26 - Gehversuche

Erst weit nach Mitternacht finde ich in den Schlaf, nachdem wir endlich das Sushi aufgegessen haben und ich Namjoon an der Villa rausgesetzt habe. Um 5.30 Uhr klingelt mein Wecker. Und gleichzeitig mein Handy. Namjoon hat mir ein Bild geschickt mit einem leuchtend orangenen Himmel über den Gipfeln des Bukhansan. Über den Tälern hängen Wolken, und ich kann förmlich riechen, wie frisch die Luft dort oben ist.

"Die Sonne geht auf - draußen und drinnen. Ich geh dann mal ins Bett. Bis heute Nachmittag. Danke, dass Du in meinem Leben bist."

Der ist verrückt! Der ist tatsächlich den Rest der Nacht wach geblieben. Naja - er muss ja auch nächste Nacht wieder arbeiten. Und der Sonnenaufgang ist wirklich schön! Außen und innen. Wie weit er wohl dafür nach oben gestiegen ist? Es ist ein bisschen, wie er neulich gesagt hat - er ist auf den Gipfel gestiegen und will nun in dieses Tal, auch wenn er noch nicht sehen kann, was da auf ihn zukommen wird. Dass er da als allererstes über mich stolpert, haben wir beide nicht erwartet.

In der S-Bahn erreicht mich dann eine Nachricht von Hoseok.

"Irgendein unheilbar schräger Vogel hat für uns alle Frühstück gemacht, den Tisch gedeckt und literweise Kaffee und Tee gekocht. Warst Du das? Die anderen wollen es alle nicht gewesen sein."
"Alle? Zieh doch mal die unwahrscheinlichen Antworten mit in Betracht."
"Alle? Du meinst ... NAMJOON?!?"

Bestimmt drei Minuten lang schweigt mein Handy, bis die nächste Frage eintrudelt.

"WAS HAST DU GESTERN ABEND GEMACHT?????"

Ich werde ziemlich seltsam angeschaut, als ich in der S-Bahn einfach so anfange, glücklich vor mich hin zu kichern.

"Och ..."
"Na warte! Ohne ausführlichen Bericht kommst du heute Abend nicht zum Tor raus!"

Schmunzelnd mache ich mein Handy aus. Das hilft mir allerdings wenig, denn am oberen Ende der Rolltreppe von meiner U-Bahnlinie wartet So-Ra, mit allen Anzeichen ihrer typischen Ungeduld und heftig gerunzelter Stirn. Ich muss schon wieder kichern.

Soso. Hobi hat also die Nummer von meiner Besti ...
Sie begrüßt mich mit den Worten:
"Alles. Schön der Reihe nach! Kannst du zaubern?"
"Nö. Ich bin nur strafrechtlich geprüfter Engel auf Erden. Sonst ist alles noch genau wie gestern."
"Du glaubst doch nicht, dass mir das reicht."
"Guten Morgen, meine Liebe. Nein, das glaube ich nicht. Aber ich bin keine Promi, die sich gefallen lassen muss, dass ihr Naver auf der Jagd nach Skandalen an der U-Bahn auflauert und ihr den Weg versperrt. Sag mir lieber, was für einen Quatsch dir Hobi geschrieben hat."
Wortlos hält sie mir den Chat unter die Nase.

"Guten Morgen, So-Ra. Wann hast Du das letzte Mal was von Nelli gehört? Wir haben hier heute morgen ein umfangreich und liebevoll hergerichtetes Frühstück vorgefunden. Und sie hat doch tatsächlich behauptet, dass das NAMJOON war. Ist sie gesund? Gehts ihr gut? Sie wollte gestern Abend Namjoon an der Tanke abfangen und zum Reden bringen. Ist da irgendwas passiert?"
"Ach, du Schreck. Keine Ahnung. Sollte ich mir Sorgen machen? Hoffentlich kommt sie gleich zur Arbeit!"

Ich gebe ihr ihr Handy zurück. Und lache immer noch Tränen, als wir längst oberirdisch sind und auf das Versicherungsgebäude zusteuern.
"Kannst du mal aufhören zu lachen? Wir machen uns nur Sorgen um dich!"
Nach der nächsten glückssprudelnden Lachsalve bin ich schließlich in der Lage, leise zu antworten.
"Ganz ruhig, Süße. Ja, das Frühstück muss Namjoon gemacht haben, denn ich war es nicht. Ja, ich habe Namjoon gestern von der Tanke abgeholt, mit ihm die Friedenspfeife geraucht in Form von zwei Tassen Milchkaffee und bin dann mit ihm Sushi holen gegangen. Ja, damit haben wir uns in einen nur spärlich beleuchteten Park gesetzt und das Sushi erstmal vollständig vergessen, weil er mir erzählt hat, wie er zu dem Mensch geworden ist, der er heute ist, was er im Knast alles erlebt hat, wer er eigentlich gerne wäre und was am Donnerstag für eine Scheiße passiert ist. Und: ja, dann ist noch mehr passiert - in uns, mit uns, zwischen uns. Aber: nein, ich bin weder übergeschnappt noch mit K.O.-Tropfen zu irgendwas genötigt noch sonst irgendwie gehirngewaschen worden.
Es geht mir gut. Er hat ganz viel verstanden. Und eines Tages wird mich sein unverschämt charmantes Grübchenlächeln schlicht und ergreifend umbringen. Noch Fragen?"

Passenderweise haben wir genau in diesem Moment unsere Bürotür erreicht und müssen darum unsere überaus vergnügliche, geflüsterte Unterhaltung bis zur Frühstückspause unterbrechen.
Hihi. Wenn Blicke töten könnten ...
"Und wenn du mich jetzt umbringst, wirst du den Rest nie erfahren."
"Na warte!"

Viel Pause kriege ich heute nicht, und so richtig konzentrieren kann ich mich auch nicht. Wenn nicht grade ein Glücksknubbel in meinem Bauch explodiert oder Namjoons strahlende Augen vor meinem Innern tanzen, dann werde ich von So-Ras Blicken durchbohrt, mit Fragen bombardiert oder mit unmutsbezeugenden Smileys von den Jungs zugespamt. Kurz vor Dienstschluss lächele ich glückselig einen Herzchensticker an, der mir verkündet, dass Namjoon aufgewacht ist. Und So-Ra verkündet mir, dass ich jetzt brav da bleiben und mit ihr ihre Arbeit fertig machen werde, damit sie zusammen mit mir früher Feierabend machen und mir auf den Berg folgen kann. Lachend mache ich mich an die Arbeit. Eine Stunde später brechen wir auf, damit ich nach Hause und rechtzeitig zum Treffen mit dem Architekten an der Villa sein kann. So-Ra redet die ganze Zeit kein einziges Wort mehr mit mir.

Sie kriegt allerdings auch nicht mit, dass ich Namjoon schreibe, wann etwa ich am Tor sein werde. So werden wir dort schon von ihm erwartet und müssen uns nicht vor der versammelten Mannschaft das erste Mal wieder begegnen. Zur grenzenlosen Empörung meiner besten Freundin begrüßen wir uns mit einem scheuen Kuss und einer schnellen Umarmung.
"Sag mal - gehts noch? Nicht dein Ernst!"
"Pass gut auf, was du sagst, Süße!"

Namjoon dreht sich zu ihr hin und hebt bittend die Hände.
"Ich weiß, dass ich mich beschissen verhalten habe. Und dass ich schwer werde ackern und üben müssen, um mir Ihr und das Vertrauen der Jungs zu erarbeiten. Aber bitte haben Sie Erbarmen mit mir, denn ich bin wild entschlossen, dieses Ziel zu erreichen. Sie ist JEDE Anstrengung der Welt wert."
"Stimmt. ... Ich mein ... Ist sie. Aber ... Lach mich nicht SCHON wieder aus, du freche Kröte! Hilfe, bist du anstrengend, wenn du verliebt bist."
"Och. Ich finde dich grade viel anstrengender. Du, ich muss jetzt zum Architekten. Du kannst ja schon mal zum Pförtnerhaus gehen und mit düsteren Vorahnungen um dich werfen."

Endlich nimmt mich So-Ra herzlich in die Arme. Dann hält sie Namjoon die Hand hin.
"So-Ra. Ich mach schon mal zwei Milchkaffee."
"Namjoon. Sehr, sehr gerne."
Grinsend schaut Namjoon ihr hinterher, wie sie den Hang zur Pförtnerei hochläuft.
"Gott sei Dank! Wenn ihr zwei euch nämlich nicht zusammenrauft, hab ich ein echtes Problem."

Weiter komme ich nicht, denn Namjoon dreht sich wieder zu mir und sieht mit einem Schlag schier unerträglich verunsichert aus. Er bleibt einfach stehen und macht mit seinen Händen eine hilflose Geste a la "Und jetzt?"
Ich bin verwirrt, gehe auf ihn zu und nehme seine beiden in der Luft schwebenden Hände in meine.
"Was ist? Alles in Ordnung? Du siehst so ... hilflos aus."
"Ich ... War das okay eben? Und vor deiner Freundin? Ich war mir nicht sicher ..."
"Ach Joonie, das war wundervoll. Zweifle nicht so viel."
"Naja ..."
"Ja?"
"Wir haben gestern Abend was vergessen. Ich weiß, dass du Frau Cho heißt, und dass die anderen dich zum Teil Nelli nennen. Aber ... wie heißt du richtig? Ich kann dich so nicht mal gescheit anreden."
Autsch! Wer ist hier jetzt die Idiotin? Da wäre ich aber auch verunsichert.
"Ich heiße Cho Sarang Namja Cornelia. Meine Mutter war Deutsche, mein Vater Koreaner. Und Onkel Harry, bei dem ich hier in der Villa aufgewachsen bin, fand es immer schade, dass ich mich nicht Sarang Namja sondern Cornelia oder Nelli habe nennen lassen. Er liebt ... liebte die Bedeutung so sehr."

Namjoon entspannt sich und lächelt mich um den Verstand.
"Das verstehe ich sehr gut. Beeindruckend, dass deine Eltern dein Wesen sozusagen vorher schon gespürt haben. Du bist, wie dein Onkel es in dir gesehen hat: Sarang Namja - lebe, um die Menschen zu lieben. Das ist besonders und macht deine Ausstrahlung aus. Ich ... ich weiß nicht, wo ich landen würde, hätte ich nicht deine vorbehaltlose Akzeptanz in meinem emotionalen Gepäck."

Auf einmal zieht er mich ganz zu sich ran und blickt mir tief in die Augen.
"Nelli? Was ... sind wir jetzt eigentlich?"
Tja. Was sind wir? Erleichtert? Verliebt? Verrückt? Verzaubert?
"Ich weiß es nicht, Joonie. Ich glaube, die treffendste Antwort ist: gemeinsam unterwegs. Die Reise hat grade erst begonnen, wir sind aufgebrochen mit unbekanntem Ziel und leichtem Gepäck. Für mich zählt im Moment nur: den Menschen, den ich hinter deiner Schutzhaltung erkennen kann, den mag ich gern."
Erleichtert atmet er auf, holt einen richtigen Begrüßungskuss und eine ausgiebige Umarmung nach.
"Sonst krieg ich noch Entzugserscheinungen, bis du mit dem Architekten durch bist."

Wir wenden uns den Bürocontainern zu, wo er dann still im Hintergrund abwartet, bis ich Pläne gesichtet, Bodenfliesen und Kacheln für die Küche entschieden und den neuesten Stand erfahren habe. Daraufhin begibt sich der Architekt in seinen Feierabend, und wir schlendern Hand in Hand rauf zum Pförtnerhaus.

Namjoon drückt meine Hand.
"Mir war gar nicht bewusst, was für einen Aufruhr ich mit dem Frühstück hervorrufen würde. Die sind ja alle mächtig durch den Wind. Bin ich so ein Monster, dass die alle wie die Ritter mit gezücktem Schwert auf mich losgehen müssen, um dich zu retten?"
Ich bleibe stehen und drehe ihn zu mir.
"Joonie? Du bist KEIN Monster. Du hast eine verschüttete liebenswerte Seele, und die graben wir jetzt zusammen aus. Wir müssen uns für heute Abend auf viel Fragerei gefasst machen. Je mehr du von dir preisgeben kannst, desto leichter wird es uns allen fallen, in das neue Normal zu finden. Aber auch - wir dürfen ganz ruhig sagen, wenn es uns reicht. Oder sie uns bitte mehr Zeit geben sollen. Wir schaffen das."
"Schon verstanden. Einen bunten Strauß Entschuldigungen und eine große Runde Milchkaffee für alle."

Kurz darauf erreichen wir die Pförtnerei, und ich muss mir schon wieder das Lachen verkneifen. Durchs offene Fenster hören wir, wie Jeongguk "Sie kommen!" brüllt. Gleich darauf sagt So-Ra sehr erleichtert:"Zum Glück! Jetzt könnt ihr die selbst löchern."
"Joonie, könntest du mich mal grade ganz fest in die Arme nehmen? Sonst fliege ich gleich weg vor lauter ... lauter ... leicht schwebendem WIR."
Sofort breitet er seine Arme aus, hebt mich hoch und dreht uns im Kreis. Seine Augen leuchten.
"Du glaubst nicht, wie froh ich bin! Ich habe heute früh echt Schiss gehabt, ich hätte das nur geträumt."
"Hast du nicht. Und ich auch nicht. Dann lass uns reingehen. Bringen wirs hinter uns."

Sie sind alle da. Alle. Stumm sitzen sie in einer Reihe am Tisch und schauen uns entgegen. Namjoon tut das einzig richtige, tritt an den Tisch und ergreift mutig das Wort.
"Ich weiß, dass ich mich wie ein Arschloch benommen und mir damit euer bisschen Vertrauen erstmal verspielt habe. Es tut mir aufrichtig leid. Ich verspreche jetzt auch nicht hoch und heilig, dass sowas nie wieder vorkommen wird, denn das würdet ihr mir sowieso nicht glauben. Ich habe einen verdammt langen Weg vor mir, zurück zur Menschlichkeit, aber ich will ihn gehen - weil ... weil ich in Nellis Leben passen will, weil euer Vertrauen ein hohes Gut ist, weil ... ich mich hier eigentlich so sauwohl fühle wie noch nie vorher in meinem Leben. Weil ich viel lieber jeden Tag einen Milchkaffee mit euch trinken würde, statt so bescheuert auszurasten.
Ich bin offiziell ein Vollidiot und bitte jeden von euch um Entschuldigung, um eure Geduld und, dass ich noch eine Chance bekomme, ein Teil dieser ganz besonderen Gemeinschaft zu werden."

Gespannt warten wir ab, wie die Jungs darauf reagieren werden. Ich spüre Namjoons Anspannung, kann ihm aber nur zur Seite stehen. Die Entscheidung liegt jetzt allein bei den fünf Jungs am Tisch.
Schließlich entspannt sich Hobi, lehnt sich zurück und klingt zum ersten Mal seit Tagen wieder freundlich.
"Na dann - willkommen zurück, Vollidiot. Meinen Segen hast du."
Ich spüre, wie Namjoon neben mir zusammenzuckt, und drücke schnell seine Hand. Ich habe keine Ahnung, ob das von Hoseok jetzt eine bewusste Provokation oder ein etwas schief formuliertes Friedensangebot war.

Jin steht auf, kommt um den Tisch und hält Namjoon seine Hand entgegen.
"Idioten passen hier wunderbar rein, denn eigentlich haben wir alle einen Hau. Erzähl uns von dir. Dann lernen wir dich besser kennen und können solche Aussetzer einfacher einsortieren."
Erleichtert atmet Namjoon durch und schüttelt Jins Hand.
"Danke, echt. Ist das für euch alle in Ordnung?"
Ganz bewusst schaut er Jeongguk, Taehyung und Yoongi in die Augen. Die beiden Jüngeren nicken ihm zu.
Yoongi steht auf, geht in Richtung Küche, blickt direkt aber noch mal zurück.
"Besser. Viel besser. ... Abendbrot?"

Es stellt sich heraus, dass Yoongi und Jin in weiser Voraussicht schon gekocht haben in dem festen Willen, uns so lange wie möglich aufzuhalten und auszuquetschen. Am Schluss macht Namjoon für alle Kaffee, und So-Ra begrüßt ihre Tasse freudestrahlend.
"Darauf einen Milchkaffee."
Spaßeshalber stößt sie mit ihm an mit den Kaffeetassen.
Jeongguk kuckt irritiert aus der Wäsche.
"Sagt mal - was habt ihr eigentlich dauernd mit eurem blöden Milchkaffee? Habt ihr da bei euch einen Schuss reingetan, oder was?"
"Auch keine schlechte Idee. Sollen wir ihn aufklären, Joonie?"

Wir grinsen uns an, dann erlöse ich die anderen.
"Ich war am Freitag ziemlich geschockt und verwirrt und auch traurig. Ich wollte das Ruder irgendwie rumreißen und hier wieder Ruhe reinbringen. Aber ich wollte mich nie durchsetzen oder gar Drohungen aussprechen müssen. Also bin ich mit ein bisschen innerem Abstand gestern Abend zu Namjoons Tankstelle gefahren, habe einfach abgewartet und ihn damit ziemlich nervös gemacht. Nach seinem Dienstschluss haben wir uns Sushi besorgt, uns in einen dämmrigen Park gesetzt, gegessen und ganz viel erzählt.
Naja - ihr kennt mich jetzt ja schon eine Weile. Namjoon hat genau so sein Paket zu tragen wie wir andern alle auch. Und schon ist mein dummes Herz butterweich geworden."

Jeongguk schüttelt ungläubig den Kopf.
"Und dann seid ihr einfach so ein bisschen eskaliert nach dem Motto 'wenn schon, denn schon'. Und schwupp sitzt ihr Händchen haltend hier am Tisch."
Alle müssen lachen über seine komische Verzweiflung. Yoongi wuschelt ihm durch den Schopf.
"Ganz ruhig, Brauner. Die zwei sind schon groß. Die dürfen das."
"Ach, und ich darf das nicht?!?"
"Nö. Jedenfalls nicht, ohne dass wir die Dame vorher genauestens kontrolliert und unter die Lupe genommen haben."
"Hahaha. Kannste vergessen. Außerdem gibts hier eh keine passenden DaMeN."
"Na, dann hat sich das Thema ja erledigt, Küken."
Jeongguks Empörung dient nicht dazu, unserer Heiterkeit ein Ende zu bereiten. Er schmollt.

Satt-zufriedene Stille breitet sich aus. Wir sitzen entspannt beieinander, nur ab und zu klimpert leise eine Kaffeetasse. Schließlich gibt sich Namjoon einen Ruck.
"Soll ich euch dann mal was über mich erzählen?"
Taehyung lächelt Namjoon an.
"Klar. Du weißt aber, dass du nichts erzählen MUSST, oder? Jin zum Beispiel hat noch niemand irgendwas erzählt. Von den meisten wissen wir nur Häppchen. Wir haben alle auf die harte Tour lernen müssen, uns selbst zu schützen. Aber wenn es sich richtig für dich anfühlt ... Was hat dich zum Steppenwolf werden lassen?"

Namjoon erzählt von seinem Lebensgefühl als "das Kind zuviel", von der Einsamkeit im Studium, vom Haifischbecken in der Bank und schließlich vom Überlebenskampf im Knast. Hoseok reißt die Augen auf.
"Zwangstätowierung? Was ist das denn für ein Scheiß!?!"
"Ja genau. Zwangstätowierung. Unter Knackis gibt es festgelegte Zeichen, die jedem Eingeweihten zeigen, warum du im Bau bist. Mir hätte man für den Rest meines Lebens von weitem angesehen, dass ich ein Betrüger bin. Anderen wird auf dem Arm verewigt, dass sie gewalttätig, pädophil oder ein Mörder sind. Du wirst festgenagelt an deiner Schuld. Es geht im wahrsten Sinne des Wortes unter die Haut. Ganz egal, ob du bereust, dazulernst, Therapie machst, dich deinem Versagen stellst und alles tust, um ein anderer, besserer Mensch zu werden. Dieses Stigma wirst du nie wieder los."

Betroffenheit macht sich breit am Tisch. Taehyung wird blass.
"Das heißt, wenn ich nicht minderjährig gewesen wäre, hätte ich gesessen und jetzt ein hübsches Zeichen für Brandstiftung auf dem Arm."
Schaudernd zieht er seine Arme ins T-Shirt und presst sie an sich.
"Ich will nienienie in den Knast müssen. Das würde ich echt nicht aushalten."
Namjoon beugt sich zu ihm rüber.
"Musst du ganz bestimmt nicht. Du bist so ein verantwortungsbewusster, freundlicher Mensch. Egal, was es war - du hast deine Vergangenheit hinter dir gelassen und neu angefangen. Mach dir keine Sorgen."

Hobi legt seinen Arm um Taes Schulter.
"Im Grunde haben wir alle Ähnliches erlebt. Wenn du nur die Wahl hast zwischen Arschloch sein oder jämmerlich untergehen - dann wirst du eben zum Arschloch. Ob man sich mit dem Verhalten in seiner eigenen Haut wohlfühlt, steht auf einem ganz anderen Blatt. So oder so verliert man im Laufe der Zeit jede Selbstachtung, man wird hart und bitter."
Jeongguk hat auf einmal Tränen in den Augen. Seine Stimme klingt ganz kratzig.
"Und weil man immer auf der Hut und schneller als die anderen sein muss, wird das Arschloch zu einem Automatismus, den man fast nicht wieder los wird."

Ich mische mich auch wieder ein.
"Das kann passieren. Aber hier am Tisch sehe ich niemand, der nach dem Motto 'einfach immer weiter so, nach mir die Sintflut' lebt. Ihr habt alle noch die Chancen und die Möglichkeit, aus dem Teufelskreis auszusteigen."
Yoongi grinst mich an.
"Ganz genau. Denn wir haben ja unsere Mutti."
Mein empörter Schrei geht im allgemeinen Gelächter unter. Namjoon rutscht unter den Tisch und jammert.
"Na, da hab ich ja was angerichtet. Das wirst du nie wieder los, Nelli. Und ich bin schuld."
"Genau. Und deshalb kommst du jetzt schön da wieder raus und beweist den Rotzlöffeln hier, dass ich zumindest für dich NICHT deine Mutti bin."

Auf einmal wird es ganz still im Raum, und Namjoon taucht so schnell wieder auf, dass er mit dem Kopf an die Tischkante dotzt.
"Autsch! Äh ... ernsthaft?"
"Warum nicht? Aber komm erstmal her, ich muss pusten."
Ich ziehe seinen Kopf zu mir ran und puste höchst mütterlich an der Stelle, an der wahrscheinlich demnächst eine ansehnliche Beule entstehen wird. Er macht ein ziemlich verdutztes Gesicht, und alle anderen explodieren fast vor lachen.
Wir geben uns ein schnelles Küsschen und setzen uns wieder hin.

Aber leider ist So-Ra nicht so schnell zufrieden zu stellen. Sie hat jetzt einen ganzen Tag lang warten müssen und will mich leiden sehen.
"Ach neee. Du glaubst doch nicht, dass du so einfach davonkommst. Butter bei die Fische, wir wollen ausführlich auf den neuesten Stand gebracht werden."
Ich strecke ihr die Zunge raus, was sie aber nicht sonderlich rührt.
"Na gut. Nach dem ersten Abend hätte ich Namjoon am liebsten Hausverbot erteilt. Als der Anstandswauwau hier war, ist das pure Mitleid mit mir durchgegangen. Dass er bleiben darf, war eure Entscheidung. In den ersten Wochen hat mich ziemlich beeindruckt, wie schnell und leicht er sich hier eingefügt hat. Auch für euch schien das Experiment sehr gelungen zu sein."
Die Jungs nicken.

"Die Aussetzer und Rundumschläge am Mittwoch bis Freitag haben mich darum sehr überrascht und überfordert. Und weh getan. Ich hab aber zunächst nicht kapiert warum.
Inzwischen schon. Ich mag nicht schimpfen und drohen und mich durchsetzen müssen. Ihr seid fast alle erwachsen. Deshalb habe ich mich mit dem Ende der Diskussion am Freitag sauunwohl gefühlt und immer wieder überlegt, wie wir das doch noch mal anders hinkriegen können. Ich hasse streiten, ich will in jedem Menschen das Gute sehen können. Die Vorstellung, dass wir das nicht wieder gradebiegen können und ich Namjoon dann rausschmeißen muss, hat sich echt scheiße angefühlt. Darum bin ich gestern zur Tanke gefahren. Ich habe einfach gehofft, dass ein Ortswechsel uns vielleicht hilft."

Namjoon fährt mir sanft mit der Hand über den Rücken. Dabei merke ich, wie angespannt ich bin. Ich atme ein paarmal durch, und er erzählt weiter.
"Als Nelli zur Tür reinkam, war ich sofort im Knast-Überlebensmodus. Ich kenne es einfach nicht, dass jemand ehrlich freundlich zu mir ist und mich nicht in die Pfanne hauen will. Aber statt mich vor den anderen Kunden zu blamieren, hat sie den Sprit und zwei Milchkaffee bezahlt und geduldig abgewartet. Ich konnte überhaupt nicht damit umgehen, war innerlich auf der Hut, als ich die beiden Kaffeetassen zu ihr gebracht habe. Tja. Im nächsten Augenblick hat sie mir den einen Kaffee angeboten, um mit mir 'die Friedenspfeife zu rauchen'."

"Ach, DAS soll das Gerede vom Milchkaffee. Wie bescheuert! Äh ... Namjoon magst du mir noch einen Milchkaffee machen?"
Jeongguk macht Dackelaugen, und Namjoon flitzt in die Küche.
"Ich wollte nichts unversucht lassen, um wieder Ruhe und Frieden hier ins Haus zu bringen. Also habe ich ihn noch zum Essen eingeladen, weil unser Gespräch schnell ziemlich interessant wurde."
Namjoons Kopf taucht in der Küchentür auf.
"Ich war dermaßen verwirrt, dass ich ja gesagt habe, obwohl ich mich selbst ziemlich unverschämt fand."
Schwupp ist der Kopf wieder verschwunden.

"Wir haben uns für Sushi entschieden, meinen Lieblings-Drive Through geplündert und uns in einem kleinen Park auf eine Bank gesetzt. Dann hat er angefangen zu erzählen - ungefähr so wie mit euch eben."
Hoseok schmunzelt.
"Und plopp ist mit unserer Mutti ihr weiches Herz durchgegangen, weil sie gar nicht anders kann, als uns allen nur das Allerbeste zu wünschen."
Irgendwie entwickelt dieses bescheuerte Wort eine ungute Eigendynamik. Auf 'Mutti' als Running Gag hab ich ja mal gar keine Lust.

"Jungs? Könntet ihr mir einen Gefallen tun? Für mich hört sich das Wort 'Mutti' ziemlich herablassend und unangenehm an. Es ist einfach mit dem Streit verbunden. Ich möchte bitte nicht, dass das jetzt in Dauerschleife kommt. Geht das?"
Alle nicken betroffen.
"Ansonsten hast du recht, Hobi. Mein weiches Herz ist mit mir durchgegangen. Ich habe getan, was ich immer tue, wenn ich jemand trösten will. Ich habe ihn einfach in die Arme genommen. Ich sehe all seine Verletzungen und kann ihm nicht mehr böse sein."

Namjoon balanciert ein Tablett voller Kaffeetassen aus der Küche zum Tisch.
"Noch jemand ein Pfeifchen?"
Alle müssen kichern. Im Nu sind die Tassen verteilt.
"Ich weiß nicht, ob mir jemals zuvor ein Mensch begegnet ist, der die Gabe hat, andere glücklichzulieben. Sie stand direkt vor mir. Und ich habe mich so wohl und angenommen gefühlt in ihrer Nähe. Also ... hab ich sie einfach geküsst."

Die anderen wollen feixen und sticheln, reden alle durcheinander, aber ich bremse schnell.
"Noch eine Bitte: wir haben das beide nicht kommen sehen, wir sind selbst völlig überrumpelt. Und wir sind weit, weit davon entfernt, sagen zu können, was das jetzt für uns heißt. Gebt uns bitte die Chance, das ohne eure Neugierde und Kommentare in aller Ruhe rausfinden zu können. De facto wissen wir grade nicht mehr als ihr. Wir haben uns selbst überholt und brauchen jetzt Ruhe, um zu entdecken, wohin die Reise gehen kann."
Sofort ist Ruhe am Tisch, und Tae spricht für alle.

"Namjoon hat recht. Du bist ein Mensch mit der Gabe, andere glücklichzulieben. Du hast Geduld und Wohlwollen und Empathie für drei. Also hast du, habt ihr auch für euch zwei alles Recht auf Geduld und Rückenwind.
Ich freu mich, dass du wieder da bist, dass du die Kurve gekriegt hast, Namjoon. Für mich passt du hier gut rein."
Neben mir geht strahlend die Sonne auf, so glücklich sieht Namjoon aus.
"Danke! Das bedeutet mir viel."

.........................
2.2.2023    -    22.3.2024

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top