Kapitel 4

Melinda

Das Licht der untergehenden Sonne, das durch die Lücken zwischen den kleinen Backsteinhäusern hindurchschien, blendete mich, sodass ich unwillkürlich den Blick zum Boden wenden musste. Ich war gerade auf dem Weg zur Wasserausgabe.
Jeder Bürger hatte das Recht auf 3 Liter Wasser pro Tag. Jeder Liter mehr, musste teuer hinzugekauft werden. Und wenn man bedachte, dass man neben dem Trinken im Idealfall auch noch sich selbst, das Geschirr und die Kleidung waschen musste, merkte Jeder, dass das nie und nimmer ausreichen könnte. Alle waren dazu gezwungen Wasser dazu zu kaufen, aber ein Großteil konnten es sich einfach nicht leisten. Besonders bei uns am Stadtrand, im Armenviertel oder den Slums, wie die Zentralbürger es nannten. Man konnte es nicht nur sehen, sondern vor allem riechen, denn die Körperpflege war das Erste, an dem gespart wurde. Deshalb waren wir, egal wo, meist nicht gern gesehen. Im Idealfall wurden wir nur ausgeblendet, aber meistens wurden wir behandelt wie Abschaum oder Ungeziefer, das man nicht haben wollte. Ich meine, wessen Schuld war es denn, dass wir leben mussten wie die Ratten? Die meisten von uns schufteten von früh bis spät und trotzdem kam nichts Nennenswertes dabei raus. Wir kämpften jeden Tag ums blanke Überleben! Und die Zentralbürger? Tja, die saßen in ihren schicken, klimatisierten Büros und trugen für alles die Verantwortung. Dafür konnten sie dann leben wie Krösus höchstpersönlich. Es war so ungerecht! Ich presste meine Kiefer aufeinander, um meine Wut nicht laut heruszuschreien. Stattdessen versuchte ich diese Gedanken mit einem vehementen Kopfschütteln zu vertreiben. Solche Gedanken an sich waren schon Hochverrat - und wenn das jemand mitkriegen würde, könnte das tödlich enden. Es wäre nicht das erste Mal, dass wegen diesen sogenannten "Disziplinarmaßnahmen" Menschen gestorben sind. Ihnen wurde einfach die Wassermenge reduziert oder bei schwereren Vergehen sogar komplett die WaterCard für einen bestimmten Zeitraum entzogen. Das war praktisch für die da oben, da sich das Problem nach einer gewissen Zeit von selbst löste und der Staat musste sich nicht einmal mehr die Hände schmutzig machen. Was nicht heißt, dass die Polizisten nicht wüssten, wie sie ihre Waffen einsetzen können. Das wissen sie nur zu gut, denn manche von ihnen haben Spaß daran uns zu quälen. Ein Schauer durchlief mich, als sich die Erinnerungen vor meinem Inneren Auge abspielten. Vielleicht hätte ich schon längst etwas unternommen, wenn die Umstände anders gewesen wären, aber so konnte ich einfach nicht. Was würde meine Familie ohne mich tun? Dieses Risiko konnte ich einfach nicht eingehen- dafür waren sie mir zu wichtig. Sie waren mein Leben!

Der Weg zur Wasserausgabe führte mich heraus aus unserem Stadtteil. Die Häuser wurden schöner, hatten keinen abbröckelnden Putz oder Risse in den Wänden mehr. Hier waren die Wegränder sogar teilweise mit bunten Plastikblumen gesäumt, was einen starken Kontrast zu der Tristes der äußeren Bezirke darstellte. Es sah aus wie eine andere Welt und war doch nicht weit von unserer entfernt.
Ich bog an der letzten Kreuzung ab und sah schon von weiten die lange Schlange, die sich entlang der Häuserfassaden erstreckte. Alle warteten sie auf ihre Ration und drängten sich in den Schatten. Ein Gefühl von Anspannung und Erregung lag wie Elektrizität in der Luft. Ich schob das ungute Gefühl seine Vorahnung beiseite und reihte mich in der Schlange ein.
Die Schlange war lang, mindestens 50 Leute standen vor mir und warteten wie ich darauf, dass sie endlich an der Reihe waren. Na super, das konnte mal wieder lange dauern. Resigniert ließ ich die Schultern sinken. Die Hoffnung früh wieder Zuhause zu sein, konnte ich wohl begraben. Genervt schnaubte ich und überlegte kurz das Wasserholen vielleicht auf einen anderen Tag zu verschieben. Aber da wir keine Vorräte mehr hatten, musste ich mich wohl oder übel hier anstellen.

Ich zog meine blaue WaterCard aus der Tasche. Auf ihr war genau vermerkt, wer ich war, wo ich herkam und wer mit mir zusammenlebte.
>>Macht mal etwas hinne ihr neureichen Schnösel da vorne!<< Ein bärtiger, ungepflegter Mann trat aus der Menge. Ich glaubte ihn schon mal irgendwo bei uns im Viertel gesehen zu haben, war mit aber nicht sicher. >>Überleg dir was du sagst, alter Mann<< Die Stimme des Zuteilers, einem Beamten der Wasserpolizei, den man definitiv nicht verärgern sollte, hatte einen drohenden Unterton angenommen, als er sich dem Störenfried zuwandte. Er hatte sich bis jetzt mit seinen Kollegen unterhalten, was anscheinend der Grund dafür war, dass es nicht weiter ging. >>Wir haben Besseres zu tun, als den halben Tag zu warten, bis ihr euer dämliches Gequatsche beendet habt. Unsereins muss auch noch arbeiten!<< Es folgte ein zustimmendes Gemurmel aus der Menge. >>Genau!<<. An der Art, wie der Zuteiler die silbernen Ärmel seiner Uniform hochkrempelte und zwei seiner drei Gorilla - Kollegen mit einer knappen Geste zum Mitkommen bewegte, erahnte ich bereits, dass das für den älteren Mann nicht gut ausgehen würde. Die Wasserpolizei tadelte man nicht ungestraft. Das wusste ich schon zu genüge aus eigenen Erfahrungen. >>So mein Freund," die beiden grinsenden Gorillas zogen den Mann an beiden Armen aus der Menge, >>Ich hätte an deiner Stelle lieber mein verflixtes Maul gehalten<< Ich konnte das Gesicht des Polizisten nicht sehen, da er so stand, dass es von seinem HeIm verdeckt war, aber ich hörte eine diabolische Freude aus seiner Stimme heraus. Der Mann versuchte sich gegen seine Peiniger zu wehren, kam aber gegen die Kolosse nicht an, sondern stolperte nach einem plötzlichen Ruck über seine eigenen Füße, sodass sie ihn nun rücklings hinter sich her schliffen. Aber trotz seiner offensichtlichen Unterlegenheit blieb der entschlossene Ausdruck auf seinem wettergegerbten Gesicht bestehen. Dafür bewunderte ich ihn zutiefst. Ich glaube ich hätte niemals den Mut oder die Kraft dazu gehabt. Er setzte gerade alles aufs Spiel. >>Du solltest dir das nächste Mal besser überlegen was du sagst, Opa.<< Die Menge, inklusive mir, hielt den Atem an. Jetzt kam es drauf an. Das war seine letzte Möglichkeit zurückzurudern. Anderenfalls wäre es nicht das erste Mal, dass die Leute der Wasserpolizei gewalttätig wurden. Aber das schlimmste war nicht die Gewalt, sondern, dass ein jedes Leben in ihrer Hand lag. Wenn sie dir den Zugang zum Wasser verwehrten, warst du so gut wie tot. Deshalb schwiegen wir und sahen alles tatenlos mit an: Wie der Mann dem Polizisten mit entschlossenem Gesicht vor die Füße spuckte und dieser seinen Kollegen mit der behandschuhten Hand ein Zeichen gab. Daraufhin zogen sie, anscheinend voller innerer Vorfreude, die Schlagstöcke aus den Halterungen ihrer Gürtel und schlugen auf ihn ein. Immer und immer wieder, während sich der Mann nun abwechselnd schreiend und stöhnend auf dem Boden krümmte, aber nicht ein Mal um Vergebung bat. Ich musste mich abwenden. Ich konnte diese Ungerechtigkeit einfach nicht mehr ertragen. Es war so schrecklich. Wir waren ihnen alle ausgeliefert. Ich ballte die Fäuste so stark, dass sich meine Fingernägel schmerzhaft in meine Handflächen bohren. Das war gut. Der Schmerz war gut. So hatte ich wenigstens etwas, auf das ich mich konzentrieren konnte. Ich durfte die Wut nicht die Oberhand gewinnen lassen - Mum und Tony brauchten mich. Und so warteten wir, bis die Austeilung langsam weiterging und keiner verlor auch nur noch ein Wort über den Vorfall. Es war eine Schande, und doch so gut nachzuvollziehen. Ich bat nur inständig darum, dass der Arme es überleben würde. Und damit meinte ich nicht nur seine Verletzungen.

Nach einer Stunde war ich endlich an der Reihe. >>Na wen haben wir denn da?<< Ohne aufblicken zu müssen erkannte ich die raue Stimme sofort. Sie gehörte dem Beamten, der für den Vorfall vorhin verantwortlich war. >>Melinda Scott, Sir. Ich hole das zugeteilte Wasser für mich und meine Familie und möchte zusätzlich noch zehn Liter kaufen.<< Ich versuchte meine Stimme fest und selbstbewusst klingen zu lassen. >>WaterCard<< , gab er in einem knappen, gelangweilten Ton zurück. Er riss mir die blaue Karte förmlich aus der Hand, um sie unter das Lasergerät zu halten. Ein leises Piepen ertönte und die grüne Lampe des kleinen Geräts fing an zu blinken. >>Zehn Liter extra kosten 200 Kori.<< Ich kramte in meiner Tasche und gab ihm schließlich das Geld. Nun hatte sich der Normalzustand wieder eingependelt - mein Portemonnaie war wieder einmal so gut wie leer. Ich seufzte. Das würde höchstens noch für eine Packung Basic Pulver zum Abendessen ausreichen. Ich wartete bis die genannte Wassermenge in großen Flaschen abgefüllt wurde. Es wurde an den Abfüllstellen direkt aus den unterirdischen Reservoirs gepumpt und schließlich zugeteilt. Diese Orte waren mit Haus des Präsidenten die wahrscheinlich bestbewachtesten Orte der Stadt. Die Wasserpolizei war nämlich nicht nur ein Teil der normalen Polizei, sondern eine Spezialeinheit mit militärischer Ausbildung. Sie kannten bestimmt Tausend Arten wie man einem Menschen Schmerzen zufügen konnte oder noch weitaus Schlimmeres.

Ich lud die Flaschen, die unsere Zwei- Wochen -Ration darstellten, in meinen mitgebrachten Handwagen und machte mich langsam auf den Weg nach Hause. Ich war wirklich erleichtert, dass ich die schweren Flaschen nicht den ganzen Weg nach Hause tragen musste, denn dann hätte ich wirklich Angst gehabt etwas fallen zu lassen, so geschafft wie ich mich fühlte. Diesen alten Handwagen hatte ich bei uns auf dem Dachboden gefunden und Mum meinte damals zu mir, dass der noch ihrer Großmutter gehört habe. Mir hatte damals schon das Muster mit seinen grünen Ranken auf rosanem Grund gefallen, weil es so schön bunt war. Auch jetzt, während ich ihn hinter mir herzog, war ich noch stolz auf ihn. Und wenn die Leute wüssten, dass er an den Seiten sogar echte Baumwolleinsätze hatte! Sie würden nicht glauben, dass wir so etwas wertvolles besaßen.

Mittlerweile war es schon sehr spät und kalt geworden. Ich fröstelte, während eine kühle Brise über meine nackten Oberarme strich. Ich hätte mir vorhin doch meine Jacke mitnehmen sollen. Aber ich hätte ja nicht wissen können, dass es heute solche Komplikationen geben würde.

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