31 - Die Lunte brennt
Am Donnerstag kommt Dr. Lee und bespricht mit Taehyung die ersten Einzelheiten zu seinem Praktikum. Sie verschafft ihm einen Überblick über die drei für ihn vorgesehenen Projekte, strickt mit ihm einen ungefähren Wochenplan, die beiden legen Aufgaben fest und stecken Ziele für Taehyung ab. Zum Beispiel konnte sie organisieren, dass er beim Stuckateur mitarbeiten darf, wenn der die Stuckelemente für die Villa herstellt. Dr. Lee hat einen eigenen Raum in den Bürocontainern. Dort richten Sie für ihn einen Arbeitsplatz ein. Und zu seiner großen Begeisterung soll er schon am nächsten Montag anfangen. Er wird das Architekturbüro der Lees sehen, das alte Theater und das dort arbeitende Team besuchen. Und er wird tatsächlich manchmal einen Anzug brauchen, aber ein bisschen Zeit hat das noch.
Da Tae am Samstag wieder seine Familie besuchen wird, beschließen wir, am Freitag nach dem Abendessen Klamotten shoppen zu gehen. Es wird ein seeeehr vergnügter Abend, weil Taehyung einfach immer gut aussieht, egal was er anzieht. Er läuft ein paarmal vor mir auf und ab wie bei einer Modenschau und macht herrlich übertriebene Faxen.
An dem Kerl ist echt ein Komiker verloren gegangen. Sein Metier ist auf jeden Fall die Kunst - egal, ob mit dem Zeichenstift oder mit seinem Gesicht.
Uiiii! Wow! Ein völlig anderer Mensch.
Verblüffend ist die Wirkung, als Tae tatsächlich einen Anzug mit Hemd anhat. Er wirkt auf einen Schlag erwachsen, seriös und intelligent.
Also kaufen wir den Anzug, ein zweites Jacket und ein paar Hemden. Dazu passende Schuhe. Und - ein Bügelbrett und ein Bügeleisen.
Hihi - ich höre Namjoon schon schimpfen. Dafür darf er den Jungs dann beibringen, wie man ein Hemd bügelt. Falls er selbst das kann ...
Samstag Morgen beim Frühstück muss ich mir verkneifen, Namjoon zu füttern, so müde sieht er aus. Wir sind alle heilfroh, dass er nun wenigstens auch am Samstag und Sonntag ausschlafen kann. Immerhin bringt er ein breites Lächeln und ein Zwinkern in meine Richtung zu Stande, als ich mit dem Bügelbrett und dem Bügeleisen zur Tür reinkomme.
Jin verwöhnt uns heute so richtig nach Strich und Faden. Er hat koreanische Käse-Hotteoks, mexikanische Tortilla mit Hack und Bohnen, holländische Apfelpoffertjes mit Puderzucker, ein Omelett mit Pilzsauce und echte Berliner mit Pflaumenmusfüllung gemacht - also fünf verschiedene Arten Pfannkuchen aus aller Herren Länder. Wir verputzen die ganze Pracht bis auf den letzten Krümel und halten uns träge die vollen Bäuche.
"Sag nochmal 'das wird nichts', und ich steck dich in deinen eigenen Kochtopf, Jin. Du übst richtig systematisch verschiedene Gerichte, und es schmeckt immer phantastisch. Du machst das echt schon wie ein Profi."
"Najaaaa, ich m..."
"Nichts 'najaaa' - eins weiß ich: für die Einweihungsparty der Villa kochst DU!"
Als ich mich wieder bewegen kann, scheuche ich Namjoon mit einem Gutenachtkuss ins Bett und breche mit Taehyung zusammen auf. Ich bringe ihn um die Baustelle und den großen Park wenigstens in die richtige Richtung. Heute Abend auf dem Rückweg von seinen Eltern wird er wie immer die gesperrte Kreuzung umlaufen.
Von da aus fahre ich gleich zu So-Ra. Wir wollen uns einen schönen Mädelstag im Lotte World Park machen. Fahrgeschäfte, Fressstände, Livebühnen und andere Attraktionen füllen ein riesiges Gelände und mehrere gigantische Hallen. Scharen von Familien mit Kindern, flirtenden Pärchen und Tauben fütternden älteren Herrschaften 'fließen' über die Wege, stürmen die Bahnen oder hocken auf den zahllosen Bänken.
Wir lassen uns einfach treiben und machen ganz spontan, wozu wir Lust haben. Kindheitserinnerungen werden wach auf dem Kettenkarussell. Die Zuckerwatte schmeckt irgendwie viel süßer und bapschiger als damals. Und das Gruselkabinett kann mich auch nicht mehr so richtig schocken, nachdem ich meine ganz persönliche 'Leiche im Keller' überstanden habe. Trotzdem sind wir innerhalb kürzester Zeit total eingealbert.
Am Nachmittag setzen wir uns mit zwei riesigen Eisbechern auf eine der Wiesen.
"Wenn ich mich so umschaue, kann es ja eigentlich nur eine Frage der Zeit sein, bis du hier Händchen haltend mit Namjoon rumläufst."
"Viel zu stressig. Zur Zeit haben wir viel mehr Spaß daran, auf verborgenen Pfaden am Bukhansan rumzukraxeln, irgendwo in der Sonne gemeinsam zu entspannen und uns Gedanken zu machen, wie ich mich wohl am schnellsten für einen wohltätigen Zweck entscheiden kann. Denn allmählich drängt es ein bisschen."
"Wie? Das hast du immer noch nicht entschieden? Versteh ich nicht. Dabei liegt das so nahe. Im Grunde machst du das doch schon die ganze Zeit."
Ich schüttele den Kopf.
"So einfach ist das nicht. Das muss sich ja finanziell tragen. Es muss Bekanntheit erlangen, es muss eingebunden sein in das soziale Angebot, das es im Stadtteil und in der Stadt schon gibt. Da müssen Profis gute Vorarbeit leisten. Und so weiter."
"Aber dann hast du doch den halben Weg zur Entscheidung schon geschafft. Ich hätte die Hälfte von dem, was du grade aufgezählt hast, mit Sicherheit vergessen."
"Na. Ich fürchte, die Hauptarbeit liegt noch vor mir. Das Haus hat nämlich eine tolle Lage, wenn man in seinen eigenen vier Wänden seine Ruhe haben will. Aber welcher hilfsbedürftige Mensch fährt für Hilfe ans Ende der Welt? Die wollen alle so wenig Aufwand und so wenig Aufmerksamkeit wie nur irgend möglich."
Allmählich sind wir satt gealbert und genug durchgeschüttelt. Das Wohltätigkeitsproblem werden wir heute auch nicht mehr lösen. Also machen wir uns auf den Heimweg. Bevor ich jedoch So-Ra nach Hause fahre, gehen wir noch ausgiebig und gemütlich Barbecue essen. Auf die Uhr schauen müssen wir an einem Samstag Abend auch nicht. Also lassen wir uns Zeit.
Bis kurz vor 23.00 mein Handy klingelt. Ich rechne mit einem kleinen Gruß von Namjoon. Aber das erste, was ich höre, ist panisches Weinen. Erst nach und nach erkenne ich die Stimme von Taehyung.
"Nelli! Die haben mich verhaftet. Aber ich wars doch nicht."
"Beruhige dich, Tae. Was ist denn passiert?"
"Ich ... ich hab ... die Baustelle umlaufen. Und da hat ein Firmengebäude gebrannt. Ich hab sofort die Feuerwehr gerufen. Und ... und ... jetzt sagen die, dass ich das war."
"Um Himmels Willen! Ich komme sofort. Sag mir, wo du bist."
"Im Polizeiauto. Ich weiß nicht, wo die mich hinbringen. Nelli, ich hab so Angst. Ich war das nicht. Ich will nicht ins Gefängnis!"
'"Frag, wo sie dich hinbringen. Du hast das Recht, dir Hilfe und Beistand zu holen."
Im Hintergrund höre ich ein Gespräch, und mir läuft sofort eine Gänsehaut den Rücken runter bei dem, was ich mitkriege.
"... selbst Schuld. ... typisch für Wiederholungstäter ... kann dir doch egal sein. Hör auf zu telefonieren. ...
"Nelli, die wollen mir das nicht sagen."
"Gib mir einen der Beamten."
Ich höre, dass Tae sogar darüber diskutieren muss, und würde am liebsten durch die Leitung springen.
"So-Ra, Taehyung hat einen Brand beobachtet, die Feuerwehr gerufen und ist selbst verhaftet worden. Ich muss da hin, sobald ich weiß, wo. Könntest du ..."
"Oje, der Ärmste. Hau ab. Ich bezahle und fahre mit dem Taxi. Der Junge ist jetzt wichtiger."
Eine tiefe und eindeutig ziemlich genervte Stimme meldet sich an Taes Handy.
"Ja?"
"Guten Abend. Ich bin Cho Cornelia, die Vermieterin von Kim Taehyung. Er hat keinen Anwalt. Darum möchte ich wissen, wo Sie ihn hinbringen werden, damit ich ihm helfen kann."
"Dem ist nicht mehr zu helfen."
Ernsthaft? Ich zögere keine Sekunde.
"Und ich möchte den Namen Ihres Vorgesetzten wissen, denn die Art von Vorverurteilung, die Sie da grade praktizieren, ist absolut verboten und wird ein Nachspiel haben. Wo werden Sie Herrn Kim hinbringen?"
"Wenn Sie das unbedingt wissen wollen - zur Seoul Metropolitan Police Agency in der 31 Sajik-ro 8-Gil."
"Und wie finde ich Sie und Taehyung dort?"
"Fragen Sie nach dem Departement 19 - wenns unbedingt sein muss."
"Oja, das muss es. Worauf Sie sich verlassen können. Ihr Name? Und der Ihres Vorgesetzten?"
Die Stimme am anderen Ende wird nun doch nervös. Nur sehr zögerlich gibt der Mann die beiden Namen an.
"Und jetzt geben Sie mir bitte wieder Herrn Kim."
Boah - was eine Scheiße! Hört das denn nie auf? Jetzt hat er endlich wieder Boden unter den Füßen und eine Perspektive für sein Leben - und dann sowas. Na wartet, ihr Holzbirnen!
Ich zweifle keine Sekunde daran, dass Tae unschuldig ist.
Der tut doch keiner Fliege was zu Leide! Jede popelige kleine Kerze macht ihn nervös.
Ich renne zu meinem Auto, programmiere mein Navi, fädele mich in den Verkehr ein und starte eine Sprachnachricht an Namjoon. Er sollte wissen, wo ich bin und was ich grade mache. Er soll auch die anderen informieren, aber SEHR klar machen, dass die Familie erstmal absolut nichts erfahren darf. Ab jetzt konzentriere ich mich nur noch auf den Verkehr, damit mein Gehirn nicht auf dumme Gedanken kommt. Ich brauche fast eine halbe Stunde, bis ich die Polizeistation, einen Parkplatz, den weichen Kern des Pförtners und den richtigen Raum gefunden habe.
Ein Beamter erwartet mich und lässt mich hinein. Das Bild, das sich mir bietet, bringt mein Blut zum Kochen. Sechs Polizisten sitzen im Raum. Taehyung steht, mittendrin, hat Handschellen an und weint panisch. Sein ganzer Körper schüttelt sich vor Angst.
Ich trete an den Schreibtisch, knalle dem Beamten meinen Ausweis hin und drehe mich dann sofort zu Tae um, der sich schluchzend in meine Arme wirft.
"Schhhhhh. Ganz ruhig. Jetzt bin ich da. Schhhhhh, beruhige dich. Tief atmen. Und ausatmen. Nochmal. Immer weiter. Prima.
Hier ist ein Taschentuch. Sieh mich an. ... Genau so. Ich bin da. Und ich helfe dir. Und das Wichtigste: ich glaube dir. Ich WEIß, dass du niemals wieder ein Feuer legen würdest und auch heute Nacht keines gelegt hast."
Hinter mir räuspert sich einer der Beamten.
"Könnten wir dann bitte mit der Täterbefragung fortfahren? Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit."
Ich erkenne die Stimme vom Telefonat wieder und möchte dem Widerling am liebsten an die Gurgel gehen, so wütend bin ich. Aber damit wäre Taehyung nicht gedient, also reiße ich mich zusammen und drehe mich ganz langsam um.
"Wir können das ganz schnell klären. Ich werde Ihnen sogar bei der Befragung des VERDÄCHTIGEN helfen. Täter sehe ich hier allerdings keine. Mäßigen Sie Ihre Sprache, und kriegen Sie Ihre Haltung in den Griff, sonst zeige ICH SIE an."
Der Mann wird abwechselnd blass und rot. Seine Wut auf meine Einmischung ist unübersehbar. Dass ihm überhaupt nicht passt, dass ich recht habe, allerdings auch.
"Also gut, noch mal von vorn. Und diesmal bitte die Wahrheit. Was ist heute Nacht geschehen, Herr Kim?"
Gleichzeitig mit seiner Frage drückt der Mann einen Knopf an einem Aufnahmegerät. Ich drehe mich zu Tae und schiebe ihn zu dem einzigen Stuhl im Raum, der noch frei ist. Zitternd lässt er sich nieder. Nun bin ich die Letzte ohne Stuhl, und das fällt dann sogar den Polizisten auf. Aber erst, als auch ich sitze, wende ich mich wieder Tae zu.
"So. Nochmal ganz tief durchatmen. Erzähl MIR, was passiert ist."
"Ich ... war ja bei meinen Eltern, ..."
"Namen? Adresse? Telefonnummer?"
Gleich drehe ich ihm doch noch den Hals um!
"Es wäre weitaus konstruktiver und zielführender, wenn Sie Herrn Kim ausreden ließen. Er ist mit Ihrer Hilfe auch so schon kaum in der Lage, sich zu konzentrieren."
Wenn Blicke töten könnten ...
Taehyungs Augen liegen vor Schmerz, Angst und Tränen fast blind auf meinem Gesicht. Er ist völlig außer sich, aber mehr, als diese ... Idioten immer wieder zurückzupfeifen, kann ich nicht tun. Ich versuche, Ruhe auszustrahlen.
"Erzähls mir."
"Wir haben heute Abend zusammen einen langen Film im Fernsehen gesehen. Deshalb bin ich auch so spät erst am Berg gewesen. Ich bin wie immer um die Baustelle gelaufen. Ich war grade an dem Supermarkt vorbei.
Da habe ich ... ja, ich glaube, es war so was wie kleine Explosionen gehört. Ich bin um zwei Ecken gelaufen und habe den Brand gesehen. Und einen ganz dunkel gekleideten Menschen, der in ein ganz dunkles, eindeutig ziemlich teures Auto gesprungen und weggerast ist."
Tae konzentriert sich sehr und wird dabei ein bisschen ruhiger.
"Bei den Nachbarfirmen gingen einige Lichter an. Dieses Gelände und die Gebäude lagen ganz im Dunklen da. Nur die Flammen haben Licht geworfen. Das Feuer wurde immer größer und die Luft immer heißer. Es ist ja zur Zeit sogar nachts zu warm. Ich habe gar nicht weiter nachgedacht sondern sofort die Feuerwehr angerufen. Die wollten auch meinen Namen wissen und haben mich gebeten, an der Brandstelle zu warten. Und dann waren da auf einmal all die Polizisten. Und haben mich angebrüllt. Und mir gar nicht zugehört. Und ..."
Wieder bricht er in Tränen aus.
"Und haben dich verhaftet, weil Sie an deinem Namen erkannt haben, dass du wegen Brandstiftung vorbestraft bist. Ach, Tae. Das ist wirklich unglücklich gelaufen."
Ich nehme ihn wieder in die Arme.
"Hoffentlich klärt sich der Irrtum bald auf. Das bist du nie und nimmer gewesen. Da werden bestimmt alle möglichen Nachbarn befragt. Einer davon kann sich vielleicht an das Nummernschild von dem Wagen erinnern. Hast du noch irgendeinen Menschen auf der Straße gesehen? Überleg mal."
"Die anderen Gebäude waren auch alle leer. Da sind fast nur Büros und Handwerker und so. Da war bestimmt niemand mehr, am späten Samstag Abend. Ich hab so Angst, Nelli!"
Der genervte Beamte hinter seinem Schreibtisch will grade wieder anfangen, Gift zu spritzen, aber da klingelt sein Telefon. Er nimmt den Hörer ab und meldet sich.
"Ja? ... Ja, haben wir. Er will es allerdings nicht gewesen sein. ... Ja. ... VIER??? Na wunderbar, wie ... Reifenspuren ... achja. Ist der Besitzer inzwischen gefunden worden? ... Nur sein Sohn? ... Nein. ... Ja ... Danke. Halten Sie mich auf dem Laufenden."
Der Mann legt auf und schweigt einige Augenblicke. Dann wendet er sich an seine Kollegen.
"Vier Brandsätze mit Öl und explosivem Zünder. Zwei am Bürogebäude, einer an der Werkshalle, einer an der Fahrzeughalle. Echt gründlich."
Wieder schweigt er. Blickt kurz zu Tae. Denkt nach. Seine nächsten Fragen kommen ganz plötzlich.
"Wer waren Ihre Komplizen, Herr Kim? Mit welchem Fahrzeug haben Sie die vier Brandsätze zum Tatort gebracht? Und wie haben Sie es fertig gebracht, die Bewegungsmelder und die Alarmanlage auszutricksen?"
Tae erstarrt und ist sogar zu geschockt, um zu weinen. Diese Nacht ist ein einziger Alptraum, und er steckt mittendrin.
Allmählich weiß ich auch nicht mehr weiter. Ich bin keine Juristin, kenne weder die Gesetzeslage in so einem Fall noch die Rechte von Verhafteten, lehne mich die ganze Zeit weit aus dem Fenster und befürchte das Schlimmste. Ich werde auf jeden Fall versuchen, dass ich Tae auf Kaution hier rausbekomme.
Aber wenn nicht ... - bloß nicht drüber nachdenken!
Der Beamte wird ungeduldig. Die ganze Situation ist so festgefahren. Und wer weiß, was ihn antreibt, sich so unmöglich zu benehmen. Er setzt zum Sprechen an, und seiner Miene nach zu urteilen, kann da nichts Gutes bei rauskommen.
Das Telefon klingelt wieder. Der Polizist geht dran.
"Ja, am Apparat. ... Leider nicht. ... Sie haben WAS? ... Einen Zeugen! ... Der den Mann und das Auto gesehen hat. ... Aha - noch so ein panischer Flegel. ... Immer her damit. Vielleicht kann er ja tatsächlich Licht ins Dunkel bringen. ... Ja, danke."
Schweigend blickt er seine Kollegen an. Schüttelt den Kopf. Starrt das Telefon an.
"Okay. Der eine raus, bevor der andere reinkommt."
Sofort bin ich in Alarmbereitschaft.
"Wir möchten bleiben und den Zeugen kennen lernen. Davon hängt immerhin die Zukunft von Herrn Kim ab."
Der Beamte wehrt sich nicht mehr.
"Wenns sein muss ..."
Peinliches Schweigen herrscht im Raum, während wir auf diesen Zeugen warten. Alle Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Endlich ist Gemurmel auf dem Flur zu hören. Der Polizist, der auch mich in den Raum gelassen hat, erscheint, flüstert mit dem Chef, zuckt mit den Schultern. Der Chef nickt schicksalsergeben und sieht dabei aus, als hätte ihm jemand vors Schienbein getreten.
Kurz darauf betreten zwei Menschen den Raum. Ein älterer Mann, robust gekleidet, Dreitagebart, Dreckränder unter den Fingernägeln der kräftigen Hände, aber sehr aufrecht und selbstbewusst, mit gradem Blick und klarer Stimme. Er schiebt einen jungen Mann in Taehyungs Alter vor sich her, der beim Anblick der vielen Menschen im Raum käsebleich wird, zu zittern beginnt und den Rückwärtsgang einlegt. Er ist vergleichsweise klein und schmal, hat dreckige Stiefel, eine grüne Latzhose und einen ausgefranzten Pullover an. Seine Haare sind strubbelig und ungeschnitten, und sein Gesicht besteht nur aus seinen schreckensweit geöffneten, panisch durch die Gegend huschenden Augen.
Sein Begleiter legt ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter.
"Ganz ruhig, Jimin. Ich weiß, dass du Angst hast, aber ich bin da, und ich passe auf dich auf. Du bist sehr, sehr mutig."
Dann wendet er sich an den Beamten hinterm Schreibtisch.
"Guten Abend. Ich bin Kang Sejin. Dieser Junge war Zeuge des Brandanschlags, um den es hier offensichtlich geht. Er hat den Täter gesehen - und den Tatverdächtigen, der gleichzeitig an einer ganz anderen Stelle stand. Aber er hat große Angst vor Menschen, warum, hab ich noch nicht kapiert. Ich möchte darum bitten, dass alle Menschen den Raum verlassen, die hier nicht wirklich gebraucht werden."
"Das sind Polizeianwärter, die von mir lernen sollen. Sie werden ..."
"... nichts zu lernen bekommen, wenn sie im Raum bleiben, weil Jimin vermutlich nicht mehr lange durchhalten wird. Schon, mich um Hilfe zu bitten, hat ihm alles abverlangt. Und mich kennt er, weil ich sein Vermieter bin."
Dem inzwischen ziemlich strapazierten Chef reißt der Geduldsfaden. Er wird laut.
"Ja, hab ich es heute eigentlich nur mit Psychopathen und deren Vermietern zu tun?''
Taehyung und dieser Jimin zucken zusammen, zittern, fangen an zu weinen. Jimins Augen sausen hin und her auf der Suche nach einem Fluchtweg. Ich mische mich ein.
"Offensichtlich sind Seouls Vermieter sehr begehrte Seelsorger. Seien Sie doch so gut und vergraulen Sie uns diesen wertvollen Zeugen nicht, indem Sie unnötig Zeit totschlagen. Bei allen liegen die Nerven blank. Und ich bin auch nicht bereit hinzunehmen, dass mein Schützling als Negativbeispiel für zukünftige, genauso vorurteilsbehaftete Beamte herhalten muss. Das ist würdelos."
Ich sehe dem Mann an, dass er erwägt, seine Autorität spielen zu lassen. Aber dann lenkt er doch ein.
"Also gut. Damit wir alle noch vor dem Morgengrauen ins Bett kommen. Meine Herren? Ich bitte Sie, nebenan auf mich zu warten."
Als die fünf Männer den Raum verlassen haben, richtet er seinen strengen Blick auf Jimin. Der schrumpft vor unseren Augen zusammen bei dem Versuch, sich unsichtbar zu machen.
"Zunächst einmal möchte ich von allen Anwesenden die Personalien aufnehmen."
Auffordernd sieht er uns an. Jimin möchte schon wieder flüchten. Ich fluche innerlich.
Das dauert alles für diesen Jimin zu lange!
Nachdem alle Namen und Adressen festgehalten sind, können wir endlich auf Jimins Bericht hoffen. Er blickt noch einmal ängstlich in das Gesicht seines Vermieters, dann kratzt er seine letzten Reste von Mut zusammen.
"Ich ... heiße Park Jimin. Das ist mein Vermieter Herr Kang. ... Ich bin Gärtner in einem Betrieb am Jinheung-ro-Park. Um nach Hause zu kommen, muss ich mit meinem Fahrrad immer den Bukhansan rauf. Dabei komme ich jeden Tag an der Firma vorbei, die vorhin gebrannt hat.
Ich ... ich habe ... Angst. Vor allem. Vor Menschen. Männern. Frauen. Vielen Menschen. Kleinen Zimmern. Vor ... vorm Reden. Vorm Fehlermachen. Vor Strafen. Ich arbeite in der Gärtnerei am liebsten alleine - mein Chef weiß das. Ich fahre immer Seitenstraßen, wenn es geht. Ich kaufe mein Essen nachts ein. Dann sind nicht so viele Menschen im Laden."
Jimin atmet tief durch und holt sich mit einem weiteren scheuen Blick neuen Mut von seinem Begleiter. Dann zeigt er auf Taehyung.
"Seit da an dem Kreisel die Baustelle ist, hab ich ihn schon öfter gesehen. Er läuft um den Kreisel drumrum. Wahrscheinlich will er sich den Umweg mit dem Bus sparen. Dabei geht er normalerweise an meinem Supermarkt vorbei. Heute ... war er später als sonst. Aber nicht in Eile. Er hatte keine Tasche bei sich. Und er raucht auch nicht. Ich ..."
Wieder wird Jimin nervös. Aber der Polizist hört ihm nun endlich ruhig zu.
"Ich fahre immer durch die Straße mit dem Brand. Da ist in der Nacht niemand mehr. Aber heute Abend musste ich mich ganz schnell verstecken, weil ein Auto kam. Der ist mir fast über die Füße gefahren, weil er nicht beleuchtet war und ich ihn deshalb nicht gesehen habe. Direkt vorm Tor der Firma hat er angehalten. Ein ganz schwarz gekleideter Mann ist ausgestiegen und hat vier große schwere Sachen von der Rückbank geholt. Ich konnte aber nicht sehen, was das war. Er hat das Tor geöffnet und die Sachen reingetragen. Mehr konnte ich im Dunklen nicht erkennen. Licht oder Alarm ist keiner angegangen, obwohl diese Bewegungsmelder sonst auf jede Katze und jedes flatternde Blatt reagieren.
Ich hatte Angst. Deshalb bin ich in meinem Versteck geblieben. Aber ich hab das Nummernschild fotografiert."
Jimin holt ein altes Handy aus der Hosentasche und öffnet eine Datei. Sofort notiert der Beamte das Kennzeichen auf einem Zettel und geht raus. Sein Gesicht zeigt inzwischen viel mehr Interesse. Die Ungeduld ist verschwunden. Kurz darauf kommt er wieder rein und fragt weiter, als wenn nichts gewesen wäre.
"Was haben Sie noch gesehen? War der Mensch alleine, oder hatte er Hilfe?"
Ganz allmählich, immer auf der Hut, schwimmt sich der verängstigte junge Mann frei.
"Ich habe den Vermummten rumlaufen sehen. Er war die ganze Zeit alleine. Als die ersten Flammen hochloderten, gab es auch mehrere Knalle. Wenige Minuten später ist der da aus der nächsten Seitenstraße gerannt gekommen und erschrocken stehen geblieben. Er stand unter einer Laterne, deshalb kann ich ihn wiedererkennen. Der Autofahrer ist ohne Licht weggefahren, und der hat die Feuerwehr angerufen."
Noch einmal holt Jimin tief Luft.
"Ich habe beide Männer gleichzeitig gesehen. Er kann es nicht gewesen sein."
Jimin zeigt wieder auf Taehyung, und die beiden lächeln sich an.
Was bin ich froh! Das hat alles Hand und Fuß. Das KÖNNEN die nicht ignorieren!
Die Tür geht auf, und Jimin schrickt heftig zusammen. Einer der Polizeianwärter kommt herein und hält seinem Chef einen Computerausdruck unter die Nase. Der sagt erstmal gar nichts sondern starrt auf das Blatt Papier. Nur stoßweise purzeln seine Worte heraus, so verblüfft ist er.
"Der ... der SOHN! Aber ... wer fackelt denn freiwillig sein eigenes Erbe ab??? ... Ähm. ..."
Er schaut seinen Lehrling an, und seine Miene zeigt auf einmal Energie.
"Sofort das Fahrzeug sicherstellen. Den Mann verhaften. Ich will ihn sehen."
Er sieht Taehyung und Jimin an. Er ringt mit sich.
"Sie können gehen. Alle. Aber verlassen Sie Seoul nicht, und halten Sie sich für weitere Befragungen bereit."
Bevor der Satz zu Ende gesprochen ist, ist Jimin zur Tür raus. Wir hören seine Stiefel den Gang entlangrennen. Er ist erlöst. Herr Kang greift die beiden Ausweise vom Schreibtisch und folgt ihm.
Taehyung lässt seine ganze Anspannung fahren und kippt mir schluchzend in die Arme. Ich würde am liebsten mitheulen vor Erleichterung. Und gleichzeitig zittere ich vor Wut. Wir sind schon auf dem Flur, bis ich kapiere, dass ihm vielleicht mal jemand die Handschellen abnehmen sollte. Keine Entschuldigung. Kein weiteres Wort. Von keinem der Beamten. Es ist zum Kotzen demütigend.
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11.2.2023 - 23.3.2024
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