11 - Feuerteufel
Mit meinen drei kostbaren Schätzen in der Tasche und einem wehmütigen Herzen verabschiede ich mich schließlich und trete den Heimweg an. Zu meinem Erstaunen sitzt Taehyung auf einem großen Stein neben meinem Auto und schaut mir unsicher entgegen. Er wirkt nervös und ein bisschen auch ängstlich.
"Kann ich Ihnen noch etwas Gutes tun, Taehyung?"
"Sie tun schon so viel für uns. Ich hab sowas noch nie erlebt. Warum tun Sie das alles?!?"
Tja - gute Frage. Wegen des Testaments? Wegen des schlechten Gewissens? Wegen eines Helfersyndroms? Weil ich selbst in meinem Leben schon so viel Gutes und Rückenwind bekommen habe?
"Wenn ich ehrlich bin ... Wir haben in dieser einen Woche schon sehr viel miteinander erlebt und sind erstaunlich weit gekommen. Ich könnte mich jetzt auf die Bestimmung im Testament berufen, aber das wäre wohl zu billig als Antwort. Ich glaube, dass mein Onkel diese Bestimmung da rein geschrieben hat, weil er wusste, dass es mir etwas bedeuten würde, das umzusetzen."
So-Ra hat mich das ja auch gefragt. Mich für verrückt erklärt. Warum tue ich das und habe sogar Freude daran? Warum mache ich mir solche Gedanken um Jin und Jeongguk, schmeiße Yoongi trotz seiner Antihaltung nicht raus, schenke Taehyung mein uneingeschränktes Vertrauen, obwohl ich einen Verdacht habe, was ihn aus der Bahn geworfen hat? Ich habe einfach nicht das Bedürfnis, das herauszufinden. Es fühlt sich richtig an, so respektvoll und auf Augenhöhe mit diesen jungen Männern umzugehen.
Plötzlich liegt nun doch die Antwort auf der Hand. Diese fünf Männer ringen um Würde, um eine Zukunft, um einen Platz in dieser Welt. Mir ist diese Würde immer selbstverständlich zugestanden worden. Mein Weg ins Leben war immer fest und sicher. Diese Jungs hier balancieren täglich auf einem wackeligen Drahtseil, um ihre Träume wahr werden zu lassen. Ohne Netz und doppelten Boden. Bis auf Jin - der hat aufgegeben. Dabei zuzusehen, ist richtig schmerzhaft.
"Weil ich nicht wissen muss, was Sie hier hergetrieben hat. Niemand wird freiwillig obdachlos. Mich interessiert viel mehr, wer Sie sind und wovon Sie träumen. Das hat etwas mit Würde und mit Selbstachtung zu tun. Ich habe mein Leben lang eine würdevolle Behandlung erfahren. Meine Persönlichkeit durfte wachsen und reifen und Selbstbewusstsein entwickeln.
Es fällt mir immer schwer, es auszuhalten, wenn ich Menschen sehe, denen das alles vorenthalten wird. Jeder Mensch hat Gaben, Grenzen und Möglichkeiten, jeder hat Rechte und eine Würde in sich. Ich möchte Ihnen diese würdevolle Behandlung entgegenbringen und Ihnen Türen öffnen. Klingt das so seltsam?"
"Wenn Sie wüssten, warum ich hier bin, würden Sie nicht mehr von Würde reden. Ich ... ich ..."
Der junge Mann zittert vor Angst. Er starrt auf den Boden, seine Stimme ist leise und brüchig.
"Ich würde Ihnen für das alles gerne danken mit Ehrlichkeit. Ich wäre so gerne ganz normal und geachtet. Aber ich ... Alle hassen mich und schicken mich weg, wenn sie die Wahrheit erfahren. Ich habe Angst vor Ihren Blicken, vor Ihrer Reaktion, wenn ich Ihnen alles erzähle."
Taehyung ist den Tränen nahe. Vermutlich ist ihm noch selten etwas so schwer gefallen wie dieses Gespräch. Mein Problem ist nur: so lange er mir nicht die Wahrheit gesagt hat, werden wir beide meine Reaktion nicht kennen. Er muss zuerst über seinen Schatten springen.
"Ich weiß nicht, wie ich auf Ihre 'Tat' reagieren werde. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass ich gut in der Lage bin, zwischen der Person und der Tat zu unterscheiden. Jeder Mensch, egal, ob Opfer oder Täter, hat eine zweite Chance verdient. Nur Mut!"
Noch eine ganze Weile ringt in ihm die Angst mit dem Bedürfnis danach, seine furchtbare Last ablegen zu dürfen. Dann tastet er sich langsam rückwärts, Schritt für Schritt in seine eigene Vergangenheit. Immer wieder sucht sein scheuer Blick nach Anzeichen in meinem Gesicht, dass ich ihn nun auch verurteilen, mich von ihm abwenden könnte. Aber ich fühle eigentlich nur Wärme und Mitgefühl, weil seine innere Qual mir so nahe geht.
Längst habe ich mich neben ihn gesetzt auf den Findling, damit ich in Ruhe zuhören kann.
"Ich ... bin obdachlos, weil ..."
Hilflos schüttelt er den Kopf. Atmet tief durch. Setzt neu an.
"Ich bin nicht mehr nach Hause gegangen, weil ich meiner Familie die Schande ersparen wollte. Meine Eltern sind von den Nachbarn geschnitten worden und darum umgezogen. Meine Schwester hat in der Schule viel aushalten müssen, hat sogar die Schule gewechselt. Sie hassen mich deswegen nicht. Aber ich musste ihnen das einfach ersparen. Also habe ich angefangen zu arbeiten. Aber bei einem Ungelernten reicht der Verdienst in Seoul nicht für Miete und Co. Eine Zeit lang habe ich meinen wenigen Besitz von Garage zu Garage geschleppt. Ich bin so froh, dass ich Hobi begegnet bin."
"Ich auch. Schluss mit dem Garagenleben. Das kriegen wir besser hin."
"Aber ..."
"Taehyung? Darf ich Ihnen weiterhelfen, indem ich Fragen stelle?"
Kim Taehyung nickt, wirkt erleichtert.
"Sie haben eine Straftat begangen?"
"Ja."
"Mit dem Ziel?"
"M... Mutprobe. Ich wollte in die Clique."
"War Alkohol im Spiel?"
"Ich wollte immer nicht. Es schmeckt mir einfach nicht. Aber dafür musste ich halt ..."
Taehyung springt auf und kickt frustriert einen Kieselstein weg.
"Ganz ruhig. Ist irgendjemand bei dieser Mutprobe verletzt worden? Oder gestorben?"
"Nein! Das hätte ich nicht ertragen. Das bin ich einfach nicht. Wenn sie das von mir verlangt hätten, wär ich raus gewesen. ... Wär' vielleicht besser gewesen für mich."
"Aber es ist Sachschaden entstanden."
Taehyung rauft sich die Haare und sackt wieder auf dem Stein in sich zusammen.
"Oh jaaa. Sehr. Ich ..."
Wieder verstummt er, hält die Luft an, schüttelt den Kopf, als wollte er lästige Fliegen vertreiben. Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und versuche ganz leise, ihn aus seinem persönlichen Alptraum zu befreien. Ich bin mir inzwischen sicher, was ihn so aus der Bahn geworfen hat. Aber er muss es wenigstens einmal selbst aussprechen.
"Taehyung? Bitte, quäl dich nicht länger. Sprich es aus. Sag es mir, und dann vertraue mir."
Sein ganzer Körper ist zum Zerreißen angespannt, so sehr kämpft er mit seinen Dämonen. Ich halte das vom Zusehen kaum aus.
"Ich hasse mich! Ich bin so schwach. Das werde ich mir nie verzeihen."
Ich nehme den zitternden Jungen fest in die Arme.
"Nein, du bist nicht schwach. Du bist stärker als die anderen, denn du hast dich innerlich deiner Schuld gestellt. Das ist furchtbar schwer auszuhalten, aber es ist richtig so. Das schaffen die wenigsten."
"Das stimmt nicht! Ich bin ein Verbrecher. Ich verdiene keine Gnade."
"JEDER Mensch verdient Gnade und eine zweite Chance. Bitte, sprich es aus."
Intuitiv bin ich zum "du" übergangen, um ihn besser erreichen zu können.
Seine Stimme überschlägt sich fast. Scham, Angst, Wut, tiefes Verletztsein zeichnen sein Gesicht, seine Hände sind in den Stoff seiner Hose gekrallt.
"Ich habe ein Gartenhaus angezündet, okay? Es brannte lichterloh. Das Feuer hätte sogar fast aufs Wohnhaus übergegriffen."
Taehyung zieht den Kopf ein, als rechne er mit einem Schlag von mir. Er hält den Atem an und rührt sich nicht mehr. Ich sehe meinen Verdacht bestätigt und bleibe äußerlich ganz ruhig, auch wenn es in mir kocht und brodelt.
"Ja. Aber es wurde niemand verletzt, und das Wohnhaus blieb verschont. Wann hast du begriffen, dass du einen Fehler gemacht hast?"
Erstaunt hebt er den Kopf und sieht mir in die Augen.
"Sie ... sie müssen sich doch vor mir ekeln! Was ist, wenn ich die frisch renovierte Villa anzünde?"
"Warum sollte ich? Und warum solltest du? Taehyung, du hast deine Familie verloren, du hast deine Selbstachtung verloren, du bist jetzt wahrscheinlich vorbestraft, du hast das Vertrauen all der Menschen verloren, die dir jemals wichtig waren. Ist das nicht Strafe genug? Ich bin nicht deine Richterin oder deine Bewährungshelferin, keine Nachbarin, kein Fiesling auf dem Schulweg. Von mir wirst du kein Urteil über deine Tat oder gar über deine Person hören.
Ich applaudiere nicht für das, was du getan hast. Aber ich verurteile dich nicht. Und ich habe jetzt auch nicht plötzlich Angst vor dir. Du bist kein Monster!
...
Wann hast du verstanden?"
"In dem Moment, wo die Flammen durchs Dach schlugen und in den Nachthimmel aufstiegen. Die anderen waren so schnell verschwunden ... Ich habe in die Flammen gestarrt und mich augenblicklich vor mir selbst geekelt. Ich konnte mich gar nicht rühren vor Entsetzen, dabei hätte ich am liebsten aus Scham gekotzt. ... die Feuerwehr kam ziemlich schnell und hatte die Situation bald unter Kontrolle. Und mich halt auch."
Für einen Augenblick wirkt er so verwirrt und überfordert und allein gelassen, wie sich vor ein paar Jahren der Jugendliche gefühlt haben muss, als sein Leben in Scherben da lag. Ich könnte platzen vor Wut, halte mich aber weiter zurück.
Und endlich fängt er an zu weinen. Ich halte ihn einfach fest, gebe ihm alle Zeit der Welt, bis er sich ein bisschen beruhigt hat.
Gaaaaanz ruhig, Nelli. Du musst jetzt Ruhe, Vertrauen und Sicherheit ausstrahlen - wie auch immer das gehen soll ...
Ich kontrolliere meine eigene Atmung und halte ihn fest im Arm, bis er sich von allein wieder gefasst hat.
"Was ist nach der Verhaftung passiert? Und was für eine Strafe hast du bekommen?"
"Ich habe bereitwillig und sofort über mich und die anderen ausgepackt. Das war keine Rache ... Ich ... ich wollte verhindern, dass die einfach immer so weiter machen. Wir ... da war ein ganz junges Mädel dabei, die ihre Mutprobe noch vor sich hatte. Ich wollte, dass sie kapiert, dass das nicht der richtige Weg ist. Bevor sie auch Scheiße baut. Das Ergebnis war leider, dass die alle ermahnt wurden - aber keine Konsequenzen folgten. Frühere Straftaten waren nicht zu beweisen, weil sie absolut dicht gehalten haben. Also war ich auch noch der Verräter - und bin seitdem der Gejagte."
Taehyung richtet sich auf, nimmt von mir ein Taschentuch an und versucht, zurück auf normal zu schalten.
Ich bleibe bei ihm sitzen und warte ab. Ich glaube, da kommt noch mehr.
"Ich war sechzehn, also noch minderjährig. Darum bekam ich einen Pflichtverteidiger, einen Bewährungshelfer, eine Jugendstrafe von zwei Jahren Sozialstunden und einen Platz in einem betreuten Wohnprojekt für straffällige Jugendliche. Ich hatte darum gebeten, weil ich mich vor meiner Familie so geschämt habe und ihnen nicht noch mehr Probleme bereiten wollte. Aber es war die Hölle. Ich war unbeschreiblich dumm und naiv und sehr ernüchtert nach all dem. Für die anderen dort war es ein Trainingslager für ihre Karrieren als Kriminelle."
"Ach, du Sch... Das war ja das reinste Spießrutenlaufen für dich."
Gartenlauben anzuzünden, ist niemals der richtige Weg zu Anerkennung und Gemeinschaftsgefühl. Aber ihn so brutal zu isolieren, wenn er am dringendsten Halt gebraucht hätte, ist nicht nur menschlich grausam sondern auch pädagogisch genau das falsche Signal.
"Wie lange warst du dort? Hat das denn keiner mitgekriegt?"
"Sie haben mich alle verachtet und mir das sehr deutlich gezeigt. Von den Polizisten und dem Pflichtverteidiger über die Richterin und den Bewährungshelfer bis hin zu den Betreuern im Heim und den Chefs bei meinen Sozialstunden. Ich war Abschaum, das wurde zur Normalität für mich und passte ja auch gut zu meinem Ekel vor mir selbst. Zeitweilig habe ich mich so wertlos gefühlt, dass ich nicht mal Essen bei mir behalten konnte."
Mir läuft eine Gänsehaut den Rücken runter. Mein Mitgefühl nimmt die Ausmaße eines Mount Everest an.
Was hat der Junge alles mitgemacht!
Dabei sind seine Reue und sein Wille zur Besserung so offensichtlich und echt. Aber wenigstens redet er nun - wie ein Wasserfall sprudelt alles aus ihm heraus, immer wieder unterbrochen von Tränen.
"Kurz nach dem Ende meiner Strafzeit bin ich volljährig geworden und noch am selben Tag ausgezogen. Zum Abschied haben mir alle gesagt, dass sie mich nicht so schnell wiedersehen wollen, haha. Ich fand das nicht witzig, denn damit haben sie mir praktisch gesagt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ich das nächste Haus anzünde."
Wieder geht der Zorn mit mir durch.
"Wie grausam. Wie verachtend und erniedrigend. Als ob so eine Vorverurteilung irgendwas besser machen würde! So viel Gemeinheit macht mich richtig wütend. Du hast besseres verdient."
Mit großen Augen starrt Taehyung mich an.
"Das ... hä? Kapier ich nicht. Ich mein' ... Sie sind wütend FÜR mich? Wieso das denn? Ich hab nichts besseres verdient."
"Doch - hast du! Sie haben dich nicht nur verhaftet, verhört und verurteilt. Was diese Menschen mit dir gemacht haben, war entwürdigend. Sie haben deine Reue und deine Verzweiflung ignoriert und stattdessen deine Persönlichkeit gebrochen. Als ob dich das zu einem braveren Bürger machen würde. Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit."
Der junge Mann schüttelt den Kopf.
"Heißt das, dass Sie mich nicht rauswerfen wollen? Dass Sie mir glauben und trotzdem vertrauen?"
"Genau das heißt es. Ich spüre, wie sehr es dich belastet. Wie sehr du dich nach einem normalen Leben sehnst. Wie sehr du deine Familie vermisst. Und das muss alles nicht sein! Ich lade dich ganz ausdrücklich noch einmal ein, Teil unserer Gemeinschaft zu sein, dich hier in der Villa wohl, sicher und zu Hause zu fühlen. Ich möchte, dass für dich nicht noch mehr Türen zufallen, sondern dass wir es schaffen, dir ein paar Türen zu öffnen."
"Das fühlt sich so seltsam an. Ich bin verwirrt. Irgendwo tief drinnen ahne ich, dass ich das Angebot annehmen, dass ich wieder freier atmen kann. Dass ich ein Leben haben darf. Aber verstehen kann ich Sie nicht.
Ja, ich sehne mich nach meiner Familie. Sehr. Wir haben seit Jahren nichts voneinander gehört. Meine Schwester müsste bald mit der Schule fertig sein. Ich möchte stolz auf sie sein, mit ihr feiern können. Stattdessen habe ich ihre Jugendjahre belastet. ... Ich ... Ich weiß, wo sie wohnen, war ein paarmal nachts dort. Aber ich habe mich nie reingetraut. Und wollte auch nicht die neuen Nachbarn aufscheuchen. Also bin ich immer wieder gegangen. ... Und das hat ... ganz schön weh getan."
Die letzten Worte flüstert Taehyung nur noch. So viel Sehnsucht liegt in seiner Stimme, dass ich gar nicht anders kann, als helfen zu wollen.
"Taehyung, ich habe jetzt die ganze Zeit einfach 'du' gesagt, ohne zu fragen, ob das in Ordnung ist. Wenn ich dir deine Würde zurückgeben will, muss ich aber fragen, ob dir das überhaupt recht ist. Entweder sagen wir beide 'du' oder beide 'Sie'. Du entscheidest. Und du kannst dich auch jederzeit umentscheiden."
Ungläubige Stille. Sprachlosigkeit. Verblüffung. Hoffnung. Ich kann kaum sagen, WAS ich alles an Gefühlen in seinem Gesicht sehe. Er ist schlicht völlig überfordert von dieser unerwarteten Wendung in seinem Leben.
"Das meinen Sie nicht ernst, oder? Ich kann doch nicht einfach ... Also ... ich fühle mich geehrt, aber ich weiß nicht, ob ich das über die Lippen bringe. Das ... das ist so ... ungewohnt. So viel Freundlichkeit. Geben Sie mir etwas Zeit?"
"Aber natürlich."
Still sitzen wir nebeneinander in der Sonne. Endlich kann er mich ansehen, sich entspannen. In ihm löst sich etwas, seine ganze Haltung verändert sich.
"Eine Frage habe ich noch."
"Ja?"
"Erlauben Sie mir, Kontakt zu Ihrer Familie aufzunehmen?"
Mit einem Ruck fährt Taehyung von dem Findling hoch und starrt mich an.
"Das würden Sie tun? ... Aber ... wenn die mich nicht mehr sehen wollen? Das würde ich nicht aushalten."
"Wenn sie DAS nicht wollen, dann stoßen sie einen wunderbaren Sohn und Bruder von sich."
Unruhig läuft der junge Mann auf und ab. Seine Mimik wechselt schnell zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin und her. Es arbeitet offensichtlich in ihm. Ich lasse ihm Zeit. Ich sitze mitten in einer Baustelle zwischen Baracken und Containern neben meinem Auto, die Sonne scheint, die Luft ist mild, ein paar Vögel zwitschern in meinem privaten Dschungel. Kurz schließe ich die Augen, um alles noch deutlicher wahrzunehmen. Ich warte entspannt ab.
Nach einer Weile scheint er zu einem Schluss gekommen zu sein. Er bleibt vor mir stehen, schaut mich an.
"Ich kann doch da nicht einfach vor der Tür stehen. Ich sollte die irgendwie vorbereiten. Sie müssen die Möglichkeit haben, nein zu sagen. Aber wie soll das gehen?"
Weiter als bis hier hatte ich auch noch nicht gedacht. Aber es MUSS einfach einen Weg geben, der allen gerecht wird.
"Wie wärs, wenn Sie einen Brief schreiben? Ich würde den persönlich hinbringen, dann könnte ich gleich Fragen beantworten und einen Termin zur Begegnung vereinbaren."
"DAS würden Sie für mich tun? Dann ... dann möchte ich gerne zwei Briefe schreiben. An meine Eltern zusammen, und an meine Schwester."
"Gut. Dann bringe ich ordentliches Briefpapier vorbei. Sie lassen sich Zeit beim Schreiben, damit Sie sich sicher fühlen. Und wenn Sie mir die Adresse verraten, will ich bald einen ersten Besuch machen."
"Ich würde am liebsten sofort losschreiben. Einfach drauflos. Mein Kopf schwirrt mir vor lauter Gedanken. Ich ... habe Angst, dass sie mich nicht sehen wollen. Aber ich muss es einfach versuchen."
"Dann suchen Sie sich schon mal ein ungestörtes Plätzchen zum Schreiben - ich bin gleich wieder da."
Sein verblüfftes Gesicht ist zum Piepen, als ich aufstehe und um mein Auto drumrum zur Fahrertür laufe. Den einen Weg kann ich jetzt auch gleich erledigen. Sein Herz und seine Sinne sind im Moment so offen für diese Chance. Das sollte er ausnutzen.
Unglaublich froh und erleichtert, dass er sich mir anvertraut hat, fahre ich los und kaufe schlichtes weißes Briefpapier mit Umschlägen, dazu einen gut schreibenden Stift und bringe das alles zur Villa. Der Anblick, der sich mir bietet, lässt mich laut auflachen. Taehyung steht tatsächlich noch immer in der Einfahrt, hat sich offensichtlich keinen Millimeter von der Stelle bewegt und macht ein Gesicht wie Ostern und Weihnachten an einem Tag.
Ich gönne es ihm so sehr! Er wirkt so anders, so viel freier als vor zwei Stunden. Sein Strahlen lässt sein Gesicht ganz lebendig aussehen. Und glücklich.
Ich reiche ihm meinen Blitzeinkauf durchs offene Fenster zu. Sofort kommt Leben in ihn.
"Bitteschön, junger Mann. Dann schreiben Sie mal los! Ich wünsche Ihnen viele gute, von Herzen kommende Gedanken und Worte."
Mit einem Strahlen und einem "Dankeschön!" flitzt er davon, die Tüte wie einen Schatz an sich gepresst.
Ich dagegen bin jetzt ziemlich leer gefühlt. Ich fahre endlich nach Hause. Stelle mein Auto in die Tiefgarage. Fahre mit dem Fahrstuhl in den fünften Stock. Lasse gleich an der Wohnungstür einfach alles fallen. Kippe erschöpft aufs Sofa - und heule mir die Seele aus dem Leib. Erst jetzt wird mir vollends bewusst, wie sehr mich Taehyungs Angst, seine Ehrlichkeit und sein Ringen um Würde mitgenommen haben. Ich war vorhin die ganze Zeit so auf ihn fixiert, dass ich kaum mitbekommen habe, wie es mir damit erging. Jetzt auf einmal überfluten mich seine Qual und mein Mitgefühl wie das Wasser aus einem geborstenen Staudamm.
Und gleichzeitig weiß ich: ich bin doch auf dem richtigen Weg. All die Zweifel der ersten Zeit sind verflogen. Es war gut, die Jungs nicht rauszuwerfen.
Es ist nicht leicht, aber mit Geduld machbar, dass sie sich öffnen, dass ich helfen kann und darf.
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2.1.2023 - 18.3.2024
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