21 - Wege aufeinander zu
Jeongguk steht mitten im Gemeinschaftsraum, unschlüssig, wohin mit Händen und Füßen, und schaut niemand an. Taehyung liegt mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und wippt mit den Füßen zu der Musik, die er grade hört. Hoseok ist nicht zu sehen, und Jin wurschtelt mal wieder in der Küche. Yoongi macht es sich im einzigen Sessel im Raum gemütlich. Hätte ich nicht eben all die Narben gesehen, würde mich dieser Moment unendlich glücklich machen.
Wie viel Frieden ist hier schon eingekehrt! Aber so ...
Ich setze mich auf den nächsten Stuhl und warte ab, was jetzt kommt.
Taehyung merkt, dass der Raum auf einmal voller Leute ist, macht seine Musik aus und beobachtet uns still.
Unser Jüngster ballt seine Hände zu Fäusten, holt tief Luft und fragt laut in den Raum.
"Jin?"
In der Küche scheppert es kurz, dann dauert es eine Weile, bevor der Angesprochene den Kopf zur Tür reinsteckt. In seiner Stimme schwingt eine seltsame Mischung aus Angst und Entschlossenheit.
"Ja?"
"Was hab ich diesmal getan?"
Mir bleibt die Luft weg. Ich habe ja zum ersten Mal so richtig erlebt, dass Jeongguk einen Totalaussetzer hat. Also ist auch diese Hinterhersituation neu für mich. Der Schmerz in dieser noch jugendlich-unreifen Stimme schneidet in den Ohren und lässt ahnen, dass für den Jungen alles noch viel furchtbarer ist, als wir erfassen können.
Jin kommt ganz in den Raum rein, und ich spüre sofort, dass etwas anders ist. Der erniedrigte, resignierte Mann von vorhin ist innen drin noch da. Aber der Mann, der leben will, hat außen die Führung übernommen.
"Spielt das eine Rolle, Gukkie? Ich weiß doch, dass du in solchen Momenten nicht Herr deiner Entscheidungen bist und hinterher alles bitter bereust. Ich weiß, dass dein Instinkt sich immer das schwächste Ziel aussucht, weil irgendwas in dir drin das so entscheidet. Aber das heißt doch nicht, dass ich der Schwächste bin."
Mir fällt die Kinnlade runter.
"Ich selbst habe das viel zu lange geglaubt, und es wird wahrscheinlich noch drei Ewigkeiten dauern, bis in meinen Gefühlen ankommt, was mein Verstand vorhin begriffen hat: ich bin kein Versager. Ich bin keine Nullnummer. Ich bin ein Teil dieser Gemeinschaft, und ich trage meinen Teil dazu bei, dass es uns allen so gut geht wie schon seit Jahren nicht mehr. Ich staune selbst, dass ich das laut so sagen kann. Aber: ich hab dir vorhin einfach nur zufällig im Weg gestanden. Mehr nicht."
Ich möchte laut jubeln.
"Wenn du mich so wie heute gegen die Wand schubst und beschimpfst, dann meinst du nicht mich. Sondern deine Angst, die du dir vom Leib halten musst. Ich will lernen, mir diese vergammelten Schuhe nicht mehr anzuziehen, weil ich glaube, dass mich dann solche Situationen nicht mehr so runterziehen. Wir Älteren hier wünschen uns alle von ganzem Herzen, dass du deine wie auch immer furchtbare Last endlich loswerden kannst, weil wir es nicht mehr mit ansehen können, wie es dich von innen her auffrisst. ... Komm her!"
Jeongguk hat irgendwann den Blick gehoben und Jin mit fast kindlich naiv staunenden Augen angestarrt. Er rührt sich keinen Millimeter. Ich könnte aber nicht sagen, ob aus Scham oder aus Verblüffung. Jin dagegen macht die letzten Schritte auf den irritierten Jungen zu und nimmt ihn einfach in die Arme.
"Wenn du doch nur endlich den Mund aufmachen würdest! Keine Bedrohung der Welt kann so furchtbar sein wie diese endlose Qual."
Jin hat Mühe, den haltlos in sich zusammensackenden Jugendlichen zu stützen. Tae springt dazu und hilft den beiden zum Sofa. Yoongi verlässt still und stumm den Raum.
Ich sitze derweil auf meiner Stuhlkante und fühle mich hin und her gerissen. Diese Mischung aus ständig wechselndem Irrsinn, Katastrophen und Lichtblicken am Horizont schüttelt mich innerlich regelrecht durch. Ich bin so angespannt, dass mir schon alle Muskeln weh tun. Aber immerhin hat der überhaupt nicht so unfähige Jin es wohl geschafft, zu Jeongguk durchzudringen. Die drei konzentrieren sich aufeinander. Also habe ich Zeit, meine jagenden Gedanken einzufangen und zu sortieren. Erschöpft vom Mitfühlen schließe ich die Augen.
Oh Mann, Karussell, kannst du mal anhalten?!? Wie sortiere ich mir das ganze denn jetzt? Am besten der Reihe nach ...
Es sind jetzt sechs Männer. Das Alter kann ich nur schätzen. Jeongguk ist wohl 17. Taehyung ist volljährig, aber viel mehr als 19 wird er nicht sein. Hoseok und Jin halte ich für etwa 22 bis 23, höchstens 24. Yoongi ist irgendwo zwischen den beiden und mir. Ich bin 33, also ist er wohl zweite Hälfte 20. Und Namjoon ist älter als ich. Studium plus Berufseinstieg plus Karriere plus Straftat plus Knast - der ist also mindestens 35.
Was weiß ich noch? Hobi ist immer noch pragmatisch, zielstrebig, geschickt, selbstbewusst und hat einen feinen Gerechtigkeitssinn. Er vertraut mir, sonst hätte er den Job hier und mein Angebot nicht angenommen, sein Studium zu finanzieren. Er hält hier viel zusammen.
Tae ist erlöst von seinen erdrückenden Schuldgefühlen und gut wieder in seiner Familie angekommen. Er hat ein hochgradiges Verantwortungsbewusstsein, sieht und versteht viel, ist manchmal Stimmungsmacher. Seine fröhlich-frechen, gerne auch mal spleenigen Einfälle sind spannend. Ich bin neugierig, was da später für ein Beruf draus wird, denn Maurer bleibt DER nicht für immer. Steckt mit Guk in einem Zimmer, hat einen guten Draht zu ihm, zu ... eigentlich allen.
Jin ist innerlich und äußerlich raus aus dem Keller. Er fühlt sich in der Gemeinschaft so sicher, dass er immer öfter seinen schrägen Humor rauslässt, gerne mit anpackt, vor allem in der Küche. Er hat heute irgendwie einen Schalter umgelegt und zumindest theoretisch kapiert, was alles in ihm stecken könnte. Er hat grade eine großartige Brücke zu Jeongguk gebaut. Hm. Da er bisher "der Schwächste" und als solcher Guks Wutopfer war, könnte diese auf den Kopf gestellte Situation auch bei unserem Jüngsten was in Bewegung bringen. Hoffentlich!
Jeongguk ist immer noch minderjährig, laut und frech. Er ist viel netter, als er zugeben möchte. Und er ist hochgradig traumatisiert worden in der Vergangenheit. Er hat verschiedene üble Narben am Oberkörper, die er gut versteckt. Ich muss die anderen fragen, ob sie ihn jemals mit freiem Oberkörper oder zumindest kurzen Ärmeln gesehen haben. Ich vermute nicht. Er vertraut auf Yoongi, hört auf ihn auch in Triggersituationen, hat dann Kontrollverluste, bezeichnet sich selbst als Zombie. Er will schon hier raus, weigert sich aber, weil 'DIE' dann ihn, seine Familie und uns alle umbringen werden/könnten/oder so. Ansonsten spricht er nie von seiner Familie, scheint sie auch nicht zu vermissen.
Er ist eben zweimal zusammengebrochen allein bei der Vorstellung, dass es einen Ausweg geben könnte. Vielleicht braucht er als erstes nicht eine Ausbildung sondern einen Therapeuten? Dem er dann aber auch erstmal vertrauen müsste. Haha.
Und Yoongi? Hat mir zwar seine Geschichte erzählt, was sein Sorgen um Guk erklärt. Aber er ist noch genau so zu und distanziert und auf der Hut wie vorher. Ich weiß immer noch nichts über seinen Job, seine Ziele in der Stadt. Und ich habe schon gar keine Erklärung, warum seine Gefühle so abwechselnd gelassen oder ängstlich, souverän oder verärgert, zugewandt oder frustriert wirken. Warum zum Beispiel ist er eben einfach gegangen, statt sich mit zu freuen, dass Jin eine Brücke zu Guk schlagen konnte? Das ist völlig unlogisch!
Und überhaupt. Warum hat er am Freitag all diese Tabs mit Projekten geöffnet, AUCH den mit der Zweiradwerkstatt, hat mir auch alle gezeigt - nur den einen ausgerechnet nicht, der tatsächlich passen könnte? Und dann hat er auch noch gesagt, dass die mich als Vertrauensperson akzeptieren müssten - warum nicht ihn???
Namjoon hingegen ist nicht so schwer. Ich weiß noch fast nichts über ihn. Außer, dass er stinkt vor Arroganz, dass er so schnell wie möglich wieder hier weg will und nur gute Miene zum bösen Spiel macht, weil 'zurück in den Knast' noch schlimmer ist als das hier. Ich weiß auch nicht, ob ich ihm trauen kann. Aber er hat einen weichen Kern, der mit ihm durchgegangen ist, als er mich nach Hause gefahren hat. Und ihm ist schon bewusst, wie weit wir auf ihn zugegangen sind.
Ich fühle mich ein bisschen sortierter, als ich meine Augen wieder öffne. Ich muss ganz weit weg gewesen sein, denn nun sitzt auch Hobi mit auf dem Sofa. Mitgekriegt hab ich sein Auftauchen nicht. Es ist ein wirklich berührendes Bild, denn ... Jeongguk ist mitten in diesem Männerhaufen vor lauter Erschöpfung einfach eingeschlafen. Müde gekämpft. Leer geängstigt. Am Ende.
Haben wir ihm zu sehr zugesetzt? Ihn zu sehr gedrängt? Hätten wir noch warten sollen?
Und weiter - will ich zuviel? Mische ich mich zu sehr ein? Stülpe ich den Jungs mein Bedürfnis nach heiler Welt über?
Die Katze beißt sich in den Schwanz bei Guk, weil wir nicht helfen können, so lange wir nichts wissen, Guk aber nichts erzählen will, so lange die Bedrohung noch existiert. Bei mir geben sich die Motive eher ein Stelldichein, denn mein Antrieb ist nicht nur das Testament sondern auch das schlechte Gewissen und das Mitleid mit jedem einzelnen. Und meine Vorfreude auf die Villa und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, und ... Reicht! Ich zieh mich selbst runter, wenn ich mir nur solche Motive unterstelle.
Die Haustür klappert. Mein Magen knurrt. Jeongguk seufzt und wacht auf. Ich bin überfordert.
Namjoon kommt zur Tür rein, will zur Küche gehen, sieht den komischen Männerhaufen auf dem Sofa - murmelt "Kindergarten" und tritt den Rückzug an.
Idiot!
Die Jungs sortieren sich.
"Ich war vorhin in der Küche an einem Experiment. Wenn ihr mir helft, können wir noch vor Mitternacht essen."
Jin schaut grinsend in die Runde und schreitet dann mit Tae und Guk zur Tat.
Hoseok kommt zu mir rüber und nimmt mich einfach so in die Arme.
"Drück mich mal bitte, damit ich runterkomme. Mein Hirn läuft Amok. So furchtbar war es echt noch nie. Aber irgendwas ist jetzt anders."
Ich drücke ihn einmal fest und atme dann ganz bewusst ein paar mal tief ein und aus. Hoseok atmet intuitiv mit, und so können wir beide ein bisschen Anspannung wegatmen.
"Lass uns draußen ein paar Schritte gehen."
Neugierig folgt er mir den Weg zur Villa hoch.
"Und?"
"Was anders ist? Jin ist anders. Er ist aufgewacht. Er ist Guk entgegengegangen, hat ihn umarmt. Hat ihm gesagt, dass er weiß, dass Guk gar nicht ihn meint. Und dass er sich deswegen auch nicht mehr als Schwächling oder Versager fühlt. Er war großartig vorhin. Und er weiß es!"
"Das ist ... WOW! Ich bin sooo dankbar, dass du gleich gekommen bist."
"Ich muss dir aber noch etwas anderes sagen. Und deshalb sind wir hier draußen. Hast du Jeongguk jemals ohne lange Ärmel gesehen?"
Hoseok schüttelt nachdenklich den Kopf. Dann macht er eine Vollbremsung und starrt mich entsetzt an.
"Nee, 'ne?"
"Weiß ich ehrlich gesagt nicht, denn da konnte ich noch nicht hinsehen. Aber als Guk vorhin mit Yoongi und mir hinter der Garage im Gras gesessen hat, ist ihm kurz der Pullover raufgerutscht."
"Und?"
"Jeongguk hat am ganzen Oberkörper Narben von schweren Wunden und Misshandlungen. Die sind definitiv nicht von ihm selbst. Und da er Angst um die Sicherheit seiner Familie hat, steckt da wohl auch kein innerfamiliärer Konflikt dahinter, wie ich zuerst dachte vorhin. Er hat Angst vor 'die da draußen'. Deshalb ist 'da draußen' für ihn eine Bedrohung."
"Okay - wie furchtbar! Aber das erklärt einiges. Hat Yoongi das auch gesehen? Oder wusste er das schon?"
"Yoongi war genau so geschockt wie ich, das war also auch ihm neu. Jedenfalls hat Guk wohl nicht mitbekommen, dass wir mehr gesehen haben, als wir sollten. Und wir haben uns kurz verständigt, dass er das auch erstmal nicht erfahren muss. Er hat sich jetzt mühsam wieder gefangen, das sollten wir nicht gefährden."
"Ich schweige wie ein Grab."
Wir spazieren einmal um die Villa drumrum.
"Worum gings heute eigentlich?"
"Darum, dass Yoongi und ich einen sozialpädagogisch betreuten Zweirad-Werkstattladen an unserer Busstrecke gefunden haben. Yoongi wollte vortesten, wie groß die Chancen sind, dass Jeongguk eine Ausbildung anfängt. Aber allein die Andeutung hat ihn völlig aus der Bahn geworfen."
"Zweira... - Genial!"
Hoseok pfeift durch die Zähne.
"Und die Randbedingungen?"
"Er kann jederzeit anfangen. Die brauchen keine Eltern, kein Jugendamt, kein wasweißich, nur einen Bürgen, das wäre dann ich. Und ..."
"Warum nicht Yoongi?"
"Frag mich was Leichteres. Er hat beim Vorlesen dieser Passage von der Homepage vollkommen überzeugt und selbstverständlich nur mich genannt."
Wir biegen um die nächste Ecke der Villa.
"Mensch, hoffentlich bleibt Yoongi dran. Diese Stelle wäre für Gukkie tatsächlich eine realistische Chance. Aber er ist jetzt erstmal so wackelig, dass er sich einhundertprozentig auf Yoongi verlassen können muss."
Irgendwas an diesem Satz macht mich nervös. Aber was? Hmpf.
Allmählich geht die Sonne unter. Mein Magen meldet inzwischen deutlichen Protest an. Also wenden wir uns wieder zum Pförtnerhaus in der Hoffnung, dass unsere drei Köche mit Jins Experiment fertig sind.
Sind sie zum Glück. Und wir staunen. Sie haben Berge von Häppchen und anderem Fingerfood gezaubert, immer einige gleiche symmetrisch auf einem großen Teller angeordnet, so dass wir uns beim Anblick des beladenen Esstisches fühlen wie bei einem Gala-Buffet. Ein bisschen wirkt es, als hätten sie sich durch die Reste im Kühlschrank gefräst. Da ist wirklich alles dabei, was man auf ein Stück Brot pieken kann. Aber egal, wie ungewöhnlich - alles sieht edel und raffiniert aus.
"Boah - sieht DAS lecker aus! Ich hol die anderen."
Hobi flitzt los, aber Jin hatte wohl schon geläutet, denn jetzt gehen gleichzeitig die Türen zu beiden Fluren auf. Yoongi und Namjoon stoßen dazu. Auch Yoongi bestaunt die sorgfältig dekorierte Pracht. Dann setzen wir uns und greifen zu.
Namjoon ist ungewöhnlich reserviert und still heute Abend. Aber nicht, weil er am Wochenende früher aufstehen muss und darum inzwischen müde ist. Fast zweifele ich, dass er vorhin das Wort 'Kindergarten' gesagt haben könnte. Er wirkt auf mich wach, ganz Auge und Ohr. Wer immer etwas sagt, hat seine volle Aufmerksamkeit. Er riecht und schmeckt und genießt jedes Häppchen, das er isst, sichtlich. Er spricht von sich aus kein Wort, redet nur leise, wenn er gefragt wird. An seinem Gesicht kann ich sehen, wie er die Stimmung, die Anekdoten und dummen Sprüche aufnimmt und mitfühlt. Ich kenne ihn ja grade mal eine Woche, aber ich habe ihn schon in den verschiedensten Situationen gesehen. Das hier ist ein vollkommen anderer Mensch! Und sein amüsiertes Lächeln ist so viel natürlicher und schöner als die aufgesetzte Maske des Überlegenen.
Wie schon ganz oft hilft auch heute die gemeinsame Tischrunde allen, den Trubel und die Anspannungen des Tages etwas abzuschütteln. Diese sechs Männer leben gerne zusammen unter diesem Dach, obwohl jetzt ja alles viel enger und verbindlicher ist als oben in der Villa. Sie alle sind Lernende, sie schenken einander so viel. Guk ist eingebettet und heute Abend wieder ohne erkennbare Angst. Tae und Jin entdecken, wer und was alles in ihnen steckt, was für wertvolle Exemplare der Gattung Mensch sie sind. Yoongi scheint heute Abend wieder klar und mit sich selbst im Reinen. Hobi kann sein 'ich-alles-alleine' loslassen und sich im richtigen Moment Hilfe holen. Und Namjoon saugt diese andere Art zu leben auf wie ein trockener Schwamm.
Ich lausche in mich selbst hinein. Die Schrecken des Nachmittags verblassen, ich bin müde und zufrieden. Hier hat sich schon wieder alles geändert, aber allmählich habe ich mich an die ständige Veränderung als Dauerzustand gewöhnt.
In erstaunlich kurzer Zeit sind alle Platten und Teller leer gefegt, und unsere Mägen ausgesprochen angefüllt von so viel leckeren Sachen. Da steht Jeongguk plötzlich auf.
"Mooooment - noch nicht platzen bitte. Da kommt noch was."
Guk flitzt mit Tae in die Küche, Jin lächelt geheimnisvoll und zufrieden in die Runde, und wir anderen hypnotisieren die geschlossene Küchentür.
Was da jetzt wohl noch kommt?
Aus der Küche dringen geschäftige Geräusche, dann ein herzhaftes: "Mist!" und Gekicher.
Endlich öffnet sich die Tür. In Windeseile stehen drei große Teller mit Muffins auf dem Tisch. Die ersten sind mit Nutella und Bananenscheiben gefüllt, die zweiten mit ...
Marmelade? Oder rosa Sahne? Na, das müssen die mir aber erklären!
Und die letzten mit ... gehacktem Studentenfutter in Honig. Jedenfalls sind das alles auch sehr mächtige, satt machende Bömbchen, und ich habe keine Ahnung, wo ich die noch hinstecken soll. Aber das ist jetzt Ehrensache, die müssen alle probiert werden!
Unsere drei Köche strahlen mit sich selbst um die Wette.
"Jungs, das war unglaublich gut! Alles! Ihr könntet sofort einen Catering Service aufmachen. Ich wäre Dauerkunde."
"Och Mensch, kann nicht mal jemand den letzten Muffin aufessen? Bei mir passt der nu wirklich nicht mehr rein. Los, irgendwer muss sich opfern!"
Befreiendes Gelächter erklingt rund um den großen Tisch bei dieser Klage von Hoseok. Auch Namjoon lacht herzlich mit. Und offenbart dabei zwei Grübchen, die einfach unverschämt viel Charme ausstrahlen.
"Jungs, ich muss ins Bett! Aber vorher muss ich noch was loswerden: ich bin stolz und erleichtert, dass wir miteinander so gut durch den Tag gekommen sind und jetzt wieder so albern und entspannt sein können. Ihr seid, wir sind auf dem richtigen Weg.
Ich wünsch euch was. Bis morgen!"
Ich mache mich zügig auf die Socken. Die abgekühlte Nachtluft tut echt gut. Aber ich bin noch nicht ganz beim Rondell angekommen, als ich Schritte hinter mir höre. Schnell holt Namjoon auf und läuft dann schweigend neben mir her.
"Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie waren heute Abend irgendwie anders als bisher."
Er nickt.
"Weiß ich ehrlich gesagt auch noch nicht. Ich hab das Gefühl, ich bin mit bloßen Füßen über einen vereisten Berg gelaufen. Es war kalt und hart und schmerzhaft und gefährlich. Jetzt bin ich oben, habe keine Ahnung mehr, wer ich bin, und blicke in ein neues Tal. Ich seh nur nicht viel, weil es so neblig ist. Ich muss irgendwie da runter, aber ich kenne den Weg nicht.
Verstehen Sie das? Ich bin notgedrungen in diesen komischen Haufen geraten, weil die Alternative noch viel schlimmer war. Ich kann überhaupt nicht verhindern, dass ich mich in dieser Gemeinschaft und bei dieser Stimmung wohl fühle. Aber alles ist so anders wie ein unerforschtes neues Land. Ohne Guide und ohne Landkarte. Nur ich und das Unbekannte. Das macht mir ... Angst, aber Angst darf ich nicht haben. Wer Angst hat, verliert.
Außerdem scheint heute tagsüber etwas passiert zu sein, was ich nicht kapiert habe. So sehr ich mir auch Mühe gegeben habe eben."
"Darf ich sagen, was ich grade gehört habe?"
"Ja, bitte."
"Sie haben sich heute auf den Weg zur Veränderung gemacht. Sie wissen noch nicht, wie und wohin. Aber in Ihnen drin überwiegt der Mut, es herauszufinden, über die Angst zu verlieren. Und das ist viel mehr, als ich nach so kurzer Zeit zu hoffen gewagt hatte. Sie sind stärker, als Sie selbst wissen."
Schweigend laufen wir nebeneinander her. Wir sind schon fast am Tor zur Straße angekommen, als er schließlich noch etwas sagt.
"Ich ... möchte mich entschuldigen. Ich hoffe, die Jungs haben das vorhin gar nicht gehört ..."
"Ich denke nicht. Sie waren beschäftigt, und Ihre Bemerkung war leise und weit weg genug."
"Wenn ich ehrlich bin, glaube ich manchmal, dass ich der einzige hier bin, der noch Kindergarten veranstaltet - und nicht die anderen. Das ist furchtbar peinlich."
"Und schon vergessen. Ich hätte nie damit gerechnet, dass Sie sooo schnell aufnahmefähig und empfänglich werden würden für die Chancen, die diese Gruppe Ihnen bietet."
Namjoon lacht.
"Naja. Bei solchen Festbanketts wie heute bleibt mir ja auch gar nichts anderes übrig. Wer will da je wieder weg?"
"Sie? Oder hab ich mich doch verhört? An dem Morgen? An der Tanke?"
Einen Moment lang ist es still. Der Test hat wie ein Pfeil ins Schwarze getroffen.
"Ich glaube, dass Sie das sehr wohl trennen können - die schöne, zugewandte Atmosphäre und das leckere Festbankett. Noch vor einer Woche hätten Sie sich wortlos durchgefressen und wären dann einfach ohne Dank wieder verschwunden. Sie hätten sich nicht so auf den Abend eingelassen, so bewusst hingehört und so sehr genossen. Oder?"
"Manchmal sind Sie mir unheimlich, WIE viel Sie sehen und verstehen. Ich kann kaum glauben, dass Sie eine Versicherungsangestellte sind - und nicht Psychologin."
"Ganz ehrlich? Ich staune darüber doch auch. Ich kann mir das nur so erklären, dass da ein fester Wille in mir erwacht ist, etwas bewegen zu können. Dafür ist innendrin unerwartet eine Tür aufgegangen, die freilässt und möglich macht, was ich selbst bisher nicht für möglich gehalten hätte. Da kommen eine unerwartete Kraft und Fähigkeiten zum Vorschein, die hier dauernd gebraucht werden. Und die verblüffen mich genau so wie Sie."
"Das war jetzt aber ein sehr umständlicher Versuch, mein Kompliment zu ignorieren."
Aaaah - dieses Grinsen!
Wir sind längst bei meinem Auto angekommen. Ich lehne entspannt mit dem Rücken neben der offenen Fahrertür, habe eine wohlige Gänsehaut am ganzen Körper, Namjoon steht vor mir im Dämmerlicht, lässig mit den Händen in den Hosentaschen.
Ich versuche, meinen Hirnwindungen eine freche Erwiderung zu entreißen. Mein Hirn will heute aber wohl brav sein und produziert nur eine lahme Bitte.
"Kriege ich noch eine kleine Chance, diesen ungünstigen Eindruck von mir wieder auszugleichen?"
"Na, ich weiß ja nicht, ob das noch geht ..."
Mir fällt sowieso grade nichts Brauchbares ein.
"Okay - dann werde ich mich einfach bei Gelegenheit für diese hinterhältige Taktik bitter rächen."
Ich mache ein böses Gesicht, aber er lacht sich nur kringelig.
Im nächsten Moment steht er wieder ganz still da.
"Dann kommen Sie jetzt sicher nach Hause. Ich wünsche Ihnen einen guten Start in die hoffentlich weniger turbulente neue Woche. ... Und ..."
Verlegen starrt er auf seine Schuhspitzen.
"Ich möchte keine unerfüllbaren Erwartungen geweckt haben. Der Knast und die Börse sitzen tief in mir. Es wird eine Weile dauern, bis ich da raus und im Tal angekommen bin."
"Aber das Tal ist Ihr Ziel, und Sie spüren heute schon, wie gut es Ihnen tun wird, dort zu sein. Nur Mut! Und gute Nacht!"
Ganz Gentleman like hält er mir noch die Wagentür auf, bevor er sich umdreht und den Hang hoch in der Nacht verschwindet.
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25.1.2023 - 22.3.2024
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