34 - Zwickmühle

Am späten Nachmittag sitzen Namjoon und ich in einem Restaurant und essen zu Abend. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass er sich unbehaglich fühlt. Also packe ich mal wieder den Stier bei den Hörnern.
Alles, was wir sofort ansprechen, wird uns nicht zum schweren Marschgepäck.
"Joonie? Bist du okay? Du wirkst auf einmal so bedrückt. Ist es immer noch wegen deiner ehemaligen Kollegen?"
"Neinnein, das ist es nicht."
"Was ist es dann? Irgendwas ist. Und zwar ganz bestimmt nicht das spannende Muster dieser reinweißen Tischdecke."

Namjoon fährt sich nervös durch die Haare und hebt dann seinen Blick.
"Du hast recht. Und das passt mir überhaupt nicht. ... Ich muss mich noch daran gewöhnen. Dass immer du bezahlst. Ich bin ... war es so gewohnt, dass ich höflich bin und den Damen an meiner Seite alles bezahlt habe. Das kann ich zur Zeit nicht. Ich weiß, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Aber es fühlt sich trotzdem falsch an. So ..., als ob du ... mich aushältst. Aber das tust du nicht. So eine Unterstellung hast du nicht verdient."

Verstehe. Aber du verrennst dich grade trotzdem.
"Du auch nicht, mein Lieber. Du auch nicht. Folge doch mal meinem Gedankenspielchen. Ein Mann und eine Frau. Er reich, sie normal. Was sagt da die Gesellschaft? Er verwöhnt sie, er schmückt sich mit ihrer Schönheit. Er ist ein formvollendeter Kavalier. Sie ist die Schöne an seiner Seite. Sie ist die Glückliche. Sie kann ihr Leben in Sicherheit und Bequemlichkeit leben. Hat die es gut!"
"Übertreibst du nicht?"
"Höchstens ein bisschen."
Ich zwinkere ihm zu.
"Jedenfalls käme diese Gesellschaft nicht als erstes auf die Idee zu sagen, dass sie ein Flittchen und ein Schmarotzer ist und sich von ihm a..."

"... aushalten lässt. Botschaft angekommen. Ich fühle mich trotzdem doof dabei. Auch wenn das antiquiert ist."
Ernst schaut er mir in die Augen.
"Männer können nach gesellschaftlicher Norm viele Dinge nicht tun, um ihrer Freundin zu zeigen, dass sie sie lieben. Blumen, Schmuck, zum Essen ausführen. Schluss. Frauen können einfach alles. Romantisch, albern, raffiniert, philosophisch, kindlich oder sonstwas. Frauen wird alles abgekauft und alles verziehen. Ich ..."
"Jetzt übertreibst du! Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn ich nach Strich und Faden verwöhnt werde. Solange ich das auch zurückgeben darf."
Ich beuge mich ein wenig vor und nehme sanft seine Hand. Sie zittert ein wenig.
Armer Schatz! Wie kann ich erreichen, dass du dich wieder entspannst?

"Und für mich ist ein Foto von deinem 'Sonnenaufgang innendrin' genauso wertvoll wie ein fürstliches Dinner bei Kerzenschein. Tu bitte dir und mir den Gefallen und genieße, was das Leben an vielfältig Schönem UNS BEIDEN grade schenkt. Bitte."
Seine Hand wird ruhig, sein Blick wird weich - und meine Knie bei dem Anblick auch.
Zauberhaft. Gut, dass ich schon sitze.
"Wollen wir dann bestellen? Oder möchtest du nur ein Glas Leitungswasser, einen Zahnstocher und eine Zeitung?"
"Frechdachs!"
"Bei der Arbeit."
"Wie immer. ... Und ich liebe dich dafür."
Sanft drückt er meine Hand und vertieft sich dann in die Speisenkarte.

"Ich ... glaube, ich habe Lust auf ... wo war das denn? ... Ah, hier. Schau mal, das ist ein Paarmenu mit ganz viel verschiedenen Gemüse- und Fleischgerichten und mehreren Saucen. Lacht dich das auch an?"
"Ganz laut sogar. Das nehmen wir. Sich um die letzte Garnele zu streiten, ist immer so schön kommunikativ."
"Verrücktes Huhn!"
"Mit Hahn dabei."
Namjoon kichert und winkt einen Kellner an den Tisch, um zu bestellen.

Während wir auf das Essen warten, brummt mein Handy. Ein Videoanruf von Tae. Ich habe augenblicklich ein Deja vu - und eine Gänsehaut.

"Alles in Ordnung, Taehyung? Sag bitte, dass es nirgendwo brennt!"

Er sieht besorgt aber gefasst aus. Grelles Licht beleuchtet sein Gesicht.

"Naja, jedenfalls nicht physisch. Aber Jimin und ich stecken in dem Tunnel. Und diesmal sind es zwei. Mit zwei Hunden. Ich werde versuchen, uns dran vorbeizulotsen. Und grade laufen auch noch ein paar Erwachsene hinter uns. Aber ich möchte das aufnehmen, damit du mitkucken kannst. Dann fühle ich mich sicherer."
"

Klar, kein Problem. Wir drücken euch die Daumen!"


Zuckende Bilder von Grafitti an den Tunnelwänden irren über mein Display, dazu das leise Klappern eines Fahrradschutzbleches und Schritte mehrerer Menschen. Sie nähern sich dem Ausgang und den beiden Typen. Die Leinen der Hunde sind lang und lose. Die beiden Jugendlichen sehen ziemlich so aus, wie ich mir Jeongguks Gang vorgestellt habe. Ghetto style, Springerstiefel, alles schwarz, finsterer Blick. Aber sie rühren sich nicht. Im nächsten Moment ist das Bild verdeckt von zwei breiten Rücken, die zwischen Tae und den 'Gangstern' entlang gehen. Und schon ist die Treppe nach draußen erreicht.
Wir atmen auf.

"Tae, das ist kein Dauerzustand für Jimin. Und du kannst nicht immer an seiner Seite sein. Versuch, ob wir ihm helfen dürfen, eine bessere, gesündere Alternative zu finden. Die Typen sind gefährlich. Gib ihm auf jeden Fall deine Nummer."
"Danke fürs Mitzittern. Mach ich. Falls er ein Handy hat ... Das wird schwer. Bis später dann."
T

aehyung beendet das Gespräch.
Namjoon schüttelt den Kopf.
"Holla, die Waldfee. Das hat der Junge echt nicht verdient. Aber wenn er uns nicht an sich ranlässt, können wir ihm kaum helfen."

Der Kellner bringt uns Gläser und Getränke.
"Danke sehr."
"Bitte sehr, die Dame. Der Herr."
Mit einer Verbeugung wuselt er weiter zum nächsten Tisch.
Joon greift nach der Weinflasche, schenkt uns beiden ein, reicht mir mein Glas und lächelt mich an.
"Auf das bezaubernde Wunder an meiner Seite."
Ich strahle wahrscheinlich heller als die Kerze auf dem Tisch, so glücklich, wie ich mich grade fühle.
"Und auf den aufmerksamen Menschen mir gegenüber."
Das Pärchenmenu schmeckt hervorragend und bringt unsere Mägen an ihre Grenzen. Wir unterhalten uns locker, lachen miteinander, genießen die Zweisamkeit und lassen uns dabei viel Zeit. Grausamerweise muss ich Namjoon dann zur Arbeit fahren. Er winkt mir noch nach, als ich nach Hause starte.

Doch nach ein paar nachdenklichen Minuten ändere ich spontan die Richtung. Meine Gedanken sind schon wieder bei Taehyungs Call von vorhin.
Wenn wir für Jimin schnell Ruhe schaffen wollen, bevor das in Dauerstress ausartet, müssen wir uns ranhalten. Also los. Wahrscheinlich schläft Tae noch nicht.
Ich zuckele die verhasste Umleitung entlang und finde meine Vermutung bestätigt. Tae und Hobi sitzen im Gemeinschaftsraum mit Bier und Chips und beraten über Jimin. Ich hocke mich einfach dazu.
"Hei, was machst du denn nochmal hier?"
"Mich hat das selbe den Berg hochgetrieben, was euch vom Schlafen abhält - Jimin. Und die schweren Jungs, die ihm offensichtlich ans Leder wollen. Tae - wie ist es nach dem Tunnel weitergegangen? Bring mich doch mal auf den neuesten Stand bitte."

"Ich hatte den Kollegen von Jimin heute morgen gefragt, wann er mit der Arbeit fertig sein würde. Als hätte ich es gerochen, dass ich gebraucht werde. Ich bin heute Nachmittag viel früher als sonst von meinen Eltern zurückgefahren, um Jimin bei dessen Dienstschluss auf den Berg zu begleiten. Der war gar nicht begeistert davon, aber als ich ihm die Story vom Morgen erzählt habe, durfte ich doch mitlaufen. Schweigend sind wir gemeinsam den Berg hoch und bei der Kreuzung durch die Unterführung gegangen. Und da waren sie tatsächlich. Also war dann auch mir ziemlich mulmig zu Mute. Jimin hat am ganzen Leib gezittert und sich nicht mehr gerührt, war zu nichts mehr in der Lage. Schließlich hab ich kapiert, dass ich jetzt entscheiden muss."
Ich kann es mir lebhaft vorstellen.

"Darum habe ich dich im Videocall angebimmelt. Ich musste ganz schön innerlich Anlauf nehmen, denn ich musste ja genug Mut für Jimin mit haben. Also habe ich die Schultern gestrafft, mich schützend vor Jimin gestellt und ihn mehr oder weniger durch den Tunnel geschoben. Zum Glück kamen dann noch mehrere Erwachsene hinter uns. So waren wir wieder deutlich mehr Leute und sind mit diesem Pulk gut an den Typen vorbei gekommen. Aber ein Dauerzustand ist das nicht."

"Konntest du denn aus Jimin rauskriegen, wer die Typen sind und was sie von ihm wollen?"
"Das Übliche. Schweigsam wie ein Stein. Ich mache mir echt Sorgen. Ich konnte nur so viel erfahren: Jimin ist seit der Brandnacht einen anderen Weg nach Hause gefahren und dabei den Betonburgen vom Ghetto ziemlich nahe gekommen, und dort sind diese Typen auf ihn aufmerksam geworden. Er scheint unwissentlich in deren 'Revier' geraten zu sein. Aber irgendwie muss er doch den Berg runter und wieder raufkommen! Er will mir aber immer noch nicht verraten, wo er wohnt."
Taehyung hätte Jimin wohl am liebsten eine Tarnkappe übergestülpt, so besorgt klingt seine Stimme. Auch ich fühle mich schrecklich hilflos.

"Jimin steht sich da leider ganz schön selbst im Weg. In dieser Situation muss schnell was passieren, aber er lässt es nicht zu. Hat er denn deine Handynummer angenommen?"
"Ja, hat er. Er hat aber auch dazu gesagt, dass er normalerweise nicht an sein Handy geht."
"Ach Mist! Wenn wir doch nur mehr wüssten! Auf der Wache hat er meine ich gesagt, dass er immer nachts einkaufen geht, oder? Wenn er dann da lang muss, könnte das übel enden."

Hoseok zieht scharf die Luft ein.
"Ob ihm das überhaupt klar ist? Ich mein - er hat offensichtlich gut ausgebildete Überlebensinstinkte. Aber gleich gegen eine ganze Bande? Schade, dass Yoongi seinen genialen Kartonbeamer gleich wieder auseinander gebaut hat. Ich würde zu gern besser kapieren, wie dieser Stadtteil aufgebaut ist."

Ein Telefon klingelt. Aber es ist nicht meins. Dafür zieht Taehyung seines aus der Tasche.
"Kenn ich nicht, die Nummer. Mal sehen.

Hallo? ... Jimin! Was gibts? ... Ob ich dir tatsächlich helfen will? Na klar. Schieß los. Von wo telefonierst du eigentlich?"

Hoseok und ich haben sofort kerzengrade auf unseren Stühlen gesessen, als der Name fiel. Jetzt macht Tae den Lautsprecher an.

"... hatte nichts mehr zu essen zu Hause. Ich wollte nicht, aber ich kann ja nicht zwei Tage hungern. Also bin ich noch mal los geradelt. ... Der Mann im Supermarkt kennt mich schon. Ich darf immer mein Rad mit reinnehmen. Aber dann sind die Typen aufgetaucht. ... Zu dritt. ... Seitdem sitze ich hier in dem Laden. Ich kann da nicht mehr raus. Aber ... in einer Viertelstunde will der Mann Feierabend machen. Dann muss ich ..."

Ach, du Sch...... Die kennen ihn und seine Gewohnheiten schon richtig gut. Dann müssen wir wohl ...
"Tae, sag ihm, dass wir sofort kommen und ihn mitsamt Fahrrad abholen."
"Wie das denn?"
"Wir nehmen den Bus, mit dem ihr Namjoons Umzug gemacht habt. Hobi, kümmerst du dich schon mal um die Autoschlüssel?"
Tae schaltet schnell und informiert Jimin.

"Jimin, pass auf. Wir kommen sofort zu dir, mit mehreren. Wir nehmen dann auch dein Rad mit und bringen dich, wohin du möchtest. Bitte den Ladenbesitzer, dass er noch auf uns warten soll."

Jimins Stimme klingt leise und kläglich.
"Ich ... versuchs."

Im Hintergrund hören wir Gemurmel, dann ist Jimins Stimme wieder klar.

"In Ordnung. Er wartet. ... Taehyung? ... Danke!"
"Bis gleich!"

Jimin legt auf, und wir starten sofort. Taehyung greift geistesgegenwärtig nach dem Fahrradschloss, dass Gukkie heute besorgt hat.
"Sollen wir auch noch Jeongguk mitnehmen?"
"Hm. Einen Minderjährigen würde ich da ungern reinziehen."
"Okay. Dann los!"
Ich habe zwar noch nie so ein Schlachtschiff gefahren, aber das ist mir grade sowas von egal! Ich brettere den Berg runter und murkse mich dann mit Taes Hilfe durch die kleinen Seitenstraßen bis zum Supermarkt. Ich stelle den Bus mit der Seitentür direkt vor den Eingang zum Markt. Hoseok und Tae öffnen die Schiebetür, betreten den Laden und schnappen sich als erstes Jimins Rad.

Auf der gegenüber liegenden Straßenseite erkenne ich drei dunkle Gestalten. Ich bleibe einfach hinterm Steuer sitzen und versuche, im Markt was zu erkennen. Ich könnte auf der Stelle Sturzbäche heulen. Jimin steht ziemlich weit hinten, mit dem Rücken zur Wand, ist käseweiß im Gesicht und klammert sich an eine volle Satteltasche. Sein Einkauf. Der Junge tut mir unglaublich leid.

Kaum ist das Rad im Kofferraum, geht Tae wieder rein und langsam auf Jimin zu. Die beiden reden, und Tae hält ihm die Hand hin. Eine lange Pause entsteht, in der wir wohl alle die Luft anhalten. Endlich löst sich Jimin von der Wand und kommt vor zum Eingang. Überfordert und mit eingezogenem Kopf sucht er mit seinen Augen die Straße ab. Dann lässt er sich von Tae die Tür aufhalten und rennt die drei Meter bis zum Bus. Kurz zögert er, mit angstvoll weit geöffneten Augen, bevor er einsteigt. Der Ladenbesitzer löscht fast alle Lichter, schließt die Vordertür ab, lässt ein massives Gitter an der gesamten Front runter und verschwindet hinten im Dunklen. Sicher wohnt er im Haus. Sonst könnte es jetzt auch für ihn ungemütlich werden.

"Hallo, Jimin. Sie erinnern sich sicher noch an mich. Ich bin froh, dass ich helfen kann."
Der junge Mann bringt kein Wort raus.
"Bitte suchen Sie sich einen Platz aus. Taehyung und Hoseok werden Ihnen nicht zu nahe kommen. Hauptsache, Sie können ein bisschen die Angst loslassen."
Stumm rutscht er in die hintere Bank und klammert sich an seine Tasche. Die beiden anderen kommen zu mir nach vorne. Ich fahre los, damit wir nicht mehr beobachtet werden, und halte dann an der Hauptstraße unter einer Straßenlaterne wieder an.

"So. Jetzt wollen wir erstmal unsere Gemüter beruhigen, und dann fahren wir Sie, wohin Sie wollen."
Prompt fängt Jimin wieder an zu zittern. Seine Augen sind starr auf mich gerichtet.
"Kann nicht ... muss nach Hause ... aber ... kann doch nicht ..."
...
"Angst."
"Wir respektieren Ihre Angst. Wir haben nur die Befürchtung, dass sich da grade ein Gewitter über Ihnen zusammenzieht, und wüssten Sie gerne im Trockenen und Warmen. Allein werden Sie dem vielleicht nicht gewachsen sein. Dürfen wir Ihnen bitte helfen?"
Der verängstigte Junge schüttelt erst den Kopf, denkt dann still nach, nickt schließlich.

Er hebt den Kopf, sieht uns unsicher an. Und reißt beim Anblick von Taehyung neben mir die Augen auf. Ich folge seinem Blick. Tae stehen die Tränen in den Augen. Seine Stimme bleibt ihm fast weg.
"Warum ist es für dich eine Bedrohung, wenn wir wissen, wo du wohnst? Was ... ist so Furchtbares in deinem Leben passiert, das dein Leben so zur Qual macht? Ich würde dir so gern helfen!"
Den letzten Satz hat Jimin schon gar nicht mehr gehört. Als er kapiert hat, was Tae sagen will, ist er mit einem Wimmern unter die Bank gerutscht. Tae fängt an zu weinen.

Hoseok schüttelt den Kopf.
"Das ist ja furchtbar anzusehen! Jimin braucht mehr als nur einen sicheren Heimweg!"
Energisch schiebt er Tae nach hinten, zu Jimin unter die Bank. Eine Weile hören wir gar nichts außer gelegentlichem Schniefen von den beiden. Dann ist es ganz still. Schließlich hören wir die sanfte, warme, ganz leise Stimme von Jimin.
"Warum weinst du, Taehyung?"
"Weil dein Schmerz und deine Dunkelheit so groß sind, wie es meine waren. Und weil ich es nicht aushalte, dir dabei zuzusehen. Und weil ... du hast mich gerettet und kannst doch dir selbst nicht helfen. Aber meine Hilfe willst du nicht annehmen. Und das macht mich ganz verrückt!"

...
Schniefen.
"Du weinst wegen mir???"
"Natürlich! Du hast viel besseres verdient als ... das hier!"
"Ich verdiene nichts. Und mir kann man nicht helfen. Ich muss unsichtbar sein, gehorchen und niemand im Weg stehen. Das tut am wenigsten weh."
Wir ziehen alle drei scharf die Luft ein.
Wie grausam! Und was heißt dieses 'das tut am wenigsten weh' bitteschön? Das wird ja immer schlimmer. Und er schweigt und schweigt und schweigt.

"Tae, Jimin - könntet ihr bitte mal wieder auftauchen?"
Unter Ächzen und Stöhnen wurschteln sich die beiden nach oben und sitzen schließlich nebeneinander auf der Rückbank.
Nur nicht erwähnen. Nicht dran rühren!
"Ich möchte nicht drängeln, aber wir sollten für den Moment jetzt entscheiden, wie wir alle sicher nach Hause kommen. Und ... Jimin, ich fürchte, Sie haben keine Wahl, wenn Sie nicht irgendwann in den nächsten Tagen einem dieser Kampfköter zwischen die Zähne geraten wollen. Bitte lassen Sie uns helfen. Bitte zeigen Sie mir den Weg. Wenigstens so weit, dass die Typen uns nicht mehr einholen können. Wenn ich Sie hier jetzt rauslassen muss, dann radeln Sie denen direkt in die Arme."
Mehr kann ich nicht für Jimin tun - betteln, flehen, werben, ... ER muss über seinen Schatten springen.

Eine ganze Weile ist es sehr still im Auto, und keiner von uns bewegt sich. Jimin klappern trotz der Wärme die Zähne vor Angst. In mir brodelt kalte Wut auf alle Arschlöcher dieser Welt.
"Ich ... das ist so schwer! ... Ich ... Wir könnten durch die ... Brandstraße fahren. Dann haben wir genug Abstand zum Ghetto. Das ... Danke!"
"Gerne, Jimin. Sehr gerne."
Ich starte den Motor wieder und fahre zurück in die kleinen Straßen des Gewerbegebietes. Jimin lotst mich mit leiser Stimme von hinten.

In der Straße, wo es gebrannt hatte, rutschen Taehyung und Jimin wie auf Kommando beide von der Bank. Zu nah sind noch die bösen Erinnerungen an diese Nacht. Bald danach fahren wir eine Straße steil bergauf. Da verstehe ich plötzlich, warum es als Wege nur die Brandstraße oder das Ghetto gibt ohne jede weitere Alternative: Ein Ausläufer des Bukhansan liegt so dazwischen, dass es einfach keine anderen Straßen den Berg rauf gibt.

Gemeinsam fahren wir durch die Nacht, nur ab und zu unterbrochen von Jimins leisen Kommandos. Ich habe längst keine Ahnung mehr, wo wir eigentlich sind, aber das Navi wird uns schon nach Hause bringen.
"Jimin? Ihr Vermieter, Herr Kang, wohnt der im selben Haus wie Sie? Sie waren nach dem Brand so schnell zur Stelle."
Jimin druckst herum.
"Ja ... also ... nein, wir wohnen nicht im selben Haus. Aber nah beieinander. Wir haben gar nicht sooo viel miteinander zu tun. Ich bin einfach still und unsichtbar da. Aber an dem Abend ... Ich ... ich wusste, dass ich es nicht alleine schaffen würde, zur Polizei zu gehen. - Hier rechts und ganz am Ende der Straße links. - Ich wusste, dass da grade was schief geht. Und irgendwie wusste ich auch, dass ich das verhindern MUSS. Aber ich hätte es niemals alleine geschafft. Also bin ich zu ihm und hab um Hilfe gebeten."

"Das war für Taehyung die Erlösung. Wir sind Ihnen so dankbar, dass Sie Ihrem Gewissen gehorcht und Ihre Angst überwunden haben."
"Jetzt da diese Straße rein. Ne, links von den Mülltonnen. Genau."
Ich folge einfach Jimins Anweisungen. Fast habe ich das Gefühl, er hat vergessen, wo er mich hinlotst. So weit wollte er bestimmt nicht gebracht werden.
Irgendwie wirkt es, als ob die Stadt hier zu Ende ist. Ganz schön einsam hier! Wir müssten eigentlich längst an der Nationalparkgrenze sein.

"Herr Kang ist ein netter Mensch. Bei ihm konnte ich mir das vorstellen, dass er hilft. Er kann niemand was zu Leide tun. Ich glaube, er würde sogar einen Regenwurm über die Straße tragen."
Die Straße führt jetzt an einem Holzzaun entlang, ich kann aber nicht erkennen, was dahinter liegt. Dann öffnet sie sich zu einem großen Wendehammer mit einigen Parkbuchten. Und am breiten Tor zum Gelände hängt schief ein Schild. "Schrotthandel Kang". Mir bleibt die Spucke weg.
Jimin wohnt auf dem Schrottplatz, den Minni erwähnt hat! Deshalb konnte er die Frage nach dem gemeinsamen Haus nicht beantworten. Er wird wohl doch in einem der Autowracks hausen. Wie furchtbar!

In diesem Augenblick registriert Jimin, wo wir sind, und verstummt. Seine Augen weiten sich vor Schreck, er schrumpft zusammen auf seinem Sitzplatz, rührt sich nicht mehr. Ich spreche ihn leise an.
"Bitte haben Sie keine Angst vor uns, Jimin. Vielleicht ist es gut, wenn wir wissen, wo Sie wohnen. So können wir herkommen, wenn Sie mal Hilfe brauchen. Wir werden Sie nicht verfolgen oder von irgendwas abhalten oder was auch immer. Wir wollen Sie nur in Sicherheit wissen. Fest versprochen."
"Ich ... zu viel ... Kann ... ich bitte mein Rad ... Darf ich jetzt gehen?"

Hoseok hat während der gesamten Fahrt stumm neben mir gesessen und sich möglichst unsichtbar gemacht. Jetzt fängt er leise an zu sprechen.
"Nicht erschrecken, bitte. Ich werde jetzt aussteigen, um den Bus laufen und dein Fahrrad rausheben. Tae wird inzwischen aus deiner Bank rutschen und dir den Weg nach draußen frei machen. Vergiss deine Einkäufe nicht!"
Während Hobi um das Fahrzeug nach hinten geht, macht Tae die große Schiebetür weit auf und tritt zur Seite.
"Jimin, ich ... bin froh, dass wir dich so weit bringen konnten. Wir haben dir nach dem Ding heute Morgen übrigens ein Fahrradschloss besorgt."
Eilig verlässt der verängstigte junge Mann den Bus. Er klammert sich an seine Satteltasche und bringt erstmal ein paar Meter Abstand zwischen sich und den Bus.

Tae legt das Schloss einfach auf den Boden.
"Ich ... hab Angst. Aber danke für das Schloss. Ich hab ja Arbeit und verdiene Geld, aber für so ein Schloss müsste ich zu weit in die Stadt rein. Ich bezahle dir das Schloss dann auch."
Stille.
"Könntet ... ihr jetzt ... fahren? Damit ich reingehen kann ..."
Wir sollten ihn erlösen.
"Klar, kein Problem. Rein mit euch, Tae und Hobi! Unsere Betten rufen ganz laut nach uns.
Bitte scheuen Sie sich nicht, uns wieder anzurufen, wenn Sie Hilfe brauchen. Wir tun das wirklich gerne. Schlafen Sie gut nach der Aufregung."
Jimin bewegt sich zum Tor und wartet dort ab, während ich den Bus wende. Wir winken ihm nochmal zu und brechen dann auf nach Hause. Aber schon nach der nächsten Kurve halte ich an.
"Kucken?"
"Kucken!"

Hoseok und Taehyung steigen aus und schleichen sich den Weg zurück. Kurz darauf können sie mir verschiedene Beobachtungen mitteilen. Auf dem Gelände sind ein paar Lichter angegangen. Ein großer Hund ist auf Jimin zugerannt, aber bald wieder verschwunden. Jimins Anwesenheit ist für den Hund also wohl normal. Rechts liegt ein einfaches Wohnhaus mit einem üppig blühenden Gärtchen und Zaun drumrum. Links hinten neben den Schrotthalden steht ein alter, quietschgelber und ziemlich verrosteter Schulbus. Und in dem ist Jimin verschwunden. Da war ein paar Minuten lang ein schwaches Licht. Dann wurde es dunkel, und nichts hat sich mehr gerührt.

Eine Weile sagen wir alle drei gar nichts mehr. Ich lasse den Bus ohne Scheinwerfer den Berg runter rollen und mache erst dann den Motor wieder an. Das Navi will uns durchs Ghetto lotsen, aber an ein paar Ecken kann ich mich erinnern, und irgendwann spielt auch das Gerät wieder mit. Die Entdeckung, wie Jimin lebt, leben muss, hat uns erschüttert.

Dagegen war ja die kaputte Villa ein Luxushotel! Naja, vielleicht nicht grade der Keller ... Jimin steckt in einem ziemlichen Dilemma. Er hat zwar einen festen Job und ein Dach über dem Kopf, aber dafür muss er immer diesen steilen Berg rauf. Es gibt zwei Wege. Aber an dem einen lauern die Erinnerungen an die Brandnacht, an dem anderen eine miese Truppe, die ihm immer mehr auf den Leib rückt. Er hat zwar seinen Lohn, aber er kann vor lauter Angst damit nichts anfangen, um sein Leben bequemer zu machen.
Und: er braucht an allen Ecken und Enden Hilfe, aber seine Angst hindert ihn daran, die Hilfe anzunehmen. Mensch, wie gut, dass er heute Abend wenigstens bei Tae angerufen hat! Da scheint also doch ein Funke Vertrauen zu wachsen.

Erst, als ich den Bus auf den Parkplatz rollen lasse, finden wir wieder Worte.
"Ich bring grade den Autoschlüssel zurück. Wartet ihr auf mich?"
Hoseok verschwindet kurz im Containerbüro und stößt dann wieder zu uns.
"Und wie kriegen wir Jimin jetzt runter vom Berg? Sein Arbeitsweg und die Nähe zum Ghetto sind tickende Zeitbomben. Der muss da weg!"
"Keine Ahnung. Wollt ihr noch reden, oder lieber gleich ins Bett?"
"Lieber gleich ins Bett."

Hoseok stutzt und sieht mich erstaunt an.
"By the way - wieso fährst du nicht nach Hause sondern läufst mit uns zum Haus hoch?"
"Weil ... Keine Ahnung, ist mir gar nicht aufgefallen. Aber ich glaube, da haben meine Füße abgestimmt. Ich geh wieder in Namjoons Bett."
Hoseok lächelt.
"Ihr zwei seid so ein Lichtblick!"

Taehyung hat die ganze Zeit geschwiegen. Jetzt schüttelt er den Kopf.
"Hilft nix. Nelli, kannst du mich morgen zu Jimin bringen, bevor du nach Hause fährst? Er MUSS da weg. Und dazu muss er sich noch viel mehr an mich gewöhnen."
"Das mache ich gerne."
Wir sind sehr schnell in unseren jeweiligen Betten verschwunden.
Hoffentlich kriege ich wieder mit, wenn Joonie nach Hause kommt. Das war so schön.

........................
16.2.2023    -    23.3.2024

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