29 - befreit von der Last
Ganz so glatt geht es dann natürlich doch nicht. Der Anstandswauwau macht erstmal einen riesigen Aufstand, setzt Himmel und Hölle in Bewegung, um die Nachtschichten am Wochenende und die Sechstagewoche zu verhindern. Zum Glück hat mein Erbe-Anwalt sofort den richtigen Kollegen an der Hand, der sich gerne für ein paar Tage einmischt.
Kim Jaemin merkt schnell, dass er seinen Meister gefunden hat, ziert sich noch ein bisschen, knickt aber vor meinem Anwalt für Arbeitsrecht doch merkwürdig zügig ein. Also macht der Anwalt im nächsten Schritt das einzig richtige: er schickt ans Gericht eine Eingabe, dass der Sachbearbeiter vom Sozialamt gezielt Gesetze erfinde und Hürden einbaue, um Namjoon zu schikanieren. Und man möge Namjoon doch bitte einen Bewährungshelfer zuteilen, der sich weniger diskriminierend benehme und Ahnung von den Gesetzen habe. Sonst werde er weitere Schritte einleiten.
Taehyung hat gleich am Samstag Abend ausprobiert, wie das mit dem anderen Bus laufen kann und wie er am geschicktesten zu Fuß um die Baustelle drumrum kommt. In der Nähe der Kreuzung ist weniger Wohnbebauung. Vor allem sind hier Handwerksbetriebe, Lagerhallen und Dienstleistungsfirmen. Er wird also am Wochenende abends dort ziemlich alleine rumlaufen. Dafür hat er einen kleinen Supermarkt am Weg. Fenster, Türen und Tore sind hier gut gesichert und mit Alarmanlagen ausgestattet.
Tae findet das Viertel ein bisschen unheimlich, aber er hat keine Angst mehr davor. Und er läuft ja nur den kürzesten Weg um die Baustelle drumrum, durch eine Unterführung, einen kleinen Platz entlang und dann so schnell wie möglich wieder nach links zurück zum Kreisel.
Östlich hinter dem Gewerbegebiet kommt eines der am meisten gefürchteten Viertel im nördlichen Seoul. Man sieht schon von weitem die nackten Wohntürme, in denen sich die Verlierer und Fußabtreter der Gesellschaft stapeln. Kein Geld, wenig Chancen, viele Kinder, endlos viele Probleme. Sozusagen ALLES an diesen Häusern, Straßen, Schulen und Menschen ist kaputt bis schrottreif, und im Dunklen hält sich da niemand mehr im Freien auf - es sei denn, er ist der Grund dafür, dass die anderen sich nicht mehr im Freien aufhalten.
Jeongguk entscheidet sich lieber für den Umweg. Laufen? Igitt! Er schimpft dann ziemlich über die elende Gurkerei und das frühe Aufstehen. Aber er kommt jeden Tag so strahlend nach Hause, dass es eigentlich nicht so schlimm sein kann.
Man merkt Yoongi an, wie sehr er sich für Guk freut. Alles andere bleibt uns wie immer verborgen.
Hoseok ist auf der Suche. Alte Träume, neue Sehnsüchte, viele Testballons - aber noch ist der zündende Funke nicht übergesprungen. Er meldet sich bei einem Dance Battle an, findet eine Hiphop-Schule, sieht sich die Prüfungsaufführungen der diesjährigen Studienabgänger an, lauscht in sich hinein - er findet aber noch nicht den Anfang von dem Faden, an dem er ziehen will.
Und Jin - am Samstag nach dem Frühstück räumen wir gemeinsam die Küche auf. Er macht auf einmal die Küchentür zu und druckst ein bisschen herum. Dann gibt er sich doch einen Ruck und bricht endlich sein beharrliches Schweigen.
"Ich wollte ein bisschen von mir erzählen. Es fällt mir nur furchtbar schwer. Aber wenn ich sehe, wie gut es den anderen damit geht ... Ich hab aufgegeben, das haben Sie völlig richtig verstanden. Und ich weiß auch nicht, ob sich daran noch was ändern wird. Aber wenn ich grade besser drauf bin und den Augenblick genießen kann, dann ist dieser verrückte Haufen mein Anker im Leben. ... Falls Sie Zeit haben sollten, ..."
Ich unterbreche ihn sofort.
"Jin, ich bin doch jetzt mit fast allen per 'du'. Das 'Sie' passt nicht mehr, finde ich."
Jin lächelt erleichtert. Wir lehnen uns einander gegenüber an die Arbeitsplatten, und er fängt an zu erzählen.
"Sehr gerne. Also ... Nach der Schule habe ich sofort meinen Wehrdienst abgeleistet, damit mir das nicht später zur Karrierebremse wird. Die Militärzeit war ein einziges Fiasko. Ich kam nicht damit klar, weder mit dem Umgangston noch mit den Kameraden noch mit den Aufgaben. Ich bin immer öfter einfach umgekippt, bis sie mich vorzeitig nach Hause geschickt haben. Seitdem kennen mich meine eigenen Eltern nicht mehr."
"Bitte, WAS?!?"
Eltern zu sein, scheint ein richtig beschissener Job zu sein. Alle von diesen Jungs sind im Grunde mehr oder weniger von ihren Eltern im Stich gelassen worden. Bis auf Tae.
"Ganz genau. Ich war noch zu Hause, aber komplett ignoriert. Ich ... habe schon immer gern gekocht und gebrutzelt. Darum habe ich mich damals ganz viel beworben und tatsächlich eine Lehrstelle bei einem Sterne-Koch bekommen. Aber der Mann war brutal zu seinen Azubis. Er kannte keine Gnade. Hier ... das verdanke ich ihm."
Jin hält mir seine linke Handinnenfläche hin.
"Die Karotten waren nicht dünn genug geschnitten. Also hat er sich meine Hand geschnappt und die einfach ein paar Sekunden auf eine heiße Herdplatte gedrückt."
Gibt es eigentlich irgendwo auf der ganzen weiten Welt Menschen, die normal ticken? Ich fasse es nicht. Das hat Jin aber bisher gut versteckt vor uns! Dass er die Hand überhaupt normal bewegen kann bei den ganzen verwachsenen Narben, ist ein Wunder. Und ich fürchte, ich weiß, was als nächstes kommt.
"Ich hatte da ja eh schon kein umwerfendes Selbstwertgefühl mehr. Aber dieser Mann hat systematisch zu Staub zerrieben, was davon noch übrig war. Und dann hat er mich mitten im zweiten Lehrjahr einfach rausgeschmissen. Also stand ich da mit einer abgebrochenen Militärzeit und einer abgebrochenen Lehre. Danach ging natürlich gar nichts mehr. Erst bin ich auf der Straße gelandet, schließlich vor einem Jahr in der Villa. Den Rest kennst du."
Er dreht sich plötzlich wieder zum Spülbecken und arbeitet weiter, wahrscheinlich um seine Gefühle zu kanalisieren. Ich bin erstmal sprachlos und erschüttert. Trotz der Hitze habe ich Gänsehaut.
Junge Menschen sind in unserem Land dermaßen viel Druck und Demütigung ausgesetzt - kein Wunder, dass sich hier oben so viel "Abfall der Gesellschaft" angesammelt hat. Aber das sehe ich ja gar nicht ein!
"Wie kann ich dir helfen? Wovon träumst du, Jin?"
Jin schaut auf seine schaumigen Hände im Spülbecken.
"Ich weiß nicht, ob mir noch jem..."
"Red es dir nicht schlechter, als es ist. Wovon träumst du?"
"Warum ... willst du das wissen?"
"Damit du es aussprichst. Und es wahr werden kann. Damit du weißt, wie es klingt, und wie sich dein Herz dabei anfühlt. Damit du eine Sehnsucht entwickelst, die dich antreiben und durchtragen kann."
"Mein Herz. Das ..."
Auf einmal lässt Jin seine Hände sinken, sein Blick wandert nach draußen zur Hecke und seine Stimme wird ganz weich und verträumt.
"Mein Herz - das steht in der Küche und spielt mit den Gewürzen. Das probiert sich durch alle Gerichte dieser Erde. Das zaubert Gerüche und Bilder und Musik auf die Teller. Mein Herz träumt von einem ganzheitlichen, nachhaltigen und internationalen Cateringservice für Veranstaltungen jeder Art und Größe."
"Das klingt toll! Was dir dazu fehlt, sind die abgeschlossene Ausbildung für die Zulassung, das kaufmännische Knowhow für die erfolgreiche Umsetzung und der Mut, dich auf den Weg zu machen. Richtig?"
"Genau. Ich hab keine Ahnung, wie ich das mit dieser Angst, dafür ohne Startkapital und Selbstbewusstsein hinkriegen soll."
Jins Lächeln weicht wieder dem traurig-resignierten Ausdruck, den wir alle so gut an ihm kennen. Es tut richtig weh, dieser Rückverwandlung zuzusehen.
"Siehst du? Und genau dafür bin ich jetzt da. Ein guter Therapeut, ein vernünftiger Chef und noch ein paar Jahre viel, viel lernen. Dann stehst du wieder grade, hast gelernt, deine Kraft einzuteilen und dich selbst zu schützen, hast Erfahrungen gesammelt und baust dir dein eigenes Business auf. Wir anderen geben dir Rückenwind, wann immer du zweifelst. Nur Mut!"
Jin scheint gewachsen zu sein in unserem Gespräch. Als er die Töpfe abtrocknet, wirkt er ein paar Zentimeter größer und viel aufrechter als vorher.
Das sieht schön aus!
"So gefällst du mir viel besser, Jin. Mach dich auf die Suche nach einem guten Therapeuten, ich helfe dir dabei."
Jin hängt das Geschirrhandtuch weg und nimmt mich kurz in die Arme.
"Danke, Nelli. Ich habe noch nie einen Menschen wie dich erlebt. Du schaffst es, so anteilnehmend zuzuhören, dass ich ein paar Antworten selbst gefunden habe beim Reden. Gibst du eigentlich nie auf? Wie geht das?"
"Oh doch. In den ersten Wochen habe ich mehrfach fast das Handtuch geworfen, weil ich einfach nicht an euch rangekommen bin. Und weil ich mich so unerfahren, wie ich mit Bausanierung bin, dauernd überfordert und überarbeitet gefühlt habe."
"Wie gut, dass du das Handtuch nicht geworfen hast!"
Dieses relativ kurze Gespräch scheint Jin erstmal gereicht zu haben - ein erster Schritt. Er geht in sein Zimmer, ich laufe zu meinem Auto. Mein Kopf schwirrt vor lauter Gedanken.
Puh, das war schon wieder ein Brocken! Aber ich bin froh, dass nun auch Jin aufstehen und in seine Zukunft gehen kann. Einen versierten Therapeuten zu finden, wird nicht einfach sein. Aber es bewegt sich etwas in die richtige Richtung.
Namjoon schläft längst, Tae ist auf dem Weg zu seinen Eltern, alle anderen haben sich auch verkrümelt. Also verordne ich mir Samstag, loslassen, bummeln. Ich lehne mich nach den ganzen Turbulenzen ein wenig zurück, setze mich in ein Straßencafe und nehme mir Zeit zum Nachdenken. Eine Tasse Kaffee, ein Stück Kuchen, nichts tun, genießen. Ich beobachte die Passanten, lasse meine Gedanken treiben und lausche in mir nach einem Echo. Vor allem ein Gesicht taucht dabei immer wieder auf. Namjoons spitzbübisches Lächeln. Was da mit Namjoon und mir passiert, kommt ganz allmählich in meinem Kopf an. Ich hab das noch gar nicht ganz begriffen, weil immer so viel anderes los ist.
Ich bin verliebt. So richtig verliebt! In einen verurteilten Verbrecher. Aber vor allem: in einen Mann, der grade von der Raupe zum Schmetterling wird, seinen harten Panzer verlässt und seinem wahren Wesen erlaubt, die Flügel auszubreiten. Wie schön ist es, ein Teil dieser Verwandlung sein zu dürfen!
Manchmal muss einem eben etwas Ungewöhnliches passieren, damit man neue Gaben an sich entdeckt, neue Türen öffnet, sich neue Ziele steckt. Vor einem halben Jahr hätte ich niiiiiiieeeeeemals geglaubt, dass ich auf so eine seltsame Weise einen Partner finden würde, der mich glücklich macht. Aber genau das bin ich jetzt. Ich sitze bei diesem Cafe unter einem riesigen Schirm im Schatten und bin glücklich.
Im Grunde ... ich bin grade auch so eine Raupe. Ich lerne seit Anfang des Jahres im Überschalltempo dazu - lerne, der unbequemen Wahrheit ins Gesicht zu sehen, Abschied für immer zu nehmen, auf mich allein gestellt zu sein, Entscheidungen selbst und allein zu fällen, mehr auf meine Intuition zu hören, ein Großprojekt durchzuziehen, Menschen besser einzuschätzen, Menschen aufzutauen und zu begeistern, mich durchzusetzen. Ich entdecke meine Geduld, Toleranz, mein Zuhören und Mitfühlen. Ich erfahre, wie es ist, Nerven zu bewahren, Grenzen zu setzen, Konflikte zu lösen, Kompromisse zu schließen, Überzeugungsarbeit zu leisten, den Finger in die Wunde zu legen, Türen zu öffnen, ...
Bei mir wird grade aus dem unentschlossenen Mädchen auf dem Weg des geringsten Widerstands eine entschlossene und zielstrebige Erwachsene, die ihr Leben zu meistern lernt.
Ich bin unglaublich gespannt, was für ein Wesen bei Namjoon am Ende rauskommen wird. Noch ist er alles und nichts. Noch hat er sich nicht daran gewöhnt, andere Menschen vertrauensvoll nah an sich ranzulassen. Aber er hat allmählich eine Ahnung davon, wie es sein könnte. Und was er dazu beitragen kann.
Mal sehen, wie lange es noch dauert, bis er auf einmal kapiert und darüber froh ist, dass er NICHT zurück in den alten Job kann. Wofür wird er sich stattdessen entscheiden?
Ich sehe so viel in ihm. Er hat schwiegerelterntaugliche Manieren, eine gute Allgemeinbildung, einen schnellen Verstand, vielseitige Interessen. Seine persönlichen Maßstäbe und moralischen Vorstellungen ändern sich - er entwickelt Unrechtsbewusstsein. Er hat einen feinen Humor, ein einnehmendes Lächeln. Er ist etwas größer als ich, was ich noch nicht oft erlebt habe bei koreanischen Männern. Mir gegenüber ist er immer rücksichtsvoll und aufmerksam.
Ist das nur Schönfärberei mit vielen blinden Flecken? Sehe ich ihn so positiv, weil ich ihn so sehen will? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er das alles nur macht, um an mein Geld ranzukommen? Dann wäre er ein verdammt guter Schauspieler! Oder ist er mir so zugewandt aus Dankbarkeit? Oder ... ist das tatsächlich Liebe?
Ein angenehmes Kribbeln läuft mir den Rücken runter bei dem Gedanken.
In der Schule habe ich am Thema 'Liebe' kaum geschnuppert. Während des Studiums war ich wohl mal auf Partys, bin mit einem Kommilitonen essen oder ins Kino gegangen. Aber ich hatte nie dieses 'der Funke springt über'-Gefühl, nie das Bedürfnis, mehr daraus wachsen zu lassen. Noch nie in meinem Leben war irgendeine Form von Partnerschaft auf meiner Prioritätenliste ganz oben.
Bei Namjoon und mir spüre ich eine wachsende Verbindung. Ich freue mich, wenn ich weiß, dass ich ihn bald sehe. Ich mache mir Gedanken, wie man seine Situation verbessern könnte. Ich fühle seine Müdigkeit, ich kann seine Unsicherheit mit Händen greifen, ich hoffe, dass der Anstandswauwau zurückgepfiffen wird. Und ich wehre mich vehement dagegen, als seine 'Mutti' bezeichnet zu werden.
Für Namjoon möchte ich Frau sein. Ist das Liebe?
Ich fühle mich sortiert und leicht, als ich schließlich nach Hause fahre.
Herz, was willst du mehr? Wir haben keine Eile. Es ist bei uns beiden so viel in Bewegung. Wir sollten unseren Gefühlen die Chance geben, mit all dem Schritt zu halten.
Dem Dachdecker und seinen Leuten ist es wichtig, dass wir wenigstens ganz im kleinen Rahmen Richtfest feiern.
"Sie würden sich später ärgern, glauben Sie mir. Es ist eine wichtige Etappe, das sollten Sie bewusst mitnehmen."
Also fahre ich am Sonntag noch mal außer der Reihe auf den Berg. Wir stoßen mit einem Bier auf unsere bisherigen Erfolge an und vertilgen Riesenbleche Pizza. Aber lange machen wir nicht. Wir brauchen alle unseren freien Tag.
Schon am darauf folgenden Montag kündigt sich ein anderer Mitarbeiter vom Sozialdezernat Nord an und verabredet sich mit Namjoon für den Nachmittag. Namjoon erzählt mir später davon, wie erleichtert er ist. Der Mann ist jung, interessiert, freundlich. Herr Go hat Namjoons Akte dabei und geht das alles Blatt für Blatt mit ihm durch. Er rückt einiges grade, informiert sachlich, gibt sowohl dem Tankstellenbetreiber als auch Namjoon selbst erheblich mehr Freiheiten. Als der Mann wieder geht, bricht Namjoon vor versammelter Mannschaft in Tränen aus vor lauter Entlastung, kann kaum realisieren, dass die Demütigungen endlich ein Ende haben dürfen. Hobi und Tae setzen sich zu ihm und harren mit ihm aus, bis er sich wieder gefasst hat.
Ich selbst komme erst danach von der Besprechung mit meinem Architekten dazu, lasse mir kurz erzählen und übernehme den Staffelstab. Joonie ist vollkommen neben der Spur. Mit kleinen Zärtlichkeiten und guten Worten versuche ich, ihn zu beruhigen.
"Komm, lass uns ein paar Schritte gehen. Bewegung hilft fast immer."
Namjoon steht auf, nimmt mich sehr fest in den Arm, atmet tief durch.
"Danke! Dass du so für mich da bist und so fest an mich glaubst, bedeutet mir unendlich viel. Alle hier sind für mich da. Ich gehöre tatsächlich dazu. Das kannte ich bisher nicht. So fühlt sich echte Freundschaft an. Das ist wirklich etwas Besonderes."
Hand in Hand spazieren wir los und lassen uns durch den Park treiben. Bald schon steuert Namjoon jedoch zielstrebig zum Tor und wendet sich von dort aus die Straße hoch.
"Was bin ich froh, dass Yoongi mich aufgesammelt hat. Dass ich bei euch gelandet bin. Ich habe zum ersten Mal seit Jahren die Hoffnung, dass mein Leben irgendwie sinnvoll weiter gehen wird. Ich muss im Moment nicht einmal wissen wohin. Hauptsache keine Sackgasse mehr."
Wir nähern uns dem Ende der Straße, wo an einem kleinen öffentlichen Parkplatz einer von vielen Wegen in den Wald beginnt.
"Bist du hier als Kind oder in letzter Zeit schon mal weiter als bis zum Ende der Straße gelaufen?"
"Früher mit Onkel Harry. Der Wanderweg dort, der sich im Zickzack den Berg hinauf windet - da hat man herrliche Ausblicke und wenig Konkurrenz. Die meisten nehmen nämlich lieber die ausgetretenen Pfade am offiziellen Eingang zum Nationalpark."
"Ein Geheimtipp also. Und direkt vor unserer Tür. Lass uns demnächst da mal weiter rauflaufen. Was denkst du? An einem Tag, wenn ich frei habe."
"Sehr, sehr gerne."
Ich zwinkere ihm zu.
"An deinem freien Tag. Wie toll das klingt!"
Für heute machen wir kehrt, damit Namjoon vor der Arbeit noch in Ruhe etwas essen kann.
Kaum betreten wir die alte Pförtnerei, kommt uns Taehyung entgegengeflitzt.
"Nelli, Nelli, Nelli, sag bitte ja!"
Ich muss schmunzeln.
"Wozu denn?"
"Dass ... meine Eltern würden uns hier gerne mal besuchen. Sie sind neugierig, wie ich lebe. Sie wollen meine Freunde kennen lernen."
Ich verkneife mir ein fettes Grinsen, denn im Moment wirkt Tae wie ein aufgeregter Fünfjähriger kurz vor Weihnachten.
"Das ist doch schön! Aber warum fragst du mich? Die anderen müssen einverstanden sein."
"Hab ich schon alle gefragt. Äh - außer dich, Namjoon. Am Mittwoch. Wenn das in Ordnung für dich ist."
Joonie legt Tae die Hand auf die Schulter und schiebt ihn zurück ins Wohnzimmer. Ich beiße mir auf die Zunge.
Hilfe, ist das niedlich. Bloß jetzt nicht loslachen!
"Zum Abendessen? Dann werden wir uns mal wieder mit Jin ins Zeug legen und gemeinsam was Besonderes zaubern. Ich mag es total gerne, wenn so richtig viele Menschen am Tisch sitzen."
"Danke! Jiiiiiin! Können wir ..."
Jin steckt den Kopf zur Flurtür rein.
"Wenn du noch ein bisschen lauter brüllst, mache ich gar nichts, weil mir dann nämlich das Trommelfell geplatzt ist. Ich hab dir doch gesagt, dass niemand was dagegen hat. Lass uns planen, und dann gehen wir beide morgen einkaufen."
Taehyung verstummt bei Jins Ansage ruckartig und murmelt ein erschrockenes "Tschuldigung", was meine Selbstbeherrschung endgültig einbrechen lässt. Auch Namjoon kringelt sich gradezu. Tae hingegen versteht nun gar nichts mehr und blickt völlig verwirrt von einem zum anderen. Jin erbarmt sich seiner und schiebt ihn in die Küche, wo sie gemeinsam für unser Abendessen sorgen.
Da es nun doch relativ spät geworden ist, fahre ich nach dem Essen Namjoon mal wieder zur Arbeit. Mit dem riesigen Umweg dauert das nämlich auch mit eigenem Auto eine ganze Weile.
"Schade, dass das Richtfest gestern bei dem ganzen persönlichen Trubel so untergegangen ist. Es hätte uns glaube ich gut getan, bewusst zu feiern, wie weit wir jeder schon gekommen sind. Aber andererseits wäre ich mit diesem schwebenden Streit überhaupt nicht in der Lage gewesen, das richtig zu genießen."
"Das stimmt, Joonie. Ich hatte auch das Gefühl, dass zu viel noch unausgegoren ist, um jetzt groß zu feiern. Solange ich nicht weiß, wie es hier nach der Sanierung weiter gehen soll, ist mir noch nicht nach Party. Aber unser kleines Fest mit den Dachdeckern war doch auch sehr schön."
Namjoon ist mit seinen Gedanken wieder bei dem Besuch seines neuen Bewährungshelfers.
"Hm. Wenn wir nicht grade wieder mit einem Anwalt telefonieren mussten. Ich bin dem Mann echt dankbar, dass er eine so klare Position eingenommen hat. Anders ist so ein verfilztes und vorverurteilendes Amt auch nicht in die Knie zu zwingen.
Ich habe mich mit dem neuen Mann Go heute um Längen wohler gefühlt. Ja - ich habe riesengroße Scheiße gebaut. Aber es kann doch nicht Ziel einer Gesellschaft sein, diesen Menschen mit Absicht jede Chance auf Besserung und Veränderung zu verwehren."
Ich knirsche mit den Zähnen allein bei dem Gedanken daran, was dieser Kim alles an Beschränkungen und Diskriminierungen dazu erfunden hat, um Namjoon möglichst klein zu halten und zur Verzweiflung zu treiben.
"Zum Teil hatte ich echt das Gefühl, dass der wollte, dass du rückfällig wirst, damit er dann sagen kann 'Siehste!' Das ist für mich genauso kriminell. Hoffentlich ist der bald ganz weg."
Ich fahre an der Tankstelle vor und lasse Namjoon raus.
"Wir sehen uns Mittwoch. Passt gut auf unseren Lieblings-Taehyung auf - der dreht sonst durch."
Namjoon grinst.
"Keine Sorge, da ist noch viel Holz zu hacken. ... Gute N... Mooooment!"
Schnell beugt er sich nochmal runter ins Auto, blitzt mich mit leuchtenden Augen und tellertiefen Grübchen an und gibt mir einen supersoftromantischen Abschiedskuss. Ich schmelze dahin.
"Gute Nacht, meine Liebe!''
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6.2.2023 - 22.3.2024
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