. Leise rücke ich meinen Stuhl ein Stück näher ans Bett und nehme einfach seine Hand. Sein kurzer Druck bestätigt mir, dass das in Ordnung ist.
"Ich ..."
Sofort verstummt er wieder, kratzt Mut und Energie zusammen, redet stockend weiter.
"Ich schäme mich so sehr. So sehr! ... Die ganze Situation ... ist so beschissen. Und ich sehne mich unglaublich danach, endlich offen die ... die Wahrheit sagen zu können. Ich hasse das. ... Und ich hasse meine Feigheit."

"Yoongi, du weißt, dass du mir überhaupt nichts erzählen musst. Aber in diesem Fall wäre ich schon sehr dankbar, wenn ich die ganze Wahrheit erfahren könnte. Sonst wird es für uns sehr schwer, die Wogen wieder zu glätten. Aber nicht mehr heute. Heute nur, was unbedingt raus muss. Und den Rest dann, wenn ich dich morgen wieder besuche und dir mehr Klamotten bringe, okay?"
Ein schmerzhaftes Lächeln huscht über sein Gesicht.
"Und du bist doch ein Engel! Bringt dich denn gar nichts aus der Ruhe? Jetzt weiß ich, wie es sich bei den anderen angefühlt haben muss - Scham und Angst vor Ablehnung - und von dir kommt einfach immer nur warme Annahme und Vergebung."

"Dann schlaf jetzt. Gib deinem Körper Ruhe. Sammle deine Kräfte."
"Kann nicht. Was ist mit Gukkie?"
"Der hat Jin, Hobi und Namjoon. Viel mehr Sorgen mache ich mir um dich. Und um Jimin und Taehyung."
"Wieso das denn?"
"Weil Jimin heute zum ersten Mal einen Besuch versuchen wollte. Er war keine zehn Minuten auf dem Gelände."
"Ach, sch... das hatte ich ja ganz vergessen. WOW! Da haben wir ja einen suuuper ersten Eindruck hinterlassen."

"Seh ich das richtig, dass dir auch der Kiefer wehtut und du lieber die Klappe halten solltest?"
Yoongi nickt vorsichtig.
"Also: Mund zu! Wo war ich stehen geblieben? Taehyung. Tae ist hinter Jimin hergerannt. Aber Jimin hat wieder dicht gemacht, um Abstand gebeten. Und Tae ist bereit für einen Mord."
Yoongi schließt die Augen und schweigt. Wieder laufen ihm die Tränen. Scham klingt mit in seinem Flüstern.
"Traust du mir denn noch? Oder ... Ich wollte immer nur helfen. Stattdessen habe ich meine Seele verkauft."
Ich drücke seine Hand. Er zittert.

"Schhhhhh. Quäl dich bitte nicht. Ja, ich vertraue dir, soweit ich deine echten Anteile bisher erkennen konnte. Und das waren eine ganze Menge. Außerdem wusste ich vom ersten Tag an, dass das nicht alles ist. Ich glaube dir sogar deine Geschichte mit deinem Bruder. Der Schmerz war echt. Mehr muss ich heute nicht wissen. Morgen erzählst du mir dann, ab wo es abweicht. Und wie."

........................
2.3.2023    -    24.3.2024

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