20 - wohin mit dem Kind?
Triggerwarnung. Wir erfahren einen ersten Zipfel der Wahrheit hinter Jeongguks Wut. Körperliche Gewalt wird angedeutet. Keine Bilder
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Ich kapiere zwar nicht, warum mein Wecker heute IM Papierkorb klingelt. Aber ich habe genug geschlafen und starte in den Tag. Irgendwann wird mir bewusst, dass Yoongi und ich uns eigentlich in dieser Woche auf Jeongguk konzentrieren wollten, statt unsere Kräfte an einem arroganten Broker und seinem Anstandswauwau aufzureiben. Außerdem ist heute Freitag und damit Zeit für den Wochenrückblick mit den Handwerksmeistern. Also muss ich schon wieder auf den Berg.
Grad wirds wieder ein bisschen viel ... Hallo Work-Bau-Life-Balance. Du bist dann am Wochenende wieder dran. Vielleicht sollte ich mir auch das Samstags-Frühstück bei den Jungs schenken? ... Ich sollte wohl.
Ich ziehe meinen Arbeitstag durch, verabrede mich mit So-Ra für Samstag Morgen bei mir zu einem Frühstück im Bett, ziehe mich zu Hause um und fahre auf den Berg. Die Besprechung mit den Meistern geht schnell.
Dann suche ich mir Yoongi, der heute tatsächlich da ist und irgendwas in seinem Zimmer gruschelt. Auf mein Klopfen hin kommt er sofort raus und zieht die Tür hinter sich ran.
"Was gibts?"
"Hi! Wir wollten uns mit der Zukunft von Jeongguk beschäftigen. Haben Sie grade Zeit dafür? Dann kann ich morgen ausnahmsweise mal zu Hause bleiben."
Kurz überlegt er.
"Haben Sie Ihr Laptop mit? Ich hab mich schon umgehört. Und ..."
Er schaut sich um wie ein Verbrecher, wirkt nervös.
"... vielleicht sollte er das erstmal nicht mitkriegen."
Ach so.
Wir gehen ein Stück und setzen uns auf die Veranda der Villa. Ich klappe mein Laptop auf und überlasse es Yoongi zu suchen.
Wie flott seine Finger über die Tasten huschen! So geübt wird man dann wohl, wenn man sich mehrere Jahre in der Szene tummelt ...
Yoongi ist erstaunlich schnell bei einer ganzen Reihe von Projekten gelandet, die Jugendlichen eine integrative Ausbildung anbieten, mit entsprechender staatlicher Beobachtung und Kontrolle. Aber da wird Jeongguk niemals zustimmen. Yoongi liest mir verschiedene Projekte vor. Noch ist nicht das richtige dabei. Bei genauerem Hinsehen ist da nämlich immer von Eltern bezahlen, Jugendamt kontrolliert, 90% vom Verdienst abgeben und ähnlichen für Jeongguks Situation inakzeptablen Voraussetzungen die Rede.
Für die Suche nach den privat oder von Vereinen initiierten Angeboten braucht Yoongi etwas länger. Die scheinen auch nicht vernetzt zu sein. Aber schließlich rafft Google doch, wonach er sucht. Kurz darauf hält er mir mein Laptop hin.
"Einige der Projekte sind zu weit weg. Bei ein paar ist ein Publikum, das Guk nicht gut tun würde. Ich hab nur die gefunden."
Ich klicke durch die Tabs. Maler. Maurer. Kanalarbeiter. Maler und Lackierer. Gerüstbauer. Ich schüttele den Kopf.
"Wir müssen überlegen, wofür er sich so interessiert, dass er das auch durchhält. Hat ihn denn bei der ganzen vielfältigen Bauerei nicht ein einziger Beruf angelacht?"
Yoongi überlegt noch einmal, tippt auf einen der vorsortierten Tabs und öffnet die Seite.
"Jeongguk interessiert sich für gar nichts. Dann fällt mir höchstens noch das ein."
Ich sehe die Stellenausschreibungen von Hyundai. Aber da sind keine sozialpädagogisch betreuten Stellen dabei.
"Ich glaube, das geht nicht. Das ist ein sehr weiter Weg, und in diesem riesigen Betrieb würde er schnell untergehen."
Schweigend starren wir auf den Bildschirm. Ich bin frustriert.
Es muss doch was geben, wo der Junge hinpasst!
Yoongi neben mir sieht aus, als hielte er grade noch so eine riesige Wut unterm Deckel. Er springt auf, stürmt zwischen die Bäume. Aber nicht weit genug weg, darum kann ich ihn mit großem Staunen beobachten. Er schimpft laut und tritt dann gegen einen Baum. Ich schüttele den Kopf.
Was ist das denn jetzt wieder? Das hatte doch eigentlich aufgehört - diese permanente Unzufriedenheit mit sich selbst. Fühlt er sich für Jeongguk so verantwortlich, dass er es sich persönlich anlastet, keinen Job für den Jungen zu finden? Das ist doch absurd! Und dadurch rettet er auch seinen Bruder nicht.
Okay. Welche Anteile an den Sanierungsarbeiten hat Guk bisher freiwillig übernommen? Er hat mit der Kettensäge die Pförtnerei freigeschnibbelt. Er war beim Streichen dabei. Er hat die Werkstatt in der Garage sofort als 'seine' bezeichnet. Und ...
"... das Mofa! Da hat er beim Putzen echt Ausdauer bewiesen. Und das, obwohl er selbst gar keinen Führerschein hat."
Yoongi sitzt inzwischen wieder still neben mir, aber ich kann spüren, dass er aufgewühlt ist. Bei meinen Worten weiten sich seine Augen kurz. Er reagiert aber nicht.
Mein Blick fällt auf das Laptop. Ich öffne nacheinander alle von Yoongi angesammelten Tabs. Und ganz als letztes ploppt sie auf - eine Zweiradwerkstatt. Ein Zweiradmechaniker-Meister und ein Sozialpädagoge haben diese Werkstatt gemeinsam aufgezogen. Sie reparieren und verkaufen Fahrräder, Motorräder und entsprechende Oldtimer. Und sie bilden aus.
Ich drehe mein Laptop wieder zu Yoongi.
"Klingt gut. Sind die von hier erreichbar? Und was ist mit der Minderjährigkeit und der Obdachlosigkeit?"
Yoongi ist angespannt, klickt sich durch die Homepage.
"... Liegt an unserer Buslinie. ... ... Alles was ich finde, ist:'Minderjährige, die aus irgendwelchen Gründen nicht zu den Eltern zurück wollen oder können, können direkt im Projekt unterkommen oder sich mit der Bürgschaft durch eine volljährige Vertrauensperson bewerben'. Jetzt fragt sich nur noch, ob ..."
... es nicht für dieses Jahr zu spät ist ...
"... die Sie als Vertrauensperson akzeptieren."
Ich drücke fest alle zehn Daumen, während Yoongi auf den Tab "Aktuelles" klickt.
"Na also, wer sagts denn. Stand 1.7. Zur Zeit ist noch eine Lehrstelle unbesetzt. Zur Überbrückung Einstellung jederzeit möglich, Bewerbung bitte an ..."
Yoongi sieht mich nicht an.
Ich überlege.
"Das heißt, da ist zwar noch eine Stelle, aber wir haben trotzdem nicht mehr viel Zeit, ihm das vorzuschlagen, seine Panik einzudämmen, sein Nein zu überwinden, die Werkstatt zu besuchen ..."
"Ganz genau. Und durch Namjoon ist grade so viel Unruhe, dass das nicht leicht wird."
"Dann schenke ich ihm mein Mofa, unter der Bedingung, dass er selbst es repariert."
"Das ist Erpressung!"
"Ist es nicht. Wann, wo und wie er das lernt, bleibt ihm überlassen."
"Okay. Dann werde ich das Wochenende nutzen, um ihm Zukunftsvorstellungen zu entlocken. Erstmal muss ihm nämlich klar werden, dass er nicht a la Peter Pan immer ein Kind bleiben und sich hier einkuscheln kann. Dann ist der nächste Schritt ein Berufswunsch. Und erst dann diese Werkstatt."
Das klingt nach einem Plan.
Wir schlendern zurück zum Pförtnerhaus. Ich will wenigstens allen Anwesenden 'Hallo' sagen. Die meisten sitzen vor dem Haus und vertilgen die Reste von So-Ra's Eis. Hobi sieht uns entgegen.
"Du siehst fertig aus, Nelli. Können wir dich irgendwie dazu überreden, am Wochenende eine richtige Pause zu machen?"
Ich habe wieder Hoffnung für Jeongguk und deshalb trotz meiner Müdigkeit gute Laune. Grinsend fange ich an zu trällern.
"Ein Samstag im Bett ist gemütlich und nett. ..."
Unser Küken protestiert sofort.
"Hei, und was ist mit unserem Frühstück?"
Jin dreht die Augen zum Himmel und wagt sich vor.
"Ja, was wohl. Das machst du dann für uns alle. Frau Cho ist nicht unsere Dienerin."
Und - oh Wunder! - Jeongguk geht ihm nicht an die Gurgel wie noch vor ein paar Monaten. Er grinst nur breit.
"Jaaaaaaaaa, Papa."
Ich sehe Yoongi noch mal an.
"Sie melden sich, wenn sich was tut?"
"Klar. Mach ich."
Wochenende! Wunderbar. Ich winke den Jungs zu, spaziere zu meinem Auto und fahre gemütlich nach Hause. Dort lasse ich alles fallen und geh erstmal lauwarm duschen.
Und jetzt? Es ist immer noch viel zu heiß. Ich glaube, dieser Sommer hört nie auf.
Ich überlege, ob ich schwimmen gehen soll. Aber wenn ich an die überlaufenden Becken voller kreischender Kinder, schnatternder Aqua-Aerobic-Tanten, widerlicher Spanner und träge schwappender Sonnencreme denke - nein danke. Sofa. Viel Wasser trinken. Abhängen.
Nach einer Weile reiße ich mich am Riemen und schreibe die Ereignisse dieser turbulenten Woche auf, sortiere meine Gedanken, überlege die nächsten Schritte. Und kann den Trubel in meinem Kopf nach und nach loslassen.
Am Samstag Morgen - NACH dem Wachwerden! - schlägt So-Ra mitsamt unverschämt viel Energie und guter Laune bei mir auf. Wir frühstücken drei Stunden lang, albern rum, genießen einen ganzen Tag ohne Uhr und Termin.
Sonntag Nachmittag ist es mit dem genussvollen Gammeln und der Ruhe allerdings wieder vorbei. Hoseok ruft an und klingt aufgeregt. Was aber vor allem aus dem Hörer dringt, sind mörderisches Protestgeschrei von Jeongguk und ein lautes, klägliches "Aua!" von Jin.
Scheiße. Yoongis erster Versuch ...
"Hoseok, kannst du kurz da rausgehen? Ich verstehe dich nicht. Und holt Guk von Jin weg!"
Als nächstes knallt eine Tür, und Jin weint.
"Nelli? Au Mann, was 'ne Scheiße. Yoongi hat versucht, mit Jeongguk über ... weiß ich gar nicht, was zu reden."
"Erste Frage: wie geht es Jin?"
"Taehyung kümmert sich. Namjoon ist ausnahmsweise tagsüber an der Tanke heute."
"Zweite Frage: was kann ich tun?"
"Es ist mir unglaublich peinlich, eigentlich will ich dich nicht mit sowas belatschern. Aber wir sind grade wie ein aufgescheuchter Hühnerstall. Hab nur keine Ahnung, wer der Fuchs ist. Und ich weiß NICHTS über Jeongguk. Du bist doch an Yoongi dran ..."
"Hm. Genau - wegen Jeongguk. Dass es schwierig werden würde, hatten wir erwartet. Aber so? Und Yoongi verhält sich zum Teil seltsam. ... Kündige mich bitte an. Ich brauch aber einen Moment zum Sortieren."
"Danke! Das beruhigt mich echt."
Soll ich mich jetzt freuen, dass Hoseok mir so sehr vertraut und auf mich baut? Soll ich nachforschen, was bei Yoongi noch dahintersteckt? Soll ich Jeongguk zum Reden zwingen? ... Ach, keine Ahnung! Ich freu mich einfach. Alle anderen Möglichkeiten sind doof.
Ich lasse mir bewusst Zeit, mich fertig zu machen, nehme wieder mein Laptop mit und fahre ganz in Ruhe zum Bukhansan. Hektik und Aktivismus bringen jetzt sowieso nichts.
Bis ich da bin, ist es fast Abend. Am Pförtnerhaus empfangen mich ein wütend Holz hackender Jeongguk mit sehr ernstem "Aufseher" Yoongi, drinnen dann ein weinender Jin, ein tröstender Taehyung und ein ziemlich angepisster Hoseok. Dass Namjoon noch nicht da ist, ist vielleicht ganz gut so.
Ich seufze.
Und wo fang ich jetzt an???
Fragend schaue ich zu Hobi, und der deutet ganz klar auf Jin. Der sitzt in der Küche auf dem Fußboden und starrt Löcher in die Kacheln wie zu seinen besten Zeiten. Taehyung hält ihn im Arm und weint mit. Ich setze mich einfach dazu und warte ab.
"Jin, ich würde Ihnen gerne helfen, Sie etwas ermutigen und beruhigen. Was immer Jeongguk in seinem Zorn gesagt hat, er ist dann nicht zur..."
"Er hat doch recht!"
"Hat er nicht!"
Tae und Hobi halten es kaum aus.
"Hat er. Ich bin ein Versager, ein Angsthase, ein Feigling, ein Schwächling, ein ... Nichts."
Was hat der Kindskopp ihm denn noch alles an den Kopf geworfen?!? Er scheint damit jedenfalls absolut den wunden Punkt getroffen zu haben.
"Nein, Jin. ... Keine Widerrede! Hören Sie mir bitte erst zu. Was Jeongguk auch immer gesagt hat, war im Zorn. Es hat absolut nichts mit Ihnen zu tun. Er richtet seine Ängste nach außen, damit sie nicht ihn selbst auffressen. Aber er meint damit nicht Sie."
Ich sollte mich dringend mit der Entstehung und den Erscheinungsformen von Traumata beschäftigen, damit ich nicht mehr so verzweifelt im Nebel stochere!
"Und sie müssen sich das auch nicht gefallen lassen. Was ich höre, wenn Sie in der Küche vergnügt vor sich hin singen, was ich fühle, wenn Sie unbeschwert mitlachen, was ich schmecke, wenn das Essen auf dem Tisch von Ihnen gekocht wurde - das ist NICHT nichts. Das ist TOLL."
Jin schüttelt den Kopf, aber wenigstens hört er auf zu weinen und nimmt ein Taschentuch von mir an.
"Was hat er Ihnen heute getan?"
"Ich ... stand grade zwischen ihm und der Tür, als er raus wollte. Also hat er mich mit Schwung gegen die Wand gedonnert."
"Sind Sie verletzt? Also ... durch den Stoß."
Jin schüttelt nur den Kopf.
"Gibt'n blauen Fleck, wie immer. Nicht weiter wild."
Ich ... nicht weiter wild! Wie willenlos und ohne Selbstachtung kann man eigentlich sein?!?
"Doch, es ist wild und gemein und unberechenbar. Kommen Sie erstmal aus der Ecke raus."
Wir helfen Jin hoch und setzen uns mit ihm an den großen Tisch nebenan.
"Wie kommt es, dass Jeongguk jetzt draußen Holz hackt? In so einer Stimmung würde ich ihm glaube ich keine Axt in die Hand geben."
Hoseok rauft sich frustriert die Haare.
"Yoongi hat mit ihm eine Vereinbarung. Wann immer er so die Nerven verliert, dass ihm keiner mehr nahe kommen kann, ohne sein Leben zu riskieren, dann muss er auf Yoongis verabredetes Zeichen hin den Streitort verlassen und eine Form von Abreagieren machen, die Yoogi ihm vorgibt."
"Und das klappt?!?"
"Hm. Inzwischen ja. Die beiden haben das eine Zeit lang trainiert, damit das Zeichen durch seinen Zornesnebel dringt und ihm helfen kann runterzukommen."
"Habt ihr mitgekriegt, was genau ihn heute so aufgebracht hat?"
"Nö. Da musst du Yoongi fragen."
"Legen Sie sich ein bisschen hin, Jin. Oder ihr drei redet noch ein bisschen über die ganze Situation, damit ihr euch nicht so hilflos fühlt. Jin?"
"Hm?"
"Heben Sie die Augen! Sehen Sie sich um. Sie sind ein Teil von diesem ... diesem ... Wunder hier! Finden Sie Ihren Wert und Ihre Gaben für diese Gemeinschaft. Und dann laufen Sie weiter in eine bessere Zukunft. Sie sind schon längst unterwegs."
Das Pförtnerhaus hat zwar Warmwasser, Strom und in der Küche einen E-Herd. Aber der Gemeinschaftsraum wird von einem Kamin beheizt. Also müssen die Jungs sowieso möglichst viel vom Totholz, das sich bei den Müllcontainern stapelt, zu Brennholz verarbeiten für den Winter. An der Rückseite des Hauses ist das Dach tiefgezogen, so dass dort unter Aussparung der Fenster das Holz trocken gelagert werden kann. Der Hackklotz steht neben der Garage.
Kaum bin ich auf die kleine Wiese getreten, mache ich auch schon einen Sprung rückwärts, denn der zornige Jugendliche drischt mit dermaßener Wucht auf die Äste ein, dass die Splitter im hohen Bogen in alle Richtungen davonfliegen. Yoongi sieht mich.
"Das reicht dann, Jeongguk."
"Das ... reicht ... noch lange ... nicht!"
Der nächste große Ast wird zu Kleinholz verarbeitet.
"Ich sagte: Es reicht."
Mit einem derben Fluch fliegt die Axt weg und gräbt sich ein paar Meter von uns entfernt in den trockenen Boden.
Eine Weile rühren wir uns nicht. Jeongguk steht schwer atmend da und lässt sich schließlich an Ort und Stelle auf den Boden plumpsen.
Yoongi beobachtet ihn aufmerksam und ich warte stumm ab.
"Jeongguk - ich weiß, dass du Angst hast, da raus zu gehen. Ich weiß auch, warum. Aber du weißt, dass du nicht bis zum Ende deiner Tage innerhalb dieses Zauns hocken und dich fürchten kannst. Wir haben da schon mehrfach drüber gesprochen. Du MUSST erwachsen werden, du MUSST einen Beruf lernen, der Dich ernähren kann, wir MÜSSEN das Problem angehen, damit du wieder frei atmen und leben kannst."
Der verzweifelte Junge springt wieder auf.
"Ich KANN da nicht raus! Die bringen meine Familie um! Und anschließend euch alle und ..."
"Wo du bist und wer hier ist, wissen die nicht. Und wenn sie deiner Familie was tun wollten, hätten sie das längst getan. Du bist jetzt über ein halbes Jahr hier. Du weißt - ich habe Quellen - deiner Familie geht es gut! SIE werden immer da draußen sein - egal, wie lange du wartest. Du bist nicht all..."
"Genau! Ich bin nicht alleine. Ich trage Verantwortung für alle anderen hier auch. Ich muss hier warten, bis ich volljährig bin. Dann kann ich das Land verlassen, und ihr seid alle in Sicherheit. Stell dir doch mal vor, die sehen mich auf dem Heimweg von der Arbeit und machen sich dann irgendwann an Frau Cho ran. DAS will ich ganz bestimmt nicht auf dem Gewissen haben."
Ich spreche leise, um den Jungen nicht zu erschrecken, denn offenbar hat er mich noch gar nicht bemerkt.
"Das ist dann aber mein Problem, nicht deines. Und mich wird niemand daran hindern, zur Polizei zu gehen, Anzeige zu erstatten, dem Spuk ein Ende zu bereiten."
Jeongguk fährt herum und starrt mich an.
"Seit wann ist DIE denn hier? Und was hat die alles gehört?"
"Nichts, das mir irgendwie verrät, was Sie eigentlich beim Gedanken an 'da draußen' so in helle Panik versetzt. Ich weiß jetzt nur, dass es 'DIE da draußen' gibt. Und dass Sie ein viel zu großes Paket Verantwortung auf der Seele tragen. Bitte, Jeongguk. Lassen Sie uns das 'da draußen' wieder zu einem schönen Ort machen, an dem Sie ohne Angst leben können. Wenn Sie immer weiter weglaufen, wird sich die Angst an Ihre Fersen heften, und Sie werden sich nicht mal am Südpol sicher fühlen."
"Aber WIE DENN?!?"
"Indem Sie überhaupt für möglich halten, dass wir gemeinsam etwas tun KÖNNEN."
Völlig unerwartet bricht Jeongguk vor unseren Augen zusammen. Ein kurzer Blick zu Yoongi. Der nickt. Wir gehen gemeinsam zu dem verzweifelten Bündel Mensch hin, richten ihn auf, nehmen ihn fest in die Arme und lassen ihn sich ausheulen.
Ein erschütternder Schrei bricht aus ihm heraus.
"Ich will ja! Aber ich KANN nicht! Ich kann das nicht erzählen. Die bringen uns alle um! Ich KANN das nicht erzählen, weil euch das gefährdet."
Seine Verzweiflung ist so groß, dass er sich in unseren Armen windet.
Wer immer DIE sind - sie müssen ihn furchtbar gequält haben, sonst wäre er nicht so traumatisiert, dass allein der Gedanke an 'da draußen' sein Gehirn so gründlich aussetzen lässt.
In mir kommt die kalte Wut hoch.
Und welche Rolle seine Eltern bei dem ganzen spielen, wüsste ich auch langsam gerne. Er darf sich jetzt nicht in seiner Panik verrennen!
Ich starte einen neuen Versuch, ein Gespräch aufzubauen.
"Hab keine Angst, Guk. Wir fragen nicht mehr danach. Wir wollen doch nur, dass es dir gut geht. ... Du hast eben gesagt:'ich will ja'. Was ist es, dass du willst? Wovon träumst du? Wonach sehnst du dich? Kannst du uns das erzählen, ohne jemand zu gefährden?"
Stille.
Schniefen.
"Hm."
Stille.
"Vielleicht. Vielleicht hilfts ja."
Stille.
Jeongguk schließt seine Augen, entspannt sich ein bisschen und lässt sich so runterrutschen, dass er praktisch wie ein eingekugeltes Baby quer auf unseren Beinen liegt. Wir warten einfach ab.
"Ich ... hab das genau so gemeint. Nach dem Gespräch mit dem Aufpasser. Ich fühle mich wirklich wie ein Zombie. Unberechenbar, eine ständig tickende Zeitbombe, lebendig begraben innerhalb dieses Zauns. Nicht mehr Herr meiner Sinne, wenn die Angst mal wieder gewinnt.
Es ist ... so schön! Zu sehen, wie gut es Tae und Hobi damit geht, dass sie ihre Last nicht mehr alleine tragen. Wie glücklich Tae mit seiner Familie ist. Jin ist so lebendig. Und hat endlich keine Angst mehr vor mir. Ich will das ja gar nicht, ihm weh zu tun. Wenn die anderen mir hinterher den Kopf waschen, schäme ich mich immer so. Aber ich erinnere mich nicht daran. Es ist, als ob ich nicht dabei gewesen wäre.
Ich hab so einen Spaß dran, mitzuhelfen. Was Sinnvolles zu tun. Ein bisschen was von eurer Zuwendung zurückzugeben, indem ich die Kettensäge schwinge."
Ein erstes zaghaftes Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht.
"Oder Rapunzel zu spielen. Ihr alle tut mir so gut. Seit du da b... Oh! Tschuldigung, Frau Cho. Das ..."
"... ist vollkommen in Ordnung so. Ich habe am Anfang ganz bewusst alle gesiezt, um euch meinen Respekt zu zeigen. Aber ich bin nicht eure Lehrerin oder eure Aufpasserin. Je mehr ich euch alle häppchenweise kennen lerne, desto mehr freue ich mich, wenn einer von euch zum Du schwenken mag. Ich bin Nelli. Und das gilt auch für Sie, Yoongi."
Yoongi konzentriert sich weiter auf Guk und schweigt.
Jeongguk schließt wieder die Augen und entspannt sich noch ein bisschen mehr. Intuitiv zuppelt seine Hand am Pullover, der ihm beim Hinlegen hochgerutscht ist. Meine Augen folgen seiner Hand, und mein Herz möchte stehen bleiben. Mit Mühe kann ich einen Schrei des Entsetzens unterdrücken. Ich verlagere mein Gewicht, damit Guk nicht merkt, wie angespannt ich auf einmal bin. Nun sieht auch Yoongi genauer hin, wird weiß wie eine Wand und schnappt nach Luft. Jeongguks Oberkörper ist vorne und hinten übersäht von Narben. Brandnarben. Schnittwunden. Verätzungen. Ich bin keine Medizinerin. Aber DAS hier hat definitiv KEINEN Spaß gemacht und reicht vollkommen aus, um so oder noch mehr traumatisiert zu sein.
Was muss der arme Junge gelitten haben!
Fragt sich nur, wie wir damit jetzt umgehen. Ich sehe zu Yoongi rüber. Der schüttelt den Kopf und hält sich einen Finger vor den Mund.
Also schweigen. Vorerst!
"Jeongguk? Wollen wir reingehen zu den anderen?"
"Hm."
Er steht auf, zieht das langärmelige Shirt wieder runter und stopft es sich hinter den Hosenbund.
Langärmeliges Shirt - bei dem Wetter! Warum ist mir das eigentlich nicht schon früher aufgefallen?!?
Mir zittern die Knie bei den wenigen Schritten nach drinnen, und ich bin froh, als ich mich hinsetzen kann.
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23.1.2023 - 22.3.2024
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