03 - Berlin

Die folgenden Tage sind ein Wirbel aus Aktivitäten, die wie ein Film an mir vorbeirauschen. Die Kanzlei in Seoul. Die Filiale in Berlin. Die durch die Zeitverschiebung mühsame Kommunikation mit dem Bestattungsunternehmen. Eine nicht enden wollende Flut von schnell zu fällenden Entscheidungen überfordern mich völlig und rauben mir den Schlaf. Bald wird deutlich, dass ich zügig nach Berlin fliegen sollte, damit die ganze Angelegenheit nicht zu einer endlosen Qual wird. Also reiche ich Urlaub ein, buche einen Flug, reaktivieree meine länger nicht mehr genutzten Deutschkenntnisse und lasse mich von So-Ra zum Flughafen bringen.

Einchecken. Warten. Einsteigen. Warten. Eine unruhige Nacht voller Luftlöcher und Traurigkeit. Auschecken. Warten am Gepäckband. Zoll. Nach neunzehn Stunden treffe ich schließlich am Terminal auf den Mitarbeiter der deutschen Kanzlei, der mich zur Wohnung von Onkel Harry fährt. Ich zweifele wieder daran, ob es richtig war, nicht in ein Hotel sondern in seine Wohnung zu gehen. Ich bin so gerädert und überfordert von den letzten Tagen - aber nun ist es zu spät. Wenn es gar nicht geht, kann ich morgen immer noch in ein Hotel umziehen.
Ich stelle erleichtert fest, dass mein Deutsch doch noch ganz gut funktioniert. Der Angestellte bringt mich zur Wohnungstür, schließt mir auf, gibt mir noch eine Liste mit Terminen für den nächsten Tag und den Schlüssel zu dieser Wohnung und verabschiedet sich.

Ich bin allein. Unschlüssig stehe ich vor der wunderschönen, mit Jugendstilmotiven verglasten Eingangstür und kann mich nicht rühren. Einmal war ich ja hier. Da war Onkel Harry vorher krank gewesen und konnte nicht zu meiner Bachelor-Feier fliegen. Aber er war noch ganz rüstig und guter Dinge. Jetzt ist er fort, und ich fühle mich auf einmal wie eine Einbrecherin. Damit ich nicht im Treppenhaus übernachten muss, gebe ich mir schließlich einen Ruck, trete ein und finde mich in einem breiten und sehr hohen Flur wieder. Sofort überfällt mich der vertraute Geruch, den ich noch von der Villa kenne. Ich komme grade mal so weit, dass ich die Wohnungstür hinter mir schließen kann. Dann verlässt mich schon wieder der Mut. Fast kann ich hören, wie Onkel Harry aus seiner Bibliothek ruft - wie damals.
"Willkommen zu Hause, Liebes. Kann ich dir etwas Gutes tun? Oder wollen wir gleich zusammen zu Abend essen?"

Aber die Stimme erklingt nicht. Sie ist für immer verstummt. Mir bleibt nur die Erinnerung an all diese aufmerksamen, fürsorglichen Momente. Am liebsten möchte ich sofort wieder rausrennen. Aber gleichzeitig weiß ich auf einmal ganz sicher, dass es richtig ist, hier zu sein und mich noch einmal wenigstens ein paar Tage lang dem Geist dieses wunderbaren Mannes auszusetzen. Also hänge ich meinen Mantel an die Garderobe, schlüpfe aus meinen Schuhen und beginne, die Wohnung zu erkunden.
In der Küche koche ich mir einen Kaffee und stelle fest, dass mir jemand den Kühlschrank gefüllt hat. In der Bibliothek empfängt mich ein vertrauter Anblick. Da liegt ein aufgeschlagenes Buch neben dem alten Ohrensessel. Ich trete näher und lese den deutschen Titel. Es ist ein Märchenbuch.
Vielleicht ist es ihm mit fortschreitender Demenz nicht mehr möglich gewesen, anspruchsvolle Literatur zu lesen, und die Märchen hat er noch aus seiner Kindheit erinnert. Oder meiner ...

Gedankenverloren streifen meine Finger über die alten ledernen Buchrücken in den Regalen, während ich mich dem Wohnzimmer zuwende. Mein Blick wandert nach oben. Diese Zimmerdecken sind bestimmt drei bis vier Meter hoch. Während die Villa in Seoul im Wesentlichen barock eingerichtet war, sind hier die Möbel, Stoffe, Vasen, die Verzierungen an den Stuckdecken fast durchgängig im Jugendstil gehalten.
Ich halte den Atem an, als mein Blick auf den Kaminsims fällt. Neben einem älteren Bild meiner Eltern und ein paar Aufnahmen von mir und Onkel Harry zusammen, die in Korea entstanden sind, stehen mehrere zierliche silberne Bilderrahmen, die mich selbst in allen Stadien meines Lebens zeigen. Als Krabbelkind, bei der Einschulung mit einer großen Schultüte, die von allen Koreanern ungläubig bestaunt wurde, als Indianerin verkleidet zu Fasching. Da muss ich ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein. Als nächstes folgt ein Bild von mir und Onkel Harry bei der Schulabschlussfeier, in dem tollen blauen Kleid mit Mamas Schmuck. Ich erinnere mich. So-Ra hat das Bild damals aufgenommen.

Im letzten Rahmen steckt ein Bild von mir bei meiner Examensfeier am Ende des Bachelors. Onkel Harry hatte es unendlich bedauert, dass er nicht dabei sein konnte.
Spätestens da hätte ich doch kapieren müssen, dass ich mich kümmern muss!
Zum Masterexamen war er ja noch mal da und wirkte völlig gesund.
Aber vielleicht hat er da schon von seiner Krankheit gewusst und das nur geschickt vor mir verborgen?
Als hätte ich mir die Finger verbrannt, stelle ich das Foto zurück auf den Kaminsims und drehe mich weg.

Auch die anderen Räume der Wohnung sind geschmackvoll und stilsicher eingerichtet. Das Schlafzimmer kann ich noch nicht betreten, alles in mir sträubt sich dagegen. Aber das Gästezimmer ist noch wie damals eingerichtet und erwartet mich. Ich bringe mein Gepäck dort hin und packe alles in den Schrank.
Ich mache mich ein wenig frisch, frühstücke noch einmal, um den faden Geschmack des Flugzeugessens zu vertreiben, und überlege, was ich heute schon tun kann oder muss. Die Frage wird mir schnell abgenommen. Intuitiv wende ich mich dem Arbeitszimmer zu, setzt mich in den schweren "Chefsessel" hinter dem dunklen, wuchtigen Mahagoni-Schreibtisch und ziehe wahllos ein paar Schubladen auf. Sofort bin ich mittendrin.

Gleich in der zweiten Lade von oben befindet sich ein abgegriffenes, dickes Notizbuch, auf dem in Onkel Harrys markanter Schrift draufsteht "für meine liebe 사랑 남자". Gleich darunter liegt ein großes Fotoalbum mit derselben Aufschrift. Ich zucke erst zurück, aber dann begreife ich, dass diese zwei Bücher wahrscheinlich die direkteste Verbindung zu meinem Onkel sind, die ich jetzt noch haben kann. Also kratze ich meinen Mut zusammen und hole diese wertvollen Erbstücke aus der Schublade, mache es mir im Wohnzimmer mit einer Packung Taschentücher auf dem Sofa bequem und versinke in den Erinnerungen meines Onkels.

Die eine Packung ist schnell aufgebraucht, so reichlich fließen die Tränen, ich muss bald Nachschub besorgen. Harry hat in diesem Notizbuch mein ganzes Leben lang Tagebuch geführt, hat mir in Briefform seine damaligen Gedanken über mich mitgeteilt und das ganze im Fotoalbum parallel sichtbar werden lassen.
Seine Liebe zu mir spricht aus jeder Zeile, seine Blickweise auf mich springt mir aus jedem Foto entgegen und berührt mich tief. Ich fühle mich gleichzeitig warm umfangen von seinem Wesen und zutiefst schuldig, dass ich das alles so unwiederbringlich vernachlässigt habe. Dass ich IHN so vernachlässigt habe.

Es dämmert bereits, als ich bis zu den Tagen meines Schulabschlusses gelesen habe. Jetzt wird es spannend, denn grade an das letzte Jahr vor Harrys Umzug nach Deutschland kann ich mich nicht gut erinnern. Ich war zu sehr mit mir und all dem Neuen und Aufregenden beschäftigt damals.

Was werde ich ab jetzt finden in seinen Gedanken? Enttäuschung, Verständnis, vielleicht das Gefühl, ein Leben lang ausgenutzt und dann fallen gelassen worden zu sein? Aber nicht mehr heute. Die Tempos sind alle ...
Nur mühsam tauche ich auf aus der Vergangenheit. Ich verspüre Hunger und beschließe, mir ein bisschen Bewegung zu verschaffen, indem ich nach einem Restaurant suche. Ich schnappe mir meine Handtasche und laufe einfach drauflos. Bald schon rutsche ich in einem kleinen, familiengeführten griechischen Restaurant auf eine gemütliche Eckbank und lasse meinen Gedanken freien Lauf, während ich die mediterranen Köstlichkeiten genieße.

Der nächste Tag beginnt durch den Jetlag schon sehr früh, aber das passt mir ganz gut. So kann ich in Ruhe starten, meine Gedanken und die vielen Papiere sortieren. Die Anwälte, das Bestattungsinstitut, der Pfarrer warten, tausend Entscheidungen stehen an - mit null Kenntnis der Gepflogenheiten oder Gesetze des Landes und vielen berührenden Momenten und Gesprächen. Ein Termin für die Beerdigung wird festgelegt, ein erstaunlich großer Stapel an Traueranzeigen geht raus, ein Cafe für hinterher wird gebucht.
Onkel Harry hat viel selbst entschieden, so lange es noch ging. Mit Hilfe einer Liste kann ich Kontakt zu seinen Berliner Freunden aufnehmen. Manche bieten sich an, zu helfen, zu raten, zu trösten. Sie laden mich gemeinsam ins "Petit Royal" in Charlottenburg ein und schließen die viel zu lange Lücke zwischen damals und heute mit Erzählungen, die mir die letzten Jahre von Onkel Harry zum Greifen nah bringen.

Die Tage sind angefüllt mit Gesprächen, Amtsgängen, immer wieder neuen Entscheidungen. Und das war ja noch nie meine Stärke. Der Anwalt fragt mich plötzlich, ob ich in Zukunft öfter nach Berlin kommen oder einfach alles, was ich hier geerbt habe, verkaufen will. Ich erbitte mir Bedenkzeit. Diese Wohnung auszuräumen, dabei nichts Wichtiges zu übersehen, eine Million "wegwerfen oder behalten?" zu überstehen - das lässt sich weder organisatorisch noch emotional innerhalb einer Woche nach der Beerdigung erledigen. Dann muss ich erstmal zurück nach Seoul, vielleicht später im Laufe des Jahres nochmal wieder herkommen.
Also ist die Antwort eigentlich klar: mindestens, bis die Erberei vollständig erledigt und die Trauer irgendwie in mein Leben integriert ist, will ich diese Wohnung als Brückenkopf behalten. Ich stelle fest, dass ich nebenbei lerne, auf meine innere Stimme zu hören und Entscheidungen weder aufzuschieben noch übers Knie zu brechen.

Wenn ich Zeit zwischen all den Terminen habe, schlendere ich durch den erwachenden Frühling in Berlin. Die Stadt ist schön, lebendig, einladend mit all ihren Facetten. Ich lasse mich treiben, schaue in Hinterhöfe, strolche über den Ku'damm und erobere den Park am Schloss Charlottenburg. Nach ein paar Tagen habe ich das Gefühl, jede Ente im Teich mit Vornamen zu kennen, und meinen Lieblingsplatz habe ich auch gefunden. Eine riesige alte Eiche steht etwas ab vom Weg mitten auf einer Wiese. Ihre stabilen Äste reichen zum Teil bis zum Boden und tragen schon pralle Knospen, aus denen die ersten hellgrünen Spitzen hervorkommen. Wenn ich dort sitze und nachdenke oder lese, fühle ich mich unbeobachtet und geschützt.

Doch, ich will ganz bestimmt noch öfter hierher reisen.
Ein Kapitel im Tagebuch handelt von der Kindheit von Mama und Onkel Harry hier in Berlin. Namen, Adressen, Erinnerungen - denen ich sicher eines Tages nachspüren will. Vielleicht kann sogar mal So-Ra mit herfliegen und diese interessante Stadt erobern.

Vor der Beerdigung fürchte ich mich. Der Tag rückt immer näher, aber ich habe keinerlei Vorstellung davon, was mich erwartet. Für so eine große Aufgabe gibt es keine Generalprobe, nur Premieren.
Wer von den vielen angeschriebenen Leuten wird überhaupt kommen? Onkel Harry hat durch die Demenz mindestens zwei Jahre keine Kontakte pflegen können, Freunde von früher haben vielleicht nie etwas von einer Nichte gehört. Nach und nach trudelt in den nächsten Tagen ein bisschen Kondolenzpost ein. Manche ganz steril mit einer gekauften Einheitskarte. Andere aber erzählen mir, der unbekannten jungen Frau, was sie an Harry besonders gerne erinnern. Diese Briefe sind ein großer Schatz und lassen meinen geliebten Onkel wieder ganz lebendig werden.

Der Tag der Trauerfeier ist dann eine angenehme Überraschung. Neben ein paar Nachbarn aus dem Haus sind doch einige Freunde verschiedenen Alters gekommen, um Abschied zu nehmen. Ich erlebe echte Anteilnahme und viele freundliche Gesten.
Hinterher kommt ein harter Kern von etwa zwölf Leuten mit ins Cafe. Persönliche Gespräche entstehen, alle hören interessiert zu, als ich von meiner Kindheit in Seoul erzähle. Tatsächlich war Harry ja der erste aus der Familie, der nach Korea ging. Meine Mutter ist zu ihrem Bruder dort gezogen, hat seinen Kollegen kennen gelernt, sich in Papa verliebt und ist in Seoul hängen geblieben.
Auch die anderen erzählen nun, wie sie Onkel Harry früher oder nach seiner Rückkehr aus Seoul begegnet sind, was sie mit ihm erlebt haben. Wir bleiben schließlich sogar zu einem Abendimbiss dort sitzen, weil uns allen das Erinnern so gut tut. Entgegen meiner Befürchtung bin ich an diesem Tag nicht allein. Ich fühle mich wohl mit diesen Menschen und kann diesen würdigen, gedenkenden Abschied an mich heranlassen.

Trotz der knappen Zeitspanne meines Aufenthalts hatte ich beim Anwalt darauf bestanden, dass - bis auf die sofort relevanten Wünsche und Notwendigkeiten - die Testamentseröffnung erst am Tag nach der Beerdigung erfolgt. Ich habe keine konkrete Vorstellung, was da drin stehen wird. Aber die Anwälte machen mir diesen trockenen Moment so angenehm wie möglich, gehen feinfühlig auf mich ein und erklären sehr geduldig alle Bedingungen und Folgen des Testaments.
Heute rauscht wieder ziemlich viel an mir vorüber, weil ich so gefangen bin in meiner Scham, wegen Onkel Harrys versöhnlich liebenden Verfügungen und der Freundlichkeit all der Menschen um mich herum.

Es stellt sich heraus, dass Onkel Harry den Kontaktabbruch sogar hatte kommen sehen. Er hat das bedauert, aber verstanden und seine Konsequenzen daraus gezogen. Er hat durch Kontaktpersonen all die Jahre verfolgt, wie ich ins Erwachsenenleben gestartet bin, wie ich Hindernisse bewältigt und Erfolge gefeiert habe. Er wusste vom Verfall der Villa nach dem Blitzeinschlag und hat auch das beobachten lassen. Er hat aus der Ferne liebend über mich gewacht, wie er es all die Jahre davor an meiner Seite getan hat.

Ich erbe sein ganzes Vermögen, beide Immobilien, Renten, Geldanlagen - und erfahre erst jetzt, dass das Erbe meiner Eltern, das mir an meinem achtzehnten Geburtstag überschrieben wurde, lange nicht alles war. Mama und Papa hatten verfügt, dass mir der Löwenanteil erst bei Onkel Harrys Tod zufallen sollte, damit ich danach auf jeden Fall abgesichert sein würde.
Mal wieder bin ich berührt von so viel Weitsicht. Onkel Harry hätte mir diese Entscheidung meiner Eltern zumindest schon damals mitteilen können. Aber vielleicht hat er befürchtet, dass so viel Sicherheit auf der Hinterhand dazu geführt hätte, dass ich mir eben nicht ein selbstbestimmtes Leben aufgebaut sondern bequem abgewartet hätte. Bei all dem wird mir bewusst, wie sehr dieses schützende Dach über dem Kopf, das immer so selbstverständlich für mich da war, mir nun in Zukunft fehlen wird.

Als Finanzfachfrau bin ich bei diesen Summen durchaus in der Lage zu erfassen, was das alles bedeutet. Selbst wenn ich in Deutschland und Korea saftig Erbschaftssteuer werde zahlen müssen, stehe ich jetzt doch mit einem Mal bis zum Kragen in gebundenem, aber auch sofort verfügbarem Geld.
Onkel Harry überlässt es ganz ausdrücklich mir, ob und was davon ich verkaufen, vielleicht auch verschenken will. Ich soll nach meinem Herzen entscheiden. So viel Freiheit, so viele Möglichkeiten überfordern mich auf einmal völlig.
Keine Ahnung, was ich damit machen, wie ich in Zukunft leben will. Mein Herz hätte jedenfalls viel lieber wieder Kontakt zu einem lebendigen Onkel als einen viel zu großen Haufen Geld!

In Bezug auf die Villa mit Park in Seoul bittet er jedoch darum, dass ich Gebäude und Gelände saniere. Entweder werde ich eines Tages selbst dort wohnen wollen. Oder aber ich möge daraus eine Wohltätigkeitseinrichtung machen, die ich selbst für wichtig halte.
Bei dem Thema muss ich schlucken, denn das bedeutet, dass ich um Haus und Park nicht länger einen Bogen machen kann. Ich werde mich den Erinnerungen und dieser Herausforderung zur Sanierung intensiv stellen und viel Zeit dort verbringen müssen. Ich bitte um eine Pause bis zum Nachmittag, damit ich verarbeiten und weiterdenken kann. Der dicke, niedrige Ast "meiner" Eiche ist wieder einmal mein Zufluchtsort. Hier fühle ich mich in freier Natur und doch gut versteckt und geborgen. Hier kann ich mich selbst spüren, meinen Gefühlen freien Lauf lassen, die Informationsflut sortieren, all diese plötzlichen Veränderungen in meinem Leben in Ruhe verdauen und Entscheidungen reifen lassen. Dann fahre ich noch einmal zur Kanzlei.

Am nächsten Morgen krämpele ich die Ärmel hoch, um die letzten Tage in Berlin möglichst gut zu nutzen. Das Testament hat mir einen ganz guten Überblick verschafft. Außerdem hat der Anwalt mir einige Listen und einen umfangreichen Ordner mit Echtheitszertifikaten für Antiquitäten und Teppiche, Kaufbelege und Garantiescheine für diverse Geräte, Unterlagen zur Wohnung und vielem mehr gegeben.
Mit diesem Ordner setze ich mich an den großen alten Schreibtisch im Arbeitszimmer und mache mich an die Arbeit. Bald schon muss ich allerdings losziehen und in einer Drogerie eine lange Stange Papiertaschentücher, einige Eddings und einen großen Klotz Post Its kaufen. So viele alte Erinnerungen und wohlmeinende Vorausschau bewegen mich immer wieder zu Tränen. So viele Dinge wollen begutachtet, beschriftet und sortiert werden. Noch nie in meinem Leben hat mich etwas so durchgeschüttelt wie dieser wochenlange Abschied.

Nicht alles ist so leicht zu sortieren wie seine Kleidung. Müll, Oxfam, rotes Kreuz. Die Papiere sind inzwischen strukturiert in Ordnern abgelegt. Der Hausrat ist in ein Second Hand Kaufhaus gewandert. Für seine Bücher kommen übermorgen zwei Antiquariate.
Aber diese tausend bedeutsamen Kleinigkeiten. Vor allem Onkel Harrys Schreibtisch, Briefe, Tagebücher und ähnliche sehr persönliche Gegenstände reißen mich immer wieder von den Beinen. Alle Briefe, die ich ihm jemals geschrieben habe von klein auf, befinden sich in einer großen, schweren Ledermappe, sind mit liebevollen kleinen Kommentaren versehen und offensichtlich in Ehren gehalten worden. Ich finde sein altes Taschenmesser, dass er immer dabei hatte, wenn wir beim Wandern oder Zelten waren. Auf seinem Nachttisch liegt seine altertümliche Taschenuhr, noch zum Aufziehen, die er bei sich trug, weil er nichts am Handgelenk haben wollte.

Sehr häufig muss ich Pause machen, weil ich die Fülle an Eindrücken verarbeiten muss.
Immer wieder lande ich an seinem Schreibtisch, als sei da noch etwas, das mich anzieht. Unschlüssig öffne und schließe ich Türen, Klappen und Schubladen. Bis mir schließlich unter dem Tagebuch und dem Fotoalbum in der selben Lade noch ein hübsches Notizbuch auffällt. Neugierig hole ich es ans Licht und schlage den Buchdeckel auf. Da steht in Harrys akkurater Schrift ein Brief auf der ersten Seite.

Meine liebe Nelli!

Vor ein paar Wochen bin ich zum Neurologen gegangen, weil ich wissen wollte, woher meine immer häufiger auftretenden Wortfindungsstörungen kommen. Meine Befürchtung hat sich bewahrheitet - ich habe Alzheimer. Ich werde noch ein paar Jahre lang in den Zimmern meines Gedächtnisses nach und nach die Lichter ausknipsen, Türen werden sich schließen. Und dann wird sich mein Geist in die Dunkelheit verabschieden. Das ist ein ungewohnter, ein beängstigender Gedanke. Und ich bedauere, dass ich bald nicht mehr Dein Leben begleiten und mich an Dir freuen darf.

Einmal noch werden wir uns sehen, wenn Du nächsten Monat Dein Studium abschließt und ich zu Deiner Masterfeier nach Seoul reisen werde. Danach werde ich nicht mehr kommen, vielleicht bald gar nicht mehr reisen können. Du darfst mich gesund und zugewandt in Erinnerung behalten. Ich habe hier treue Freunde, die über mich wachen werden.

Es ist mir sehr, sehr wichtig, Dir zu sagen: Hab bitte niemals ein schlechtes Gewissen, dass Du Dich nicht genug um mich gekümmert hättest. Du bist jung, Dein Leben findet in Seoul statt, und NICHTS verpflichtet Dich, für mich da zu sein. Dass ich Dein Leben und Aufwachsen zu meiner Aufgabe gemacht habe, war meine bewusste Entscheidung aus freien Stücken, aus dem Herzen heraus.

Ist es Stolz, ist es Angst, ist es väterlicher Beschützerinstinkt, dass ich Dir bei dieser letzten Begegnung nichts von meiner Erkrankung sagen werde? Wenn Du diese Schublade hier in Berlin geöffnet und diese drei Bücher gefunden hast, bin ich nicht mehr da. Du wirst mich nicht mehr fragen können:"Weißt du noch, wann ...?" Hier kannst Du vieles nachlesen. Du wirst hoffentlich viele Jahre und Jahrzehnte in Frieden weiter leben. Du hast mir erzählt, dass Du reisen willst, eines Tages eine Familie gründen willst.

Ich bin sehr froh, dass ich von klein auf das Tagebuch über Dich geführt, dass ich direkt nach meiner Rückkehr nach Deutschland begonnen habe, das Fotoalbum über Dich zusammen zu stellen. Jetzt wäre ich nicht mehr in der Lage dazu, zu viele Lücken sind in meiner Erinnerung bereits aufgetaucht.

Dieses dritte Buch in dieser Schublade ist ein Notizbuch für Dich. Es ist noch leer. Es kann Dir dazu dienen, nun selbst aufzuschreiben, was Du nicht vergessen möchtest. Was Dich bewegt, was Dir widerfährt, wem Du begegnest, wohin Dein Leben Dich führt.

Meine guten Gedanken werden bei Dir sein, so lange mein Geist noch Deinen Namen erinnern kann. Ich werde Dich lieben bis zum letzten Atemzug und darüber hinaus. Und ich weiß, dass Du mich niemals vergessen wirst - egal, ob wir uns sehen, am anderen Ende der Welt oder im Himmel wohnen.

Fühle Dich umarmt und getröstet und gesegnet. Dein Dich von Herzen liebender "Onkel" Harry

Kurz mache ich Daumenkino und erkenne noch schemenhaft, dass das Buch tatsächlich leer ist, dann verschwimmt endgültig alles vor meinen Augen. Es tut so weh. Ich vermisse ihn so sehr - seine Stimme, seine Wärme, seine Güte und Weisheit, sein ganzes wunderbares Wesen fehlt mir unendlich. Und natürlich habe ich trotzdem ein riesiges schlechtes Gewissen! Jetzt sogar noch mehr als vorher. Wie konnte ich nur ...

Der Tag ist so gründlich gelaufen, dass ich nur noch ins Bett krieche und mich am helligten Nachmittag in den Schlaf der Trauer und Erschöpfung weine.

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15.12.2022

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