25 - Friedenspfeife
Das Wochenende ist sehr entspannt. Ich mache Bürokram, bezahle ein paar der Rechnungen, schreibe viel im Tagebuch. Dann lasse ich alles innerlich los, gammele auf der Couch, tanke Kraft und Ruhe für die nächste Woche - und denke erst Sonntag Mittag wieder an Namjoon.
Wann hat er am Wochenende Feierabend? Vermutlich irgendwann zwischen 19.00 und 23.00 Uhr.
Ich rufe Hoseok an. Im Pförtnerhaus ist einigermaßen Ruhe eingekehrt, weil Namjoon sich wieder zusammenreißt, aber fröhlich geht anders. Und entschuldigt hat er sich bisher bei keinem.
"Hobi, hast du eine Ahnung, wann Namjoon sonntags Feierabend hat?"
"Jupp. Er hat uns nämlich gleich am Anfang seine üblichen Arbeitszeiten ans Pinnbrett gehängt. Moment!"
Ich höre eine Tür klappern.
"Hier steht es. Sonntags ist er um 22.00 Uhr fertig. Warum?"
"Weil ich versuchen will, mit ihm wo anders zu reden. Hoffentlich lässt er sich dann besser drauf ein. Ich will ihn ja gar nicht raussetzen. Dafür muss er aber endlich mal was kapieren."
"Gute Idee. Da drück ich dir ganz fest die Daumen."
Um 21.00 Uhr fahre ich an der Zapfsäule vor und betanke mein Auto. Der Sonntag-Abend-Tankstau ebbt schon ab, und so ist kaum noch jemand da, als ich mein Auto an die Seite stelle und reingehe zum Bezahlen. Als Namjoon mich erkennt, wird er blass, bedient zwei andere Kunden und wendet sich dann ausgesucht höflich zu mir. Er sieht mich nicht an, seine Haltung ist angespannt.
"Guten Abend. Sie hatten an der Sieben getankt? ... Darf es sonst noch etwas sein?"
Ist es gemein, dass ich ihn auf die Folter spanne?
"Ja, gerne. Können Sie mir zwei Milchkaffee machen?"
"Kommt sofort."
Ich bezahle Sprit und Kaffee und stelle mich dann an einen der Stehtische, um zu warten.
Namjoon macht sich am Kaffeeautomaten zu schaffen, kassiert zwischendurch zwei weitere Kunden ab. Als er die beiden Tassen zu mir bringt, sehe ich ihn direkt an.
"Bleiben Sie doch einen Moment hier. Der eine Kaffee ist für Sie, sozusagen symbolisch fürs gemeinsame Rauchen einer Friedenspfeife."
Er zögert und stellt mir dann nach einem peinlich stillen Moment eine Gegenfrage.
"Und wenn ich gar keinen Frieden will?"
"Dann überlege ich ernsthaft, ob Sie schizophren sein könnten. Denn ich habe in den letzten Wochen einen sehr aufmerksamen, rücksichtsvollen und geistreichen Menschen mit feinem Humor kennen gelernt. Und der war SOOO anders als dieser stachelige Trotzkopf der letzten Tage, dass ich diese beiden Persönlichkeiten nicht übereinander kriege."
Zum ersten Mal sieht er mich direkt an.
"Reden Sie von mir? Als aufmerksam und rücksichtsvoll hat mich seit bestimmt zwanzig Jahren niemand mehr bezeichnet. Die meisten Menschen halten mich für ein Arschloch."
Ein Kunde betritt den Laden und scheint erstmal seinen Wocheneinkauf zu erledigen. Es dauert eine Weile, bis er mit Getränken, Lebensmitteln und zwei Zeitschriften an die Kasse tritt und bezahlt. Geschickt würgt Namjoon alle Smalltalk-Versuche ab und kommt dann wieder zu mir.
"Ich halte grundsätzlich erstmal niemand für ein Arschloch. Jeongguks Panikattacken, Yoongis Muffeligkeit, Taehyungs Scheu oder eben Ihre verbalen Tiefschläge - alles hat einen Grund. Solange ich nicht weiß, was dahinter steckt, verurteile ich gar nichts. Das fällt mir beim einen leichter als beim anderen. Aber es fühlt sich für mich natürlich und richtig an.
Als wir gegen Ihren Bewährungsmuffel so gekämpft und argumentiert haben - da hatten wir alle einfach das Bedürfnis, ihm zu zeigen, dass nicht in Ordnung ist, was er tut. Und, Ihnen zu zeigen, dass Sie wie jeder andere Mensch ein Recht auf Würde haben."
Wieder betritt ein Kunde den Laden, bezahlt seinen Sprit und geht zum Glück schnell wieder.
Namjoon steht hinter seiner Kasse und strubbelt sich verlegen über den Kopf.
"Ich raffs trotzdem nicht. Wie kann ein Mensch einfach aus Prinzip so ... so ... nett sein?"
"Ich glaube gar nicht, dass ich aus Prinzip so handele. Sondern dass ich so BIN. Die Bedingung meines Onkels im Testament, dass ich mit der Villa was Sinnvolles anfangen soll - das ... hat mich erst sehr unter Druck gesetzt, denn ich habe meinen Onkel in den letzten Jahren vernachlässigt und deshalb ein riesiges schlechtes Gewissen. Er hat ein großes Loch hinterlassen, von dem ich nicht mal wusste, dass es da ist. Inzwischen habe ich verstanden, dass er mich mit seiner Bedingung nur auf die Suche nach mir selbst schicken wollte. Deshalb muss ich auch nicht JETZT einen sinnvollen Zweck aus dem Ärmel schütteln und möglichst übermorgen umgesetzt haben.
Ich habe Zeit, ich kann in mich reinhorchen, ich kann die Antwort in mir reifen lassen. Sonst wäre ich mit der vielen Fahrerei, meinem Brotjob, den vielfältigen Baumaßnahmen und dem menschlichen Sammelsurium im Pförtnerhaus längst restlos überfordert."
Und wieder ein Kunde.
"Wollen wir, wenn Sie hier gleich fertig sind, noch irgendwo eine Kleinigkeit essen? Und dann fahre ich Sie auf den Berg."
Gradezu geschockt reißt Namjoon die Augen auf.
"Sie ... sind ein verdammter Engel!"
"Wenn ich das 'verdammt' streichen darf, nehme ich das Kompliment gerne an."
Da ist es ja wieder, das charmante Lächeln.
"Dann bedanke ich mich für die Einladung."
Sehr gut. Auf dieser Basis können wir doch miteinander klarkommen.
Ich warte die letzte Viertelstunde einfach ab, während Namjoon noch einen Kunden bedient, seinen Kollegen für die Nacht begrüßt und die Kasse abrechnet.
Er holt sich von irgendwo hinten seine Jacke und steht dann unsicher neben mir. Ich lächele ihn an.
"Na, dann los. Irgendwelche Vorlieben?"
"Ich richte mich ganz nach Ihnen."
"Möp. Falsche Antwort."
"Wieso? Ich kann doch nicht einfach ..."
"Irgendwo zwischen dem mechanisch-höflichen Herrn Kim und dem Arschloch befindet sich das Zuhause des natürlich freundlichen Namjoon. Finden Sie Ihr Zuhause. Dann finden Sie auch sich selbst und können wieder zufrieden in den Spiegel schauen. Glauben Sie mir - das fühlt sich richtig gut an."
Namjoon schüttelt den Kopf.
"Irgendwie ... Wenn Sie so vorbehaltlos nett sind, fühlt es sich gradezu furchtbar an, muffelig und unhöflich zu sein. Dann ... Ich glaube, ich habe grade Lust auf Sushi. Aber ist das nicht zu ..."
"... teuer? Nein, ist es nicht. Kommen Sie."
Erleichtert, dass das Gespräch so ehrlich und freundlich verläuft, gehe ich vorweg zu meinem Auto.
Für mein Lieblings-Sushi müssen wir weiter in die Stadt rein, denn das liegt in der Nähe meines Jobs. Zum Glück ist es ein Drive Through, also muss ich nicht um einen Parkplatz kämpfen. Mit unserer Beute steuern wir dann in Richtung Bukhansan, halten an einem der zahllosen kleinen Parks von Seoul und suchen uns in der fortgeschrittenen Dämmerung eine Parkbank mit etwas Licht von einer Laterne. Kurz darauf ist es dann so dunkel, dass wir doch mehr raten als wissen, was wir essen. Aber eigentlich macht das sogar noch mehr Spaß.
"Ich wage es jetzt einfach mal. Darf ich Sie bitten, mir Ihre ganze Geschichte zu erzählen? Dann kann ich wahrscheinlich Ihre Stimmungssprünge besser verstehen, und wir geraten nicht mehr so heftig aneinander."
"Den Donnerstag? Oder das Ganze?"
"Ich habe Zeit. Gerne beides."
Er überlegt einen Augenblick. Dann schließt er die Augen und senkt den Kopf. Ich höre, dass er etwas murmelt.
"Scheiße, ist das peinlich."
Ich berühre ihn kurz am Arm und antworte genauso leise.
"Brings hinter dich. Und dann mach eine schöne Erfahrung."
Langsam hebt er den Kopf. Seine Augen glitzern in der Dunkelheit. Seine Frage ist zaghaft wie ein Windhauch.
"So wie die andern alle?"
"So wie die andern alle."
In diesem Augenblick fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
DESHALB hat Onkel Harry meinen koreanischen Vornamen immer so sehr geliebt! 사랑 남자 Sarang Namja heißt „Liebe, Mensch", also: „lebe, um die Menschen zu lieben". Er hat schon immer in mir gesehen, wer ich bin. Und er wollte, dass auch ich das in mir entdecken kann. 'So wie die andern alle.' Ich bin wach oder müde, kraftvoll oder erschöpft, zuversichtlich oder verzagt, fröhlich oder traurig, geduldig oder genervt und was nicht alles noch. Ich kenne Gefühle von Sympathie und Antipathie, aber ich glaube, ich habe noch nie jemand gehasst. Nur hinterfragt, oder mir vom Leibe gehalten.
"Sind Sie okay? Wenn es jetzt nicht passt ..."
Namjoons Frage holt mich zurück in die Realität. Ich staune. Mir laufen Tränen übers Gesicht! Ich fühle ganz viel Dankbarkeit, fühle mich auf einmal freier. Ein bisschen freier von der Last des schlechten Gewissens.
"Ja, kein Problem. Ich ... hab nur grade was über mich selbst kapiert. Aber was Schönes. Mir gehts gut!"
Er sieht richtig erleichtert aus. Ich muss ihn ziemlich erschreckt haben.
"Dann ... fange ich glaube ich mal am Schluss an und arbeite mich rückwärts. Der Donnerstag."
Er stockt.
"Ich habe mich nach der Haftentlassung so schnell wie möglich um den Job gekümmert, konnte aber leider keine feste Adresse auftreiben. Unter anderem, weil mein Bewährungshelfer dabei an meinen Hacken geklebt und immer wieder seeeeehr zielführende Zwischenbemerkungen gemacht hat.
Ich hatte viel Geld veruntreut. Mehr, als jemals jemand zurückzahlen kann. Alle Gläubiger haben also einen anteiligen Wert als Entschädigung zugesprochen bekommen von der zum Glück noch ziemlich großen Summe, die ich noch nicht ausgegeben hatte. Aus dem Verkauf meiner Luxuswohnung, meines Porsche, blablabla. Trotzdem wird - egal, wie viel oder wenig ich verdiene - auf viele Jahre hinaus fast mein gesamter Verdienst gepfändet. Von dem Taschengeld, was dann noch bleibt, kann ich nicht mal ein Zimmerchen mieten."
"Wer hat sich denn DEN Unsinn ausgedacht!?!"
Ich schüttele verwirrt den Kopf.
Er zuckt mit den Schultern.
"Keine Ahnung. Meine Eltern hatten vor Gericht ihre Adresse als Wohnsitz für mich angegeben. Als ich dann aber vor der Tür stand, haben sie mich gar nicht erst reingelassen. Das Gefühl, von meiner Familie abgelehnt und aufs Abstellgleis geschoben zu werden, war mir so vertraut, dass es mich nicht zum Nachdenken gebracht hat.
Dann habe ich mich von meinen ersten Kröten in einen ansehnlichen Zustand gebracht und mich bei so ziemlich allen Banken beworben, die in Seoul einen Sitz haben. Ich kann ja was. Ich war gut in meinem Job. Die Headhunter haben damals Schlange gestanden. ...
Die meisten Banken haben nicht mal geantwortet. Ein paar Absagen sind eingetrudelt, die stocksteif bis unhöflich waren. Und am Dienstag kam dann endlich eine Einladung. Für Donnerstag."
Namjoon schweigt einen Moment, schüttelt den Kopf, starrt auf seine Schuhspitzen.
"Ich war da aber schon auf dem Weg zur Nachtschicht. Ich bin grade total blank. Ich musste am Mittwoch Schlafmangel aufholen. Ich konnte also nur darauf hoffen, dass ich an dem Morgen alles ganz schnell organisiert kriege. Und ich weiß, dass das keine Entschuldigungen sind, nur Gründe. Ihr habt es oft genug gesagt: das Gelingen dieses Termins lag ganz allein in meiner Hand. Niemand sonst war dafür verantwortlich.
Tja. Übermüdet, aufgedreht, ängstlich, im Kämpfermodus, wie ich war, habe ich mir Kleidung rausgesucht, nach einem Bügeleisen gesucht, keins gefunden und völlig die Kontrolle verloren."
"Oweh. Ich ahne."
Namjoon ist ein geschickter Erzähler. Er zieht mich richtig in seinen Bann. Ich hocke gespannt auf der vordersten Latte der Parkbank und blende die Welt drumrum vollkommen aus.
"Ganz genau. Ich hab ja von Anfang an nicht kapiert, wie man so offen und ehrlich sein kann, wie ihr es für mich wart. Ihr habt sogar so mal eben meinen Umzug gemanagt. Ihr habt mir eine Chance gegeben, habt mich in eure Karten schauen lassen, habt euch verwundbar gemacht. Ich musste die Jungs nur an ihren Schwachstellen packen."
"Und das ist dir auch wunderbar gelungen. Zu gut. Aber warum die Jungs? Die hatten dir doch nun wirklich nichts getan."
"Genau. Überhaupt nichts. Deshalb habe ich mich auch vom ersten Tag an so seltsam, so willkommen ... und gleichzeitig so unwohl gefühlt. Ich war zwei Jahre lang im Knast. Da verlernst du, Mensch zu sein. Friss oder stirb. Sei stärker oder geh unter. Freundlichkeit hat IMMER einen Haken und einen Preis."
"Aber wie geht das denn? Man ist doch eingesperrt, unter ständiger Beobachtung, niemals alleine. Ich kapier das nicht."
"Alles Blödsinn. Die finden ihre Nieschen und unbeobachteten Momente. Ein Beispiel: jeder Neuankömmling wird zwangstätoviert. Und wenns sein muss, auf dem Klo oder im Schlaf. Schlafentzug ist Folter. Ich habe nicht einen Stich abbekommen, aber der Preis war hoch. Ich habe fünf Leute krankenhausreif geprügelt. Und das steht alles in meiner Akte."
Ich kriege Gänsehaut am ganzen Körper.
Wie kann der Staat das zulassen? Das ist doch absurd! Diese Menschen werden zur Strafe und zur Besserung eingesperrt - und lernen als erstes, dass Freundlichkeit eine Lüge und Skrupel der direkte Weg in die Hölle sind. Und das ganze bitteschön von unseren Steuergeldern. Das ist ja eine wahre Monsterschmiede!
"Was ist am Donnerstag passiert? Bei dem Bewerbungsgespräch? Kannst du mir das sagen?"
"Ich zittere innerlich vor Angst, dass du irgendeine dieser Informationen gegen mich verwenden wirst. De facto kann mir das nämlich nicht scheißegal sein. Ich MUSS es schaffen, draußen zu bleiben. Zurück in den Knast wäre mein sicherer Tod. Du machst dir keine Vorstellungen, was Wiederkehrer erwartet. Du bist kein Mensch mehr - selbst für die nicht."
"Ich glaube, ich will mir das auch nicht vorstellen. Aber ich fange an zu ahnen, wie unlogisch und suspekt dir alles vorkommen muss, was in der Pförtnerei passiert."
"So ungefähr. Neben so viel in meinen Augen naiver Freundlichkeit war dieses Bewerbungsgespräch eine richtig vertraute Nummer. Da saß nämlich nicht ein Personalchef. Da saßen drei. Mein ehemaliger Chef, der Personaler dieser Bank, und ein weiterer, den ich noch vom Studium kannte. Und die hatten mich nicht eingeladen, um mir eine Chance zu geben. Sondern um mir ein für alle Mal klar zu machen, dass ich nie. Nie! Wieder einen Job in irgendeiner Bank bekommen werde. Weil ich mir das selbst verspielt habe. Weil kein Kunde einer Bank sein Vertrauen schenkt, wenn die einem skrupellosen Betrüger sein Geld anvertraut. Weil ein Aufatmen durch die südkoreanische Bankenwelt ging, als ich weg vom Fenster war. Weil ... ich kapieren soll, dass sie meine Bewerbungen als Zumutung empfinden und doch bitteschön nicht weiter belästigt werden wollen. Der Umgangston war mir vertraut. Aber der Inhalt dieser rabiaten Worte hat mich von den Beinen gesägt."
"Autsch."
Eigentlich hatte ich nichts anderes erwartet, aber als Namjoon diese bittere Wahrheit mit so betroffener, erniedrigter Stimme runterspult, kann ich die Demütigung, das böse Erwachen, die brutalen Schläge mit dem Hammer der Realität gradezu körperlich nachempfinden.
Niemand, wirklich niemand mehr ist noch bereit, in ihm einen Menschen zu sehen. Da ist nur noch das Arschloch, und mit dem kann mans ja machen.
"Und dann kommen wir mit unserer herzlichen, zugewandten Offenheit, mit unseren nicht verheimlichten Ängsten und mit unserem Ringen um Würde und Zukunft und sind einfach nett. Ich glaube dir gerne, dass das für dich suspekt und bedrohlich wirken muss."
"Irgendwie so, ja. Weißt du, was ich vorhin befürchtet habe, als du plötzlich in der Tanke gestanden hast?"
Ich zögere mit der Antwort, denn meine Phantasie ist nicht in der Lage, sich irgendeine böse Absicht für mein Verhalten auszudenken.
"... N.Nein? ... Etwas Gemeines?"
Sein Lachen klingt so bitter und schmerzhaft, dass ich gradezu sehen kann, wie seine gedemütigte Seele wimmernd in der Ecke hockt.
"Ich habe einen Moment lang befürchtet, dass du mich auf die Probe stellen und mich eine Stunde lang vor den Kunden provozieren würdest. Und am Schluss meinem Chef sagen würdest, dass er mich entlassen soll, weil ich gewalttätig geworden bin. Ich war auf der Stelle im Knasti-ichwillnichtuntergehen-Modus. Und was machst du? Du bietest mir einen Kaffee als Friedenspfeife an!"
Namjoon rauft sich die Haare, und ich starre ihn mit weit aufgerissenen Augen wortlos an.
Ich soll ... WAS geplant haben? Eh ...
Nur ganz vorsichtig schaut er zu mir rüber, völlig unsicher, wie ich reagieren werde. Aber bei meinem perplexen Gesicht fängt er sofort an, schallend zu lachen. Es klingt amüsiert und befreit. Richtig schön.
"Siehst du? Es will mir nicht in den Kopf, aber du bist tatsächlich so."
Ganz leise schiebt er noch was hinterher.
"Sei mir nicht böse. ... Ich fürchte, es wird noch eine halbe Ewigkeit dauern, bis ich DAS normal finden kann. Aber bitte, bitte - schmeiß mich da oben nicht raus. Wo wenn nicht bei euch kann ich endlich lernen, ein Mensch zu sein?"
"Es liegt auch in deiner Hand, ob du fliegst. Das weißt du, oder?"
"Klar. Deshalb hab ich ja so eine Angst davor."
Eigentlich ... Ihm scheint nicht bewusst zu sein, wie viel er schon begriffen hat. Wieviel schon da ist, woran er anknüpfen kann. Die Sehnsucht ist da. Er hat das nur bisher viel zu selten erleben dürfen.
"Namjoon? Darf ich etwas rückwärts in der Zeit gehen und dich fragen, was in deinem Leben dich so hat werden lassen? Oder bist du für heute Abend sattgefühlt und brauchst eine Pause?"
Er schaut an den Himmel, lauscht in die Nacht. Oder in sich rein. Ich bin mir nicht sicher.
"Beides? Es ist absolut surreal. Und brandgefährlich. Und es tut mir so gut, hier mit dir zu sitzen und endlich, endlich mal alles loszuwerden."
Stille. Es arbeitet in seinem Gesicht, soweit ich das im spärlichen Schein der Parklaterne erkennen kann.
"Ich bin der jüngste von fünf Brüdern. Wir sind in Itaewon aufgewachsen, wo meine Eltern heute noch leben. Sie wollten viele Kinder, haben uns geliebt und nach ihren Möglichkeiten gefördert. Trotzdem hatte ich schon als kleiner Junge ganz oft das Gefühl, ich sei zu viel, sei ungewollt. Das war eine ganz einfache Rechnung: sie haben vier Hände, sie haben vier Söhne, der fünfte passt einfach nicht mehr dazu. Ich habe mich verloren und im Stich gelassen gefühlt und lange keinen Fuß auf den Boden bekommen."
Sein Tonfall wird schmerzhaft zynisch.
"Aber schon in der Grundschule war ich größer als alle anderen. Also habe ich im Laufe der Jahre gelernt, mir mit purer Kraft Aufmerksamkeit und Respekt zu verschaffen. Ich hatte für mich verstanden: da ist keine Hand zum Festhalten mehr frei für mich. Ich muss also alleine klar kommen. Ich habe innerlich die Ärmel hochgekrempelt und gekämpft. Ich hatte keine Freunde oder Kontakte, einfach nur den festen Willen, nicht unterzugehen. Ich habe mich im Schatten anderer durchgeschlängelt, wenns sein musste, gemogelt, verhandelt, Charmeoffensiven eingesetzt, immer eine Maske aufgehabt. Allein an der Spitze zu stehen, fühlte sich für mich ehrlicher und wirklicher an, als zu versuchen, mich auf irgendjemand anderen zu verlassen. Also habe ich mich an die Spitze gekämpft und niemand wirklich an mich rangelassen."
Stille.
"Und dann habe ich die Bodenhaftung verloren. Den Rest kennst du."
In der Tat. Den Rest kenne ich. Eine tiefgefrorene Seele, die jede Hoffnung auf ehrliche Wärme und Anerkennung verloren hat.
Auf einmal fröstelt es mich trotz der lauen Hochsommernacht.
Und das erklärt auch, warum er die Verantwortung immer bei anderen sieht. 'Ihr habt mir ja nie geholfen, also wundert euch nicht, wenn ich das nicht kann. Das Leben schuldet mir noch was. Also her damit.' Das klingt entsetzlich einsam. Und es wird ein hartes Stück Arbeit werden, dieses bittere Lebensgefühl durch ein positiveres zu ersetzen.
Spontan stehe ich auf, gehe um das Sushi zwischen uns auf der Bank drumrum, ziehe ihn hoch und nehme ihn einfach fest in die Arme. Erst steht er ganz starr. Doch schließlich lässt er los, entspannt sich und erwidert die Umarmung.
"Danke. Du bist ein Wunder für mich. Und entschuldige bitte. Ich war blind. Ich brauche die Mutti in dir genau so wie alle anderen auch. Jeder braucht mal eine Mutti, die einen im richtigen Moment fest in die Arme nimmt."
Keine Ahnung, warum es mich jetzt immer noch - oder wieder? - stört, dass er mich Mutti nennt. Ich wäre alles gerne. Nur nicht seine Mutti.
Wir stehen einfach da, mitten in der Nacht, und sehen uns an. Er lächelt.
Da ist es ja wieder - sein charmantes Lächeln, das Gletscher zum Schmelzen bringen kann.
Seine Augen glitzern mich an. Ich spüre seine Erleichterung, sein Glück. Dann geht plötzlich alles ganz schnell. Namjoon beugt sich ein wenig vor und küsst mich sanft auf die Lippen. Nur ganz kurz. Er erschrickt, lässt mich los, stolpert rückwärts über die Bank, verschwindet halb im Gebüsch, schlägt die Hände vors Gesicht, stöhnt auf.
"Ich IDIOT!"
Ich stehe unbeweglich am selben Fleck und versuche, zu verstehen oder zu fühlen oder zu ... irgendwas. Namjoon hat mich geküsst. Und das hat sich um Längen besser angefühlt als das 'Mutti' direkt davor. Mein ganzer Körper kribbelt, und soweit ich meinen Körper kenne, will er mir damit etwas sagen.
'Denkst du ab und zu auch mal dran, dass du eine Frau bist? Wenn du nicht willst, dass er dich Mutti nennt, dann benimm dich gefälligst nicht dauernd wie eine.'
Recht hat er.
Ich löse mich aus meiner Starre, folge Namjoon ins Gebüsch, helfe ihm auf und ziehe seine Hände weg von seinem Gesicht. Pure Angst springt mir entgegen.
"Entschuldigen Sie vielmals. Ich hätte nicht ... Ich weiß auch nicht, was ... Das war ..."
"... schön! Hör auf, dich zu entschuldigen. Und hör auf, mich zu siezen. Das war schön. Und viel zu kurz. Und ich bin immer noch nicht deine Mutti. Ich bin nämlich nebenbei auch eine Frau. Und ich weiß jetzt, warum ich am Freitag da oben in der Küche gestanden und geheult habe. Da hat die Frau in mir laut aufgejault, weil sie das 'Mutti' so bescheuert und so falsch gefunden hat."
Namjoon starrt mich an wie einen Geist. Er schwankt, seine Hand greift ins Leere auf der Suche nach Halt.
"Und jetzt hör auf, wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren. Komm her und lass uns rausfinden, ob das für uns beide stimmt. Sonst platze ich gleich vor lauter Anspannung."
Ich greife nach seiner Hand, ziehe ihn zu mir ran und lege meine Arme um seinen Nacken.
"Bitte!"
Hilflos suchen seine Augen in meinem kaum beleuchteten Gesicht nach der Wahrheit. Was er sieht und hört, passt nicht zu seinem Selbstbild vom Arschloch.
Die Zeit scheint für einen Augenblick still zu stehen, während er um Klarheit ringt und ich von mir selbst überrascht den Atem anhalte. Die Luft brennt zwischen uns.
Dann endlich, ganz, ganz sanft spüre ich seine Hände an meinem Rücken. Vorsichtig zieht er mich nah zu sich ran und schließt die Lücke zwischen uns. Flüstern. Nur ein Hauch.
"Wirklich?"
Räuspern.
"Du ... meinst das so? Du spielst nicht mit mir?"
"Dann wäre ich das Arschloch. Versprochen. Ganz bestimmt nicht."
Nur ganz selten in meinem Leben war ich mir so sicher, dass ich die Wahrheit sage, wie in diesem Augenblick.
"Dann ..."
Wir überbrücken die letzten Zentimeter zwischen unseren Gesichtern und lassen uns diesmal viel Zeit - mit einem sanft schwebenden, vorsichtig hinspürenden, vor Erleichterung und Neugierde vibrierenden Kuss.
........................
31.1.2023 - 22.3.2024
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