Kapitel 6

Cvetelina

>>Sag mal bist du total bescheuert? Kannst du, verdammt nochmal, nicht aufpassen wo du hinläufst?<< Ich öffnete langsam meine Augen. Schemenhaft konnte ich über mir ein, zu einer Fratze verzogenes, Gesicht erkennen. Die Welt drehte sich und ich schloss vorsichtshalber wieder meine Lider, bevor ich mich noch übergeben würde.
Mein Schädel pochte, war aber nichts gegen den stechenden Schmerz, der sich von meinem rechten Bein aus in den restlichen Körper ausbreitete. Ich versuchte meine ganze Kraft zu bündeln und mich mühevoll aufzusetzen, als ich plötzlich eine fremde Hand im Rücken spürte. Oh nein, das konnte doch nicht.. ? Langsam schlichen sich die Bilder der Verfolgungsjagd zurück in mein Bewusstsein und ließen mein Herz augenblicklich wieder anfangen zu rasen. Erschrocken drehte ich meinen Kopf und öffnete die Augen.

>>Hey ganz ruhig. Ich will dir nur helfen. Als du in meinen Wagen gerannt bist, sind die Flaschen kaputt gegangen. Und jetzt hast du ein paar fiese Scherben in deinem Bein.<< Das dunkelhaarige Mädchen wies mit einem ernsten Blick auf die schmerzende Stellte an meinem Unterschenkel. Man konnte sehen, dass sie sich mit aller Kraft bemühte freundlich zu klingen, obwohl ihre Kiefermuskeln angespannt hervortraten.
Ich ließ meinen Blick schweifen. Ich lag mitten auf dem Weg umgeben von kleinen Häusern. Dann blieb er an meiner, Hose hängen : sie war kaputt und durchweicht von Wasser und Blut. Die Flüssigkeiten bildeten ein groteskes Muster auf dem zerfledderten Stoff. Augenblicklich zog ich scharf die Luft ein, als ich mir die Wunden an meinem Bein genauer anschaute. Ich biss die Zähne zusammen und zog eine der größeren Scherben mit einem Ruck aus meinem Oberschenkel. Sofort schoss warmes Blut aus der bestimmt zwei Zentimeter tiefen Wunde und suchte sich seinen Weg durch die Fasern meiner Hose hinab zum Erdboden. Das Mädchen strich sich geschäftig eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht, als sie sich neben mir hinhockte. >>Das war wirklich dumm<<. Sie versuchte zu Lächeln doch ihr leicht genervter Unterton verriet sie. >>Naja, ich geh mal davon aus, dass du die demnächst eh nicht mehr brauchen wirst<<. Kaum hatte sie das gesagt, riss sie ziemlich unsanft an meinem Hosenbein herum, aber bevor ich auch nur zum Protestieren ansetzen konnte, hielt sie einen Fetzen meiner Designerhose in der Hand. >>Bist du bescheuert, die war von Caleau<<, jammerte ich und verzog das Gesicht, obwohl ich wusste, dass sie Recht hatte und die Hose schon durch meinen unsanften Zusammenprall zerrissen war. >>Sei leise, ich verbinde dir jetzt dein Bein, damit du nicht noch mehr Blut verlierst.<< Ihr Ton war nun schroff und duldete keine Widerrede. Sie zog den Knoten fest, sodass sich der Stoff eng auf die klaffenden Wundränder legte. >>Aua, mach das doch nicht so fest!<<
>>Das muss aber so fest sein!<<, sagte sie und fuhr nun etwas freundlicher fort, >>ich würde sagen ich nehme dich jetzt erst mal mit zu mir nach Hause. Es ist nicht mehr so weit und so wirst du es kaum ins Zentrum schaffen.<< Sie lächelte mich jetzt aufmunternd an. >>Okay, kannst du mir vielleicht aufhelfen?<< Ich streckte ihr meine Hand entgegen, die sie sofort ergriff und mich langsam, aber kraftvoll hoch zog. Nun stand ich, zwar ziemlich wackelig, aber immerhin, wieder auf meinen Füßen. Wobei 'Füße' war wohl der falsche Ausdruck dafür. Nur 'Fuß' traf es eher. Ich versuchte zwar, mich normal hinzustellen und ein paar Schritte zu gehen, aber es war unmöglich. Sofort legte sich ein leichter Nebel vor meine Augen und der Schwindel kehrte zurück. Also hieß es für den Anfang wohl 'immer langsam'. Das Mädchen mit der sonnengebräunten Haut und dem braunen Haar stand unschlüssig neben mir. Um die Atmosphäre wenigstens etwas aufzulockern und mich von meinem durchlöcherten Bein abzulenken, versuchte ich mich an etwas Smalltalk.
>>Wie heißt du eigentlich? Ich bin Cvetelina, aber du kannst ruhig Cveti sagen<<, dass ich mich mit meinem echten Namen vorgestellt hatte, merkte ich erst, als es zu spät war. >>Ich weiß - ich meine ich kenne dich. Ich weiß wer du bist. Ich bin Melli.<< Abrupt, als würde ihr das jetzt wieder einfallen, schlug sie die Augen nieder >>Was ist denn?<< Ich war verwundert über die plötzliche Veränderung in ihrem Verhalten. >>Es tut mir Leid. Ich hätte nicht im Weg stehen sollen. Das ist meine Schuld mit deinem Bein. Und das Wasser.. Da.. das war der Vorrat für die ganze nächste Woche.<< Ihre Gefasstheit wandelte sich nun in pure Verzweiflung. Erst jetzt realisierte ich, was sie meinte. Ich war es nicht gewöhnt, Wasser zugeteilt zu bekommen. Bei uns kam es einfach unbegrenzt aus dem Wasserhahn. >>Quatsch, ich bin doch in dich reingerannt. Jemand hat mich verfolgt. Und ich hatte solche Angst, da hab einfach nicht geschaut, wo ich hingelaufen bin<<, Ich lächelte ihr entschuldigend zu, aber innerlich überlief mich ein Schauer, als ich an das Ereignis zurückdachte. >>Und wegen dem Wasser mach dir mal keine Sorgen. Ich ersetz dir das natürlich<< >>Das heißt du wirst mich nicht melden?<< >>Was? Warum sollte ich? Das war doch meine Schuld<< Das schien sie erst einmal zu beruhigen, denn sie schniefte ein letztes Mal und straffte danach ihre Schultern.

Der Weg zu Mellis Haus war zwar nicht weit, aber dauerte durch mein Handicap doch länger als erwartet. Ich hatte meinen Arm um ihre Schulter gelegt, sodass sie mich stützen konnte, denn durch jedes Gramm, mit dem ich mein Bein belastete, bohrten sich die Scherben tiefer in mein Fleisch. Ich versuchte mit aller Mühe die Zähne zusammen zu beißen, aber ab und zu konnte ich ein leises Stöhnen einfach nicht unterdrücken und erntete einen besorgten Blick von Melli.

Mach einer halben Ewigkeit blieben wir vor einem kleinen Haus, oder sollte ich sagen Hütte?, stehen, wo Melli die knarzende, alte Tür öffnete. >>Melli, Melli wo warst du denn so lange?<< Ein kleiner Junge im Schlafanzug kam mit einem schmutzigen Kissen in der Hand in den Flur gestürmt. Er machte große Augen und fing mich ungläubig an zu mustern. Anscheinend war ich ihm nicht ganz geheuer. >>Melli wer ist das?<<, fragte er ängstlich, während er das Kissen noch stärker an sich drückte <<Jemand der Hilfe braucht, also hol schon mal die Pinzette und das Verbandszeug<<, sagte sie streng. Sie führte mich durch einen schmalen Flur in eine kleine Stube. Sie war vielleicht so groß wie unsere Besenkammer. Kaum vorstellbar, dass hier jemand lebte. Ich setzte mich auf den Stuhl neben der Tür und wartete zusammen mit dem mir fremden Mädchen auf die Rückkehr des kleinen Jungen. >>Das war übrigens Tony, mein kleiner Bruder. Wundere dich nicht - er hat's nicht so mit Fremden<<, meinte sie mit einem leichten Schulterzucken in meine Richtung. >>Kein Problem. Wenn die Scherben draußen sind, werde ich mich eh auf den Heimweg machen. Ich will euch ja nicht zu viele Umstände machen<< Kurz darauf steckte Tony seinen verwuschelten Kopf durch die Tür und überreichte seiner Schwester einen Erste - Hilfe - Kasten samt einer silberne Pinzette. >>Mach Ein höllischer Schmerz durchzuckte mich plötzlich und riss mich aus meinen Gedanken. >>Aua!<< Ich konnte den Schrei einfach nicht zurückhalten und erntete dafür ein genervtes Augenverdrehe. >>Sei still, so schlimm ist das nicht.<< Das Blut quoll nun wieder stärker aus meinem Bein heraus, als wäre es wieder aus seinem Dornröschenschlaf erwacht, aber das hilfsbereite Mädchen saß stolz vor mir. Mit der Pinzette hielt sie eine ziemlich große Scherbe hoch und legte sie anschließend in eine Schale auf den Tisch. >>So, das war die Größte, aber ein paar Kleinere haben wir noch. Da musst du jetzt durch.<<
Eine halbe Stunde später sank ich erschöpft auf dem unbequemen Stuhl zusammen. Ich fühlte mich so ausgelaugt und kaputt, wie nach einem mehrstündigen Lauftraining. Ich wusste nicht, dass Schmerzen so anstrengend sein konnten. Aber immerhin waren jetzt die ganzen Glasscherben und -splitter draußen, dass es sich hoffentlich nicht so leicht entzünden würde.
Der kleine Junge, Tony hieß er glaub ich, wurde von seiner Schwester streng ins Bett geschickt. Das erinnerte mich erst daran, dass ich auch mal auf die Uhr schauen sollte. Das hätte ich definitiv lieber nicht tun sollen. Es war schon vier Uhr morgens! Bald würde es hell werden und dann konnte ich jede Chance, noch ungesehen auf mein Zimmer zu kommen, vergessen. Wenn das überhaupt noch möglich war mit meinem Krüppelbein. Während Melli mir den Verband anlegte, zählte ich schon die Minuten. >>So fertig.<< Sie erhob sich und betrachtete stolz ihr Werk. >>Okay super!<< Ich stützte mich auf der Stuhllehne ab und drückte meinen Körper nach oben bis ich stand. Es brannte zwar immer noch fürchterlich, sodass ich trotz allem die Zähne zusammenbeißen musste, aber es war nicht ganz so schlimm wie vorher. >>Ich danke dir! Wirklich! Aber ich sollte jetzt losmachen. Ich werd ja eine Weile brauchen.<< Ich wies auf das verbundene Bein. Ich sah, wie ihre braunen Augen einen skeptischen Ausdruck annahmen, aber um jegliche Einwände schon im vorneherein zu zerstreuen, stand ich auf und ging ein paar Schritte. Meine Lippen lächelten, so als würde mir das alles nichts ausmachen, aber innerlich schrie ich bei jedem Schritt. Anscheinend konnte ich sie aber mit meiner schauspielerischen Darbietung überzeugen und so brachte sie mich zur Tür. >>Ich werde versuchen morgen oder spätestens übermorgen entweder selbst vorbeizukommen oder für Ersatz sorgen<< Ich deutete mit meinem Kinn auf den bunten Handwagen mit den kaputten Flaschen >>Und ich werde natürlich auch versuchen die ganzen Unannehmlichkeiten irgendwie zu entschädigen.<< Ich zwinkerte ihr entschuldigend zu. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln >>Dann bis irgendwann mal.<< Ich drehte mich um und humpelte die Straße entlang. Hinter mir viel die knarzende Tür mit einem deutlichen Klacken ins Schloss.
Der Weg war beschwerlich, da ich in dem schwachen Schein der Lampen kaum etwas erkennen konnte und nur langsam voran kam. Melli hatte mir vorhin kurz erklärt, wie ich laufen musste, damit ich auch unbeschadet nach Hause finden würde. Ich lauschte auf jedes Geräusch in der Dunkelheit, immer auf der Lauer, ob sich nicht wieder von irgendwoher Schritte näherten. Ich ließ mir die Geschehnisse von vorhin noch einmal durch den Kopf gehen. Woher wusste er wer ich war? Er hatte mich schließlich nur von hinten gesehen. Oder hatte er mich schon vorher verfolgt? Vielleicht war er auch auf dem Fest oder er hat mitbekommen wie ich von zu Hause weggeschlichen bin und hat dann eins und eins zusammengezählt? Ich würde es wohl nie erfahren.

Nach einer guten Stunde Fußmarsch stand ich vor unserem Haus. Es war schon hell geworden und in den Dienstetagen war bestimmt schon einiges los. Da kam mir eine Idee. Ich schlich mich um das Haus herum und versteckte mich hinter einem Auto. Ich lehnte mich mit meinem Rücken an das noch kalte Blech und wartete. Kurz darauf hörte ich ein klacken und sah, wie eines der Küchenmädchen hinausgeeilt kam. Sie würde bestimmt noch ein paar Zutaten für den Koch besorgen, die wir nicht selbst herstellen konnten. Nachdem sie um die Ecke verschwunden war, hechtete ich, so gut es mit meinem Bein ging, zur Tür und warf mich, kurz bevor sie wieder ins Schloss viel, entschlossen dagegen. Ich hatte Glück und hatte es noch rechtzeitig geschafft. Drinnen gab es keine Fenster, nur künstliche Beleuchtung durch eine Neonröhre, die summend flackerte. Ich humpelte , stets auf jedes Geräusch bedacht, den Gang entlang und kam zum Objekt meiner Begierde. Dem Bediensteten - Fahrstuhl. Ich fuhr in die zwölfte Etage und kam auf dem großen Gang heraus, der auf mein Zimmer führte. Hier war noch alles dunkel. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr: 5:25. Der Weckdienst würde erst 6:30 kommen, also hatte ich noch genug Zeit, um ungesehen auf mein Zimmer zu flüchten.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top