38 - Neuigkeiten

Um dem Jetlag gleich gründlich den Kampf anzusagen, habe ich mich für heute mit So-Ra zu einem frühen sonntäglichen Mädelstag verabredet. Wir chillen, quatschen, kochen und essen. Sie entschuldigt sich für ihre Schmollnummer von letzter Woche, aber dafür fängt sie sich gleich einen Rüffel ein.
So weit kommts noch! Dass die beste Freundin mir nicht mehr spiegeln darf, wenn grade was so richtig schief läuft.

Von Namjoons unerwarteter Antwort auf mein Angebot erzähle ich erst, als sie die Flöhe husten hört und energisch nachbohrt.
"Jetzt rück schon raus mit der Sprache. Was hat er gesagt?"
"Er hat es kategorisch abgelehnt, auch nur darüber nachzudenken, weil er mir und der Stiftung nicht schaden will. Und ich wusste nicht mehr, was ich antworten sollte. Ich hab nur noch geheult."
"Kapier ich nicht. Bei mir hattest du sofort eine Antwort parat - klar, ruhig, schlüssig. Warum ging das bei ihm nicht?"
"Keeeiiiine Ahnung. Mein Hirn war völlig lahmgelegt und zugekleistert."

"Dann friss die unbequeme Wahrheit: lass es ruhen, lass das Projekt erstmal werden. Hol dir bei ihm Rat, aber dränge ihn nicht. Blick nach vorn."
Das dauert mir zu lange, das ist mir zu unsicher. Ich kann das sonst nicht greifen. Und überhaupt!
"Aber das macht mich wahnsinnig. Ich hatte mich so drauf gefreut. Meine Gefühle dazu sind so eindeutig. Ich möchte das mit Namjoon zusammen machen."
"Kannst du. Aber nicht, indem du dich und uns alle anderen vorwärts peitschst. Sondern indem du einen Schritt nach dem anderen gehst und mit Geduld das Projekt wachsen lässt. Gib dem allen Zeit!"
"Geduld! Das dauert alles so lange!"

"Dir ist schon bewusst, dass noch nie so schnell ein verfallenes Haus saniert, eine geniale Idee geboren, ein zukunftsweisendes Langzeitprojekt entwickelt und das Leben von so vielen Menschen so erfolgreich auf den Kopf gestellt wurde, wie du es grade versuchst? Die Nachricht vom Tod deines Onkels kam im März! Wir haben Anfang September, das ist nicht mal ein halbes Jahr. Du sitzt grade in einer Überschallrakete. Halt an! Wo ist bloß meine bedächtige, gründliche, gelassene Nelli geblieben?!? Bitte, mach langsamer, Liebes."
Ab da hält So-Ra einfach nur den Mund und hält mich fest, bis sich der Sturm in mir allmählich legt.

"Was ganz anderes. Willst du heute noch zur Villa? Die anderen Jungs haben dich lange nicht gesehen. Und ich weiß aus sicherer Quelle, dass es Neuigkeiten gibt."
So-Ra wackelt vielsagend mit den Augenbrauen und entlockt mir damit endlich ein Grinsen.
"Na, dann werde ich heute wohl noch auf den Berg fahren müssen."
"Cool! Ich komm mit!!!"
"Sag doch gleich, dass du die Jungs besuchen willst, statt hier ein Krisengespräch vom Zaun zu brechen."

"Moooooment - DAS warst du selbst!"
Ich sag da mal jetzt nichts dazu. Drängelnden Freundinnen sollte man nicht widersprechen ...
"Jetzt gleich?"
"Ich sag Bescheid, dass wir zum Abendessen kommen."
Ach, du meine liebe Besti ... Wer hat es jetzt bitteschön eilig?
Eine Stunde später sind wir auf dem Berg, pünktlich zum Abendessen, und werden von allen sechs Kerlen stürmisch begrüßt. Namjoon umarmt mich einfach von hinten, damit die anderen mich von vorne umarmen und zulabern können.

Zum Glück geht Jin energisch dazwischen.
"Wenn ihr nicht sofort den Tisch deckt und dabei die Klappe haltet, verhaue ich euch alle nacheinander mit dem Kochlöffel!"
Jeongguk zieht den Kopf ein und hüpft beiseite.
"Das wird der Kochlöffel aber nicht lange aushalten."
"Keine Sorge. Ich habe mehrere davon in der Küche."
Ich würde vor Freude über die tolle Stimmung am liebsten tanzen.
Wieviel Energie und Klarheit Jin aufbringen kann, wenn er sicher in seinem Element ist!

Namjoon scheint das zu spüren, denn er flüstert mir ins Ohr.
"Und? Wie lange hältst du es noch aus, bis du bei uns einziehst?"
Ich muss kichern.
Ich? Als einzige Frau mit sechs Kerlen? Mit nur einem Bad? Und null Rückzugsmöglichkeiten?
Diese Vorstellung ist so ernüchternd, dass ich ohne zu zögern den Kopf schüttele.
"Nie!"
Joon drückt mich noch mal kurz, bevor er mich loslässt.
"Schade!"
Höre ich da etwa leises Bedauern?
Leider habe ich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.

Kurz darauf sitzen wir in der großen, fröhlichen Runde um den festlichen Tisch. Ich schaue mich zufrieden um, und mir dämmert was.
"Wenn jetzt jemand wagt zu behaupten, dass dieser Aufwand rein zufällig passiert ist, dann fress ich'n Besen."
"Guten Appetit!"
Jeongguk wieder. Aber alle sieben Personen um mich drumrum grinsen dermaßen breit, dass ihr Besen ganz bestimmt nicht gefährdet ist.
"Euch auch einen guten Appetit, ich gebe gerne ein paar Borsten ab."

Unter allgemeinem Gelächter machen wir uns über Jins Köstlichkeiten her. Heute hat er sich mal an französischen Gerichten ausgetobt. Dementsprechend serviert er formvollendet jedes Gericht zauberhaft angerichtet auf einzelnen Tellern und zu jedem Gang den passenden Wein. Jeongguk schmollt, weil er als einziger noch nicht mittrinken darf und nervt uns so lange mit den appetitlichsten Details, was bei der Weinlese noch alles mit in der Brühe gelandet sein könnte, bis selbst Yoongi aufstöhnt.
"Jetzt gebt ihm schon den Wein! Sonst ess ich in der Garage!"
Jubelnd hält Gukkie Jin sein Glas hin und wackelt mit den Augenbrauen.
"Warum nicht gleich so? Mir wären bald die Argumente ausgegangen."
Aber Yoongi kontert schnell.
"Nur so zur Info - Wein ist keine Cola. Die gängige Einheit pro Trinken ist 'ein Schluck', nicht 'ein Glas'. Kapito?"

Als wir uns alle satt und glücklich zurücklehnen, frage ich provokant in die Runde.
"Und? Sollen wir euch ein bisschen von Berlin erzählen?"
Yoongis energisches "Nö, hier gibts wichtigere Neuigkeiten!" geht im allgemeinen Protestgeschrei fast unter.
"Na gut. Wer von euch fängt an?"
Jin, Taehyung und Hoseok sehen einander an. die beiden Jüngeren nicken Jin zu.
Aha - drei Neuigkeiten. In einer Woche! Na, das ging ja schnell.

"Ich habe erste Schritte unternommen, wie wir es besprochen hatten. Yoongi hat mir geholfen zu googeln - nach Projekten und nach noch offenen Lehrstellen. Dann sind wir einen ganzen Tag lang kreuz und quer durch die nördliche Hälfte von Seoul gefahren, um uns das alles einfach mal von außen anzusehen. Yoongi meinte, dass mir dann die Bewerbungen leichter fallen.
Aber leider ... Ich ... Zwei Panikattacken und einen langen Spaziergang am Han später sind wir ohne Ergebnis wieder nach Hause gefahren. Und jetzt weiß ich nicht mehr weiter."

Jin senkt den Kopf und knetet mit der rechten Hand die Narben an der linken. Auch alle anderen am Tisch sind bei den Nachrichten schnell wieder ernst geworden. Ich erschrecke sehr.
Himmel, sitzt die Angst und Demütigung tief! Gradezu absurd, wenn ich bedenke, WIE klar er vorhin für Ruhe gesorgt hat, und wie fürstlich wir grade eben noch gespeist haben. Die Reihenfolge muss also offensichtlich doch andersrum sein.

"Das tut mir sehr, sehr leid für dich, Jin. Aber ich finde es gut, dass du dich zu nichts gezwungen hast. Und dass Yoongi dabei war. Steck nicht gleich den Kopf in den Sand. Das war der allererste Versuch nach Jahren der Qual und Resignation. Sowas klappt oft nicht gleich beim ersten Mal. Vorhin warst du in deinem Element und hast darum sehr schnell für Ruhe sorgen können. Übersieh die Momente nicht, in denen dir schon ganz viel gelingt. Von innen heraus. Das ist deine Kraft, und sie ist schon da!"
Jin nickt. Aber den Sinn meiner Worte kann er nicht an sich ranlassen. Seine Traurigkeit schwappt wie zähe Knete durch den Raum.
"Darf ich dir eine andere Herangehensweise vorschlagen?"
Jin sieht mich an, und ein Funke Hoffnung glimmt in seinen Augen auf.
"Wenn nicht du, wer dann?"

"Ich erinnere mich, dass wir über diese Möglichkeit schon mal gesprochen haben. Ich denke, dass deine Seele so tief verletzt ist, dass du dir von einem Profi helfen lassen solltest. Dein Lebenslauf ist jetzt schon so zerstückelt, dass eine Psychotherapie in irgendwelchen ignoranten Holzköpfen gar nicht noch mehr Schaden anrichten kann. Hast du inzwischen darüber nachgedacht oder sogar angefangen mit der Suche?"
Jin fehlen die Worte. Das ist ganz schön viel Neuland voller unbekannter Gefahren. Leise streicht Yoongi Jin über den Rücken.
"Verdient hast du es auf jeden Fall, ganz egal, was dein zerstörtes Selbstwertgefühl dir anderes einflüstern will. Du hast es verdient, dass wir für dich da sind, bis du auf eigenen Füßen stehen kannst."
Yoongi - WER bist du? Deine krause Mischung aus Unzufriedenheit und zielorientierter Hilfe, aus Einzelgängertum und Einfühlsamkeit macht mich noch ganz irre!

"Pass auf, ich bin morgen auch hier, da stürzen wir uns wieder ins Internet, zapfen die Seiten von Krankenkassen an und versuchen unser Bestes. Ich bin sicher, dass es einen Therapeuten gibt, der gut zu dir und deinem Problem passt. Jetzt nicht locker lassen!"
Dankbar schaut Jin ihn an, aber er bringt kein Wort raus. Stattdessen sieht er zu Taehyung und Hoseok rüber.

Hobi übernimmt den Staffelstab.
"Wir hatten ja festgestellt, dass ich lieber direkt mit den Menschen arbeiten als erst noch irgendwas studieren will. Also bin ich weiter durch die Stadt gestreift auf der Suche nach Inspiration. Langsam habe ich das Gefühl, dass die Leute, die mir schon einiges erzählt haben, gradezu nach mir suchen. Jedesmal, wenn ich in Hongdae oder Itaewon auftauche, sind sie ein bisschen schneller bei mir - als ob eine Buschtrommel meine Koordinaten weitergeben würde. Beim letzten Mal hatten zwei von denen einen sehr ordentlich gekleideten Mittvierziger im Schlepptau, der sich in diesem bunten Haufen sichtlich unwohl gefühlt hat. Ich hab uns schnell einen Platz mit Bänken gesucht, damit wir uns setzen können und er sich nicht so umzingelt gefühlt hat. Dann hat er mir erzählt, warum die Jungs ihn mitgeschleppt haben."
Hoseoks Augen bekommen einen hellen Glanz, und seine Stimme klingt auch anders als sonst. Meine Neugierde wächst.

"Er betreibt eine klassische Tanzschule südwestlich von 'Hannam the Hill', also gar nicht so weit weg von Itaewon. Aber er hat immer weniger Schüler, denn den Jugendlichen aus Gangnam ist es nicht fein genug, den Jugendlichen aus Itaewon ist es zu fein, und die paar Kids aus Hannam spielen die hohe Miete nicht ein. Eines Tages haben während eines Anfängerkurses zwei abgeranzte Typen durch die Scheiben gespäht. Er wollte sie schon verscheuchen und ist rausgegangen, aber die beiden hatten den Schneid, ihn zu fragen, ob sie in seinen Räumen trainieren dürfen, wenn er grade keine Kurse gibt. Sie würden so gerne eine richtige Hiphop-Tanzgruppe aufziehen."

Ich sehe mich um.
Man könnte eine Stecknadel fallen hören, so still ist es im Raum. Dabei bin ich wahrscheinlich die einzige, die das alles noch nicht weiß.

"Ich hab mich total gefreut, dass die zwei nach nur ein paar Tanzsessions mit mir schon so eine hoffnungsvolle Zukunftsidee entwickeln konnten. Das sah grade bei den beiden vor ein paar Wochen noch ganz anders aus. Und dass sie sich getraut haben zu fragen. Der Tanzlehrer war so perplex, dass er sie gebeten hat, zu warten, bis er mit dem Kurs fertig ist. Dann haben die wohl ganz lange geredet. Und schließlich haben die Jungs ihm was vorgetanzt. Einfach so auf der Straße. Das hat das Eis wohl gebrochen, denn der Mann musste wieder rein, weil allmählich die Teilnehmer für den nächsten Kurs eingetrudelt sind. Aber er hat sie gebeten, nochmal wiederzukommen."
Cool! Ein Erwachsener, der noch beweglich in der Birne ist.

"Beim zweiten Treffen ist er dann richtig aufgetaut und hat von seinen Schwierigkeiten berichtet. Er hat lange darüber nachgedacht, warum sein früher florierendes Geschäft seit ein paar Jahren so einbricht. Ob er was falsch macht, ob er nicht die richtigen Kursangebote macht für die Jugend von heute, wie er diese idiotischen Klassenschranken überwinden kann. Die Jungs haben nicht so richtig gewusst, was sie antworten sollten, denn das Wort 'Walzer' können die nicht mal buchstabieren. Und auch sie fühlen sich ja unwohl in der Gegenwart der Superreichen. Also haben sie ihn gebeten, mit mir zu reden."

Jetzt wirds spannend. Hoseok traue ich inzwischen sehr viel zu. Mal sehen, was dabei rausgekommen ist!
"Tja, da saßen wir nun. Ich habe ihm erstmal tausend Fragen gestellt - zu seinen Kursen, zu seinem ehemaligen und jetzigen Publikum, zu seinen Preisen, zu den Räumen. Mein Herz hat angefangen zu tanzen bei diesen optimalen Bedingungen. Wie gerne hätte ich solche Möglichkeiten! Wir haben uns unterhalten darüber, was Jugendliche egal welcher Gesellschaftsschicht heute wollen. Da gibt es ja schon Unterschiede - nicht nur im Portemonnaie. Dass dieser Unterschied in der Herkunft sich als so großes, spaltendes Element erweist, hat ihn übrigens richtig geärgert, weil er sich selbst mal von unten nach oben arbeiten musste."

Hobi macht eine bedeutungsvolle Kunstpause.
"Ich hab ihm erzählt, wovon ich träume. Davon, mit Hilfe von Tanz Menschen zu verbinden, Chancen zu eröffnen, Herzen stärker zu machen fürs Leben. Und du glaubst es nicht, Nelli. Er hat angebissen! Er hat sich buchstäblich die feine Seidenkrawatte abgebunden und tief durchgeatmet. Er möchte mich und sogar die Truppe vielleicht mit ins Boot holen, weil er das Gefühl bekommen hat, dass er schon lange nicht mehr so nahe an der Jugend dran war wie in diesen Gesprächen mit uns."
"WOW!"
Spontan falle ich Hobi um den Hals.
"Das ist die eierlegende Wollmilchsau. Der Mann hat die Räume, die Lizenz, die klassische Bandbreite, das geschäftsmännische Knowhow und die geistige Beweglichkeit, die du brauchst. Erzähl weiter!"

Hoseok strahlt über das ganze Gesicht.
"Ich bin so froh, dass du das auch so wahrnimmst. Er hat uns vortanzen lassen. Dann sind wir zu seiner Tanzschule gegangen, haben uns alles angesehen und nochmal getanzt, diesmal mit Spotlight und Supersound. DAS war klasse! Und er mag es. Er mag uns! Junseo hat nicht nur mir sondern auch den anderen das Du angeboten. Er hat uns gefragt und um ehrliche Antworten gebeten, was wir verändern würden für diese Ziele, die ich formuliert hatte. War witzig. Die Kids hätten die Schule lieber gestern als heute in eine coole Hiphop-Hölle verwandelt. Da hab ich dann gebremst und nochmal den Aspekt betont, dass es keine Unterschiede zwischen oben und unten geben sollte. Dass sich ALLE gerne da reintrauen sollten. Dass das Ambiente schon cooler werden, aber auf keinen Fall abgeranzt wirken sollte. Danach wurden die Vorschläge etwas realistischer."

"Und? Wann gehts los? Ich hätte gerne einen KPop-Dance-Kurs!"
Hobi lacht sich schief.
"Gute Idee! Das dauert natürlich noch. Aber ich habe mich dann noch mal allein mit ihm getroffen, um ganz sachlich zu überlegen, was das Marketing, die Veränderungen, die sozialen Herausforderungen für Rahmenbedingungen stellen werden. Denn die Jungs und Mädels, die Junseo erlebt hat, sind ja Zuckerschnecken gegen viele andere, die da draußen rumlaufen. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir das zusammen mit der Truppe renovieren. Dann haben die schon mal ein starkes Zugehörigkeitsgefühl."

"Und?"
"Wir wollen die alten Angebote abspecken, aber jeden Stil grundsätzlich erhalten, denn wer sagt, dass im Ghetto keine unentdeckten Primaballerinas rumlaufen. Dazu sollen eine ganze Reihe aktueller Tanzstile und viel modernere Musik kommen. Ein bisschen mehr Lightshow, günstigere Preise. Ein Sozialpädagoge dazu, der das bunte Menschengemisch gut einschätzen und steuern kann. Und durch den Sozialpädagogen können wir dann auch versuchen, ein anerkanntes Projekt oder sogar ein Verein zu werden und damit öffentliche Zuschüsse zu beantragen. Grundsätzlich für günstigere Preise und nebenbei anonyme Einzelfallhilfe."

Gelobt sei dieser Tanzlehrer! Er lässt sich inspirieren und nimmt Hoseok dann mit auf die Reise. Die beiden scheinen füreinander gemacht.
"Das alles haben wir dann beim nächsten Treffen der Truppe vorgestellt. Die haben erstmal gezögert, weil sie jetzt erst begriffen haben, was ich mit Integration und Schranken überwinden meine. Aber die Aussicht, die Renovierung mit durchzuziehen, hat sie stolz gemacht. Und - ja, der Chef wird sich mit Vereinsgründung und sowas auseinandersetzen. Ich soll inzwischen dafür sorgen, dass es die Stiftung bald gibt. Nelli. Ich kann tanzen! Ich kann Menschen aus der Sinnlosigkeit holen mit Tanzen!"

Spontan stoßen wir mit unseren Weingläsern an und freuen uns wie bekloppt mit Hobi.
Wie schön ist es zu sehen, dass er nun ein klares Ziel ansteuern kann - weil er sich Zeit gelassen und sich selbst genau beobachtet hat.
"Aber jetzt habe ich genug geredet. Tae hat doch auch noch eine Neuigkeit."

Alle Köpfe wenden sich zu Tae, und den Gesichtern nach zu urteilen, wissen die anderen auch noch nichts. Nur, DASS da was ist. Tae setzt sich sofort grade hin und sprudelt los.

"Gestern war ich bei meiner Familie - wie immer. Wir haben alte Gesellschaftsspiele ausgepackt und stundenlang gespielt und gelacht. Ich bin wieder früher weg, wegen Jimin. Irgendwo stehen die Typen nämlich immer noch gut sichtbar rum, auch wenn sie ihm nicht mehr so auf den Pelz rücken. Das reicht schon für seine Angst. Ich bin einfach den ganzen Berg mit rauf.
Herr Kang hat sich mit einem Kuchen und Kaffee auf die Bank vor seinem Haus gesetzt und uns eingeladen. Er hat sich große Mühe gegeben, ganz vorsichtig zu sein. Er hat Jimin erzählt, dass sein Bus eigentlich noch fahrtüchtig ist, wenn man ein bisschen Arbeit reinsteckt. Und dass er Lust hat, an den Sonntagen, wenn der Schrottplatz zu ist, mit uns beiden zusammen Motor und Getriebe zu warten, die Bremsen zu überprüfen und dem Rost den Kampf anzusagen. Jimin wusste erst gar nicht, was er sagen sollte. Dann hat er gemeint, er wär nicht so wichtig.
Aber das hat Herr Kang gleich wieder abgewürgt. Jimin war kurz davor, einfach wegzurennen, aber wir konnten ihn nochmal aus dem Schneckenhaus locken. Herr Kang hat ihm nämlich gesagt, dass ab sofort der Bus Jimin gehört, damit er eine Sicherheit hat, falls er hier mal weg muss. Und dass für ihn Jimin ein toller Mensch ist, der es ganz bestimmt verdient hat, ein richtiges, ein schönes Zuhause zu haben."
"Owei - das war bestimmt sehr schwer für Jimin."

"Sowas von. Erst hat er gar nichts gesagt, dann hat er tausend Gründe aufgefahren, warum das nicht geht. Ich hab doch keinen Führerschein. Ich hab doch keinen anderen Stellplatz. Ich muss doch zu meiner Arbeit kommen. Ich kann nicht, ich darf nicht, ich will nicht, ... Ich möchte ihn am liebsten immer abwechselnd schütteln, um ihn zur Vernunft zu bringen, und umarmen, um ihn vor seinen inneren Dämonen zu beschützen."
Taehyung seufzt frustriert.

"Aber nach einer Weile hat er dann doch zugegeben, dass er auf das Reparieren Lust hat. Also hat Jin mich heute ganz früh auf den Berg gefahren. Zu dritt haben wir die Ärmel hochgekrempelt, um den Bus drumrum Platz geschaffen, Werkzeug zusammengesammelt und die Motorhaube aufgemacht. Mann, ist das Teil antik! Sowas hab ich echt noch nie gesehen. Aber Herr Kang hat uns in aller Ruhe erklärt, was da was ist, was welche Funktion hat, und wie so ein alter Dieselmotor überhaupt funktioniert. Wir haben erstmal ganz einfache Sachen gemacht wie Batterie testen, alle Flüssigkeiten wie Kühlwasser und so auffüllen, Ölwechsel. Wir haben uns einen abgebrochen, um die festgerosteten Glühkerzen rauszubekommen. Fast alle Kabel und Schläuche sind marode. So haben wir uns Schritt für Schritt durch den Motorraum gearbeitet und alle Verschleißteile kontrolliert. Bis zum Mittagessen haben wir bis hinter die Ohren in Öl und Schmiere gesteckt und eine endlose Liste an benötigten Ersatzteilen zusammengeschrieben."

"Cool! Beim nächsten Mal will ich mitkommen. Da lerne ich bestimmt ganz viel für Motorräder dazu."
Taehyung schüttelt sofort den Kopf.
"Sorry, Gukkie. Aber es geht dabei ja nicht ums Basteln und Schrauben. Es geht darum, Jimin in sicherer Umgebung zu mehr Selbstbewusstsein zu verhelfen und seine Welt zu weiten. Weißt du, das Tolle war: Jimin hat überhaupt nicht gemerkt, wie nahe wir uns manchmal gekommen sind, wie oft wir gemeinsam anpacken mussten, weil die Kraft von einem nicht gereicht hat. Er war so ... so normal! Er hat vergessen, Angst zu haben."

"Wollt ihr nur die Technik auf Vordermann bringen, oder werdet ihr den ganzen Bus aufmöbeln? Vielleicht sollten wir mal eine Sperrmülltour mit ihm machen?"
"Ne, Hobi. Das funktioniert noch lange nicht. Jimin musste eine halbe Stunde drüber grübeln, bevor er Herrn Kang IN den Bus gelassen hat, weil der an die Lenkung ran musste. Allein seine Angst gibt unser Tempo vor.
Nach dem Mittagessen haben wir das gesamte Lager auf den Kopf gestellt, um die passenden Ersatzteile zu finden. Erstaunlich, was da alles zum Vorschein kam. Reifen und Bremsen konnten wir schon gleich heute wechseln. Aber bis Jimin den Gedanken zulassen wird, dass dieser Bus vielleicht mal wo anders stehen muss oder wird - das geht noch gar nicht. Es wird also noch eine Weile dauern, bis der Bus wieder irgendwo hinfährt."

Ich freue mich über alles, was Tae erzählt. Und über ihn selbst. Er hat so viel Geduld, hört so genau hin, ist mit Begeisterung und Verstand bei allem, was er anfängt.
Wenn einer Jimin aus seiner inneren Hölle befreien kann, dann ist er es.
"Ich finde es gut, dass du so viel Geduld hast, Tae. Hoffentlich kann Jimin dir bald so sehr vertrauen, dass er seine Angst ein wenig ablegen kann."

"Ich weiß nicht, warum. Aber Jimin ist mir wichtig. Ich habe hier so viel Wertschätzung erfahren. Ich habe meine Familie wieder. Ich habe eine großartige Chance bei Dr. Lee. Jimin ist ... irgendwie ... so ... kindlich? Unschuldig? So sanft. Und so gequält. Ich wünsche mir, dass es ihm so gut geht wie mir. Aber ich glaube, dass ich schon einen winzigen Schritt weiter bin. Als Herr Kang mich nach Hause gefahren hat, konnte ich Jimin dazu bringen, dass er einfach mitgekommen ist. Jetzt weiß er wenigstens, wo ich wohne."

Namjoon hat wie wir anderen alle gespannt auf der Stuhlkante gesessen vor lauter Anteilnahme. Jetzt lehnt er sich entspannt zurück.
"Du machst das alles ganz richtig, Tae. Der Weg dahin, einen traumatisierten Menschen von seiner Last zu befreien, ist sehr, sehr weit. Schau dir Jin an. Du wirst noch viel Geduld brauchen. Aber dein Bauch weist dir ja den richtigen Weg."
Taehyung strahlt vor Glück bei diesem Kompliment.

"Seid mir nicht böse, Mädels und Jungs. Ich muss zur Arbeit. Die Düfte von Benzin und Zigarettenkippen rufen nach mir und ziehen mich magisch an. Kommt gut in eure Betten."
Wir brechen auf. Ich setze So-Ra an einer S-Bahn-Station raus, bringe Namjoon zu seiner Tanke und versuche dann zu Hause, trotz Jetlag schnell einzuschlafen, denn morgen muss auch ich wieder zur Arbeit antreten.

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26.2.2023    -    24.3.2024

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